Mein Freund

 

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Mein Freund wäre ein unbedingter Freund der Natur. Bei allem, was er täte, würde er versuchen, der Natur möglichst nahe zu sein, da sie ihm Heimat und Ungebundenheit zugleich bedeuten würde: Heimat, weil er in ihrem Schoß stets zu sich selbst zurückfände, und Ungebundenheit, weil hier ganz von selbst der Panzer der Zivilisation von ihm abfiele.

Wo immer der lebendige Atem der Erde unter Grabplatten aus Stahl und Beton erstickt würde, litte auch er unter Beklemmungsgefühlen. Und wenn er das Kriegsgeheul der Motorsägen vernähme, die das knorrige Erzählwerk eines alten Baumes zerfleddern, wäre es ihm, als fräßen sich die kreischenden Zacken durch seinen eigenen Leib.

Nie könnte mein Freund verstehen, wie jemand aus dem Kinderblick eines erschreckten Rehs Mordlust saugen kann. Er wäre zutiefst überzeugt, dass ein solcher Mensch nicht nur für ihn selbst ein natürlicher Feind ist, sondern sich durch sein Verhalten ganz allgemein als Feind des Lebendigen und damit auch aller anderen Menschen demaskiert.

Überhaupt wäre mein Freund ein großer Bewunderer all jener Lebewesen, die ihr Sein nur dadurch fortzeugen, dass sie das schmerzunempfindliche Haar auf dem Bauch der Erde vertilgen. Stundenlang könnte er sich in die buddhagleiche Sanftmut der Rinderherden oder in die selbstgenügsame Ekstase herumtollender Pferde versenken.

Ein Gespräch wäre für meinen Freund niemals ein Mittel, um anderen die eigene Überlegenheit zu beweisen, sie mit spitzfindiger Logik bloßzustellen und so die eigene Position gegen sie zu behaupten. Vielmehr würde er das Miteinander-Reden stets auch als gemeinsames Denken, als ein Symposion des Geistes begreifen, bei dem dieser wie ein immaterieller Teppich wäre, an dem alle gemeinsam webten. Er würde verstehen wollen, anstatt zu erklären, nachfragen, anstatt zu belehren, Annäherung suchen statt Entzweiung. Am Ende des Gesprächs erhöbe sich dann eine neue Insel aus dem Meer des Geistes, auf der alle gemeinsam leben könnten.

Die Revolution wäre für meinen Freund ein langsamer, aber stetiger Prozess. All sein Tun und Denken wäre getragen von der Überzeugung, dass eine Veränderung der Welt nur im Wechselspiel mit einem entsprechenden Wandel von deren Abbild in den Köpfen der Menschen gelingen kann.

Ironie würde mein Freund mögen, hintergründigen Humor und vielleicht auch derbe Späße unter guten Kumpeln. Schadenfreude und Zynismus wären ihm dagegen zuwider. In ihnen sähe er ein Mittel zur Herabwürdigung anderer und zu einer überheblichen Verweigerungshaltung gegenüber ihren Problemen.

Mein Freund wäre nicht unbedingt besitzlos, doch wäre Besitz für ihn stets nur ein Mittel zum Zweck und nie Selbstzweck. Stets hätte er Angst vor dem Trennenden, dass ein Zuviel an Besitz automatisch mit sich bringt. Außerdem würde er sich davor fürchten, vor lauter Sorge um seinen Besitz den Garten des Geistes zu vernachlässigen, dessen Pflege ihm stets das Wichtigste wäre.

Ja, so wäre er, mein Freund. Vielleicht käme er euch am Anfang ein wenig verschlossen vor, etwas einsilbig und womöglich auch zu grüblerisch. Aber ich bin mir sicher: Je mehr ihr ihn kennenlernen würdet, desto mehr würdet ihr ihn mögen. Es würde euch mit ihm ergehen wie mit einem alten Wein, den man erst dann richtig schätzen lernt, wenn er atmend eine Symbiose mit seiner Umgebung eingegangen ist.

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