„Unser“ Erdoğan ist auch „Euer“ Erdoğan

Ein Brief von Rodi Kızıl zum Türkei-Referendum

Türkische Gastarbeiter

Liebe Landsleute!

Das heißt … Darf ich Euch überhaupt noch als „Landsleute“ ansprechen? Jetzt, nachdem wir „Deutsch-Türken“ zu 63 Prozent für die Diktatur gestimmt haben?

Wenn Ihr’s genau wissen wollt: Ich selbst habe nicht dafür gestimmt. Aber spielt das für Euch überhaupt eine Rolle? Sind wir jetzt, nachdem wir in Euren Augen „versagt“ und uns nicht als wahre „Verfassungspatrioten“ gezeigt haben, für Euch nicht wieder alle bloß „die Türken“?

Genau genommen ändert sich dadurch für uns ja auch gar nichts. Ihr habt uns ja seit unserer Ankunft in Deutschland immer nur als „Türken“ wahrgenommen. Erst als Erdoğan uns als nützliches Stimmvieh entdeckt und begonnen hat, uns als „türkische Brüder und Schwestern in Deutschland“ zu vereinnahmen, habt auch Ihr plötzlich das „Deutsche“ an den „Deutsch-Türken“ entdeckt. Da sollten wir uns auf einmal ganz auf den Boden der deutschen Verfassung stellen und uns als wehrhafte Demokraten dem Autokraten Erdoğan in den Weg stellen.

Aber, mit Verlaub gesagt: „Unsere“ Demokratie war das eigentlich nie. Wenn man meinen Vater gefragt hat, was charakteristisch sei für die Deutschen, sagte er wie auf Knopfdruck: „fleißig“ und „ordentlich“. Aber „demokratisch“? Die Demokratie war für meinen Vater immer die Demokratie der anderen. Wenn er versuchte, sich an die deutsche Kultur anzupassen, bemühte er sich eben, „fleißig“ und „ordentlich“ zu sein. Wer aber in Deutschland regierte, wer über sein Geschick bestimmte, das lag nicht in seiner Hand – denn an den Wahlen durfte er ja nicht teilnehmen.

Natürlich könnte man jetzt sagen: Er hätte sich ja auch selbst mehr anstrengen können, dazuzugehören, sich in die deutsche Kultur hineinzuleben, ein Teil davon zu werden. Aber dazu hätten eben auch die anderen, die stolzen Träger dieser Kultur, ihm etwas mehr entgegenkommen müssen. In all den Jahren ist mein Vater nie von seinen deutschen Arbeitskollegen eingeladen worden. Einmal haben sie ihn zum Karneval mitgenommen. Ich weiß noch, wie er danach zu meiner Mutter gesagt hat: „Stell dir vor, die Deutschen salutieren, wenn sie lustig sein wollen!“

Nein, da trafen wirklich keine Seelenverwandten aufeinander! Es hätte ganz anderer Bemühungen bedurft, um sich aufeinander zuzubewegen, einander besser zu verstehen. So aber blieb mein Vater unter seinesgleichen. Auch ich, der ich in Deutschland aufgewachsen bin, bin so in eine türkische Welt hineingewachsen.

Erschwerend kam für mich hinzu, dass ich zwei ältere Geschwister habe. Das hat zum einen dazu geführt, dass ich nicht außer Haus gehen musste, um Spielkameraden zu finden. Zum anderen hat es in der Schule aber auch sofort geheißen: „Aha – noch einer aus dem Hause Kızıl!“ – was meinen Eltern die Empfehlung einbrachte, mich doch am besten gleich auf der Sonderschule anzumelden, weil ich, der vermeintliche Lernschwächling, dort angeblich viel besser gefördert würde.

Ja, ich habe Eure Dummenschule trotz allem gut überstanden, ich habe danach sogar noch einen Hauptschulabschluss gemacht und eine Lehrstelle gefunden. Aber ich hatte immer das Gefühl, mir das alles erkämpfen zu müssen wie etwas, das mir, dem „Türken“, eigentlich nicht zusteht.

Eine Zeitlang habe ich dann von Europa geträumt. Ich dachte, dass in einem geeinten Europa auch ich als „Türke“, der längst kein richtiger Türke mehr war, endlich einen Platz hätte, dass ich ganz selbstverständlich zur großen Völkerfamilie dazugehören würde und dieselben Rechte hätte wie alle anderen.

Aber dann waren „die Türken“ ja auch in der EU wieder für alles nicht gut genug. Nicht demokratisch genug, nicht transparent genug, nicht wirtschaftsfreundlich genug, nicht europäisch genug. Auch hier hat man uns über Jahrzehnte hinweg immer wieder mit „ungenügend“ bewertet. So waren wir in der europäischen Völkerfamilie die Parias, in Deutschland Menschen zweiter Klasse, und in der Türkei die „almancılar“, die auch nicht richtig dazugehörten. In unserer anatolischen Heimat schwang dabei immer auch ein wenig Neid, vielleicht sogar Bewunderung mit – schließlich profitierten dort ja auch andere von dem relativen Reichtum, den wir in unsere alte Heimat trugen. In Istanbul aber sprach aus dem Begriff eher die Verachtung für jene Mitbürger, die man schlicht für zu dumm hielt, um es in der Türkei zu etwas bringen – die sich also gewissermaßen ans Ausland verkaufen mussten, um zu bescheidenem Wohlstand zu gelangen.

Ich muss gestehen, dass ich in dieser Situation auch zeitweilig mit Erdoğan sympathisiert habe. Das war endlich mal jemand, der uns wertschätzte, einer von uns, keiner aus der kemalistischen Elite, die uns immer ein wenig von oben herab behandelt hatte. Hinzu kam, dass auch unser Kulturverein eine positive Einstellung zu unserem neuen Führer förderte. Es gab dort sogar einige, die meinten, Erdoğan wäre genau der Richtige, um die deutschen Tugenden auch in der Türkei zur Geltung zu bringen, indem er dort endlich mal für „Ordnung“ und „Disziplin“ sorgen würde. (Und jetzt tut bitte nicht so, als würde bei Euch jeder das „Deutschsein“ mit „Demokratie“ und „Menschenrechten“ identifizieren!) Auch für unsere Türkischlehrer und unsere Imame stand außer Frage, dass Erdoğan für die Türkei eine Art Heilsbringer ist.

Wenn Ihr jetzt missbilligend den Kopf schüttelt, kann ich nur sagen: Selber schuld! Ihr habt doch jahrelang ganz bewusst eine Vogel-Strauß-Politik betrieben, nach dem Motto: „Türkische Kultur? Islam? Das gibt es bei uns nicht, das wollen wir bei uns nicht haben!“ Also habt Ihr es anderen überlassen, zu definieren, was „türkische Kultur“ bedeutet und wie der Koran auszulegen ist. Erdoğan und seine Autokratie sind deshalb zum Teil auch ein Produkt Eures Umgangs mit uns. Hättet Ihr uns frühzeitig eine echte Heimat in Eurer Demokratie gegeben, hättet Ihr diese für uns geöffnet, so hätte der Totengräber der türkischen Demokratie jetzt nicht so reiche Ernte unter uns gehalten – und dann hätte er jetzt vielleicht auch keine Mehrheit für die Einführung seiner Ein-Mann-Herrschaft erhalten.

Was geschehen ist, ist geschehen und nicht wiedergutzumachen. Die, die Ihr über Jahre hinweg vor den Kopf gestoßen habt, werdet Ihr weder mit dem Zuckerbrot verbesserter Integrationsmaßnahmen noch mit der Peitsche besserwisserischer Belehrungen für Euch gewinnen können. Wenn Ihr heute das Ruder herumreißen wollt, so ist das ein Generationenprojekt. Umso wichtiger ist es aber, dass Ihr jetzt nicht wieder so halbherzig agiert wie bisher, sondern mit jener Entschlossenheit, die Ihr sonst so gerne an Euch rühmt.

Letztlich hat Erdoğan Euch ja sogar den Weg gewiesen, den Ihr einschlagen müsst. So, wie er uns Deutsch-Türken als türkische Exklave in Deutschland vereinnahmt hat, könnt Ihr die deutsch-türkische Gemeinde darin bestärken, ein Vorbild für eine andere, demokratischere Türkei zu werden, und auch für einen aufgeklärten, antifundamentalistischen Islam. Dafür müsst Ihr allerdings endlich nicht nur mit Worten anerkennen, dass beides – die türkische Kultur und der Islam – mittlerweile ein Teil von Deutschland ist. Vielmehr müsst Ihr auch dementsprechend handeln, also Lehrer für türkische Sprache und Kultur sowie für Islamkunde ausbilden und diesen Aspekten auch einen festen Platz im Unterricht an Euren Schulen einräumen.

Dies bedeutet allerdings zugleich, dass Ihr in den Beziehungen zur Türkei konsequent den Dialog mit der Opposition suchen und diese in ihrem Kampf gegen das Sultanat Erdoğans stärken müsst. Wenn Ihr weiterhin mit einem Tyrannen kungelt, der seine Gegner nicht nur wegsperren, sondern sie durch die Einführung der Todesstrafe demnächst auch noch physisch vernichten will, müsst Ihr Euch nicht wundern, dass in Deutschland die Demokraten nicht an den Bäumen wachsen.

Mit demokratischen Grüßen

Euer Rodi Kızıl

Bild: © picture-alliance, Beynelmilel. Mit dem Zug ins Ruhrgebiet: Der Tabakzüchter Mehmet Ali aus Bademli, einem kleinen Ort bei Izmir, fährt im Februar 1966 als letzter Mann seines Dorfes nach Deutschland, um dort zu arbeiten. Entnommen von: http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184981/gastarbeit

2 Kommentare

  1. Der Beitrag „Unser Erdoğan ist auch Euer Erdoğan“ ist gut geschrieben, ich stimme ihm inhaltlich zu.
    Bleibt eine kleine Anmerkung zum Bildtext. Bademli ist nicht ein kleiner Ort bei Izmir, es liegt nahe Çanakkale, weiter im Norden, an den Dardanellen. Gemeint war wohl Bademler. Dieses Dorf – es hat übrigens ein eigenes Theater, hier finden sogar kleine Theaterfestivals statt – liegt nahe Izmir.
    Beste Grüße aus der Türkei
    weinsztein

    Gefällt 1 Person

Schreibe einen Kommentar