Die Epiphanie in der Gießkanne

Oder: Pfingsten und Poesie

Pfingstgruß von Bruder Norabus

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Pfingsten gilt gemeinhin als freudiges Fest. Profanere Zeitgenossen freuen sich auf geistige Genüsse im Biergarten, religiösere Naturen feiern die geistige Vollendung des Erlösungswerkes Christi. Denn an Pfingsten – einer Art Erntedankfest im alten Israel – geschah mit den Aposteln das, was laut dem Propheten Joel „am Ende der Zeit“ mit allen Menschen geschehen sollte:

„Am Ende der Zeit, spricht Gott, will ich Geist von meinem Geist ausgießen über alle Menschen. Da werden eure Söhne und Töchter reden wie Propheten. Junge Männer werden Gesichte sehen, und (…) alle, die mein sind, (…) werden reden, was ich ihnen eingebe.“ (Apostelgeschichte, 2. Kapitel)

Diese geistige Befreiung manifestiert sich zunächst allerdings in apokalyptisch anmutenden „gewaltige[n] Zeichen“: „Das Sonnenlicht wird sich verkehren in Finsternis, der helle Schein des Mondes in blutiges Rot“ (ebd.). So kündigt sich auch die Erleuchtung der Apostel durch den Heiligen Geist über eine Art inneres Beben an, dessen Folge zunächst einmal eine allgemeine Verwirrung ist:

„Plötzlich kam ein Brausen über sie, als ob ein gewaltiger Sturm sie überfiele. Das ganze Haus, in dem sie saßen, war voll davon. Sie sahen Feuer, wie in einzelne Flammen zerrissen, das über sie herfuhr. Gottes heiliger Geist erfasste sie alle und brannte in ihnen. Da fingen sie an, fremdartige Worte zu stammeln, wie sie ihnen der Geist eingab.“ (ebd.)

Erst nach und nach begreifen die Apostel und die, zu denen sie reden, dass Gott selbst aus ihnen spricht, dass sie die Fähigkeit erlangt haben, die Wahrheit der Schöpfung unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Die Sprache, die sie sprechen, ist als göttliche Sprache allen Menschen gemein. Sie ist eine Sprache des Geistes, die sie alle – unabhängig von den jeweils unterschiedlichen Ausdrucksformen, mit denen sie sich im Alltag miteinander verständigen – auf einer inneren Ebene miteinander verbindet.

Die Erleuchtungserfahrung an Pfingsten enthält damit drei zentrale Komponenten:

  1. das unmittelbare Erleben der Wahrheit des Seins;
  2. die Fähigkeit, in einer Sprache zu sprechen, die diese Wahrheit auszudrücken erlaubt;
  3. die Erkenntnis, dass es sich bei dieser Wahrheit um etwas handelt, an dem alle Menschen gleichermaßen teilhaben.

Daneben lässt sich das Pfingsterlebnis allerdings auch durch die Art des dabei zutage tretenden Erkenntnisprozesses charakterisieren. Kennzeichnend für diesen ist, dass er sich unwillkürlich vollzieht, also unabhängig von der bewussten Reflexion der Beteiligten. Derartige Erfahrungen kennen wir alle als so genanntes „Aha-Erlebnis“. Oft löst sich ein „Knoten“ in unseren Gedanken eben nicht durch eine bewusste Denkanstrengung auf, sondern gerade dadurch, dass wir die Gedanken in unserem Unbewussten „reifen“ lassen. So überfällt einen die Lösung eines Problems, das man lange mit sich herumgetragen hat, oftmals geradezu „im Schlaf“ bzw. steht einem morgens, beim Aufwachen, plötzlich klar vor Augen.

Derartige Erlebnisse zeigen, dass viele Probleme sich nur dann einer Lösung zuführen lassen, wenn man die eingefahrenen Gleise des Alltags verlässt und neue Denkansätze ausprobiert. Dies wird aber oft dadurch verhindert, dass unser bewusstes Wollen uns immer wieder zu den tradierten Deutungsmustern hinführt und uns fest in die Strukturen unserer Alltagswelt einspinnt. Ein über diese Strukturen hinausweisendes Erkennen ist insofern nur als „willenlose[s] Erkennen“ im Sinne Schopenhauers möglich:

„Denn in dem Augenblicke, wo wir, vom Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben, sind wir gleichsam in eine andere Welt getreten, wo Alles, was unseren Willen bewegt und dadurch uns so heftig er­schüttert, nicht mehr ist. Jenes Freiwerden der Erkenntniß hebt uns aus dem Al­len eben so sehr und ganz heraus, wie der Schlaf und der Traum: Glück und Unglück sind verschwunden: wir sind nicht mehr das Individuum, es ist verges­sen, sondern nur noch reines Subjekt der Erkenntniß: wir sind nur noch da als das EINE Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen al­lein aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann“ (1819/1988: 267).

Einen solchen Übertritt in die Welt des willenlosen Erkennens beschreibt auch Hugo von Hofmannsthal in seinem Brief des Lord Chandos (1902). Interessanterweise ist das Erweckungserlebnis, das der neuen Art der Weltwahrnehmung vorausgeht, dabei anfangs mit einer ähnlichen Desorientierung verbunden wie im Falle der vom Heiligen Geist heimgesuchten Apostel. Wie diese auf einmal nur noch „fremdartige Worte (…) stammeln“ können, verliert der Briefschreiber bei Hofmannsthal „die Fähigkeit, (…) über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“:

„Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wiederum in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhalt­sam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“ (Hofmannsthal 1902/1991:48 f.).

Je mehr er sich jedoch an die neue Art der Wirklichkeitswahrnehmung gewöhnt, desto mehr erlebt der Schreiber diese als befreiend. Denn eben dadurch, dass er die Dinge nicht mehr durch den Filter der mit den herkömmlichen Begriffen verbundenen Deutungen wahrnimmt, kann auf einmal noch der unscheinbarste Gegenstand ein „Gefäß“ werden für seine Offenbarungserfahrungen (ebd.: 50). Dies könne etwa eine Gießkanne sein, in der das Wasser „vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert“. Die an einzelnen Erscheinungen sich vollziehenden Epiphanie-Erlebnisse strahlen dabei auf die gesamte Wirklichkeit aus:

Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verwor­rensten Gedanken berühren, etwas zu sein“ (ebd.: 51 f.).

Charakterisiert wird dieser Zustand als „eine Art fieberisches Denken, (…) in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger ist als Worte“. Die daraus entstehenden „Wirbel“ führten ihn, so der Schreiber, „nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose (…), sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens“:

„Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken“ (ebd.: 52/54).

Eine ähnliche Erfahrung wie Hugo von Hofmannsthal beschreibt Rainer Maria Rilke in zwei kurzen, 1913 entstandenen Prosastücken (Erlebnis I und II). In Erleb­nis I fühlt sich der Protagonist, als er sich während eines Spaziergangs an einen Baum anlehnt, auf einmal so vollständig „eingelassen in die Natur“, dass er „in einem beinah unbe­wußten Anschaun“ innehält (Rilke 1918/1996: 666). Während aus dem Baum „fast unmerkliche Schwingungen“ in ihn überzugehen scheinen, hat er das Gefühl, als stehe er in seinem Körper „wie in der Tiefe eines verlassenen Fensters“, von dem aus er in die Natur hinübersehe. Schließlich kommt es ihm vor, als sei er „auf die an­dere Seite der Natur geraten“:

„Langsam um sich sehend, ohne sich sonst in der Haltung zu verschieben, erkann­te er alles, erinnerte es, lächelte es gleichsam mit entfernter Zuneigung an, ließ es gewähren, wie ein viel Früheres, das einmal, in abgetanen Umständen, an ihm beteiligt war. Einem Vogel schaute er nach, ein Schatten beschäftigte ihn, ja der bloße Weg, wie er da so hinging und sich verlor, erfüllte ihn mit einem nach­denklichen Einsehn, das ihm umso reiner vorkam, als er sich davon unabhängig wußte“ (ebd.: 666 f.).

Durch das reine Anschauen gewinnen die Dinge eine neue Qualität für ihn. Sie scheinen ihm nun aus einem „geistigere[n] Abstand“ gegenüberzutreten und sich ihm dabei „mit so unerschöpflicher Bedeutung“ zu offenbaren, „als ob nun nichts mehr zu verbergen sei“ (ebd.: 668).

In Erlebnis II wird die zunächst nur optisch vermittelte Verbundenheit mit den Dingen auch über andere Sinne realisiert. So heißt es hier von einem Vogelruf, dass er

„draußen und in seinem Innern übereinstimmend da war, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins blieb. Damals schloß er die Augen, um in einer so großmütigen Erfahrung durch den Kontur seines Leibes nicht beirrt zu sein, und es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über, daß er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetre­tenen Sterne in seiner Brust zu fühlen“ (Rilke 1913/1996: 668 f.).

Zwar gehen sowohl bei Hofmannsthal als auch bei Rilke die Epiphanie-Erlebnisse zunächst mit einer vorübergehenden Loslösung aus der Gemeinschaft mit anderen einher. Denn die Erlebnisse zeichnen sich ja gerade durch eine Abkehr von jenen Deutungsmustern aus, aus denen sich für alle anderen die Wahrnehmung der Wirklichkeit aufbaut. Im Endeffekt führt die Erfahrung der tieferen Wahrheit des Seins jedoch zu der Empfindung einer tieferen Verbundenheit mit allem und allen anderen. Wie die biblische Pfingsterfahrung eine allen Menschen gemeinsame Sprache hervorbringt, betont auch Rilke das Gefühl der Seelenverwandtschaft mit anderem Seienden, das sich aus einer wesenhaften, nicht oberflächlichen Wahrnehmung der Welt ergibt:

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.“
(Rilke 1914/1996: 113)

So lassen sich die von Rilke und Hofmannsthal beschriebenen Erfahrungen in gewissem Sinne als Epiphanie-Erlebnisse charakterisieren, in denen die christlich-religiöse Wahrheitssuche in den Bereich der allgemeinen Wahrheit des Seins übertragen worden ist. Wie bei der biblischen Erleuchtungserfahrung geht es dabei aber auch hier um das unmittelbare Erleben dieser Wahrheit. Diese wäre allerdings eher in einem platonischen Sinn zu verstehen, als Suche nach den ewigen Ideen, die sich unter der Oberfläche der Worte verbergen.

Bleibt noch das dritte Charakteristikum der Pfingsterfahrung: die Fähigkeit, in einer neuen, die Wahrheit unmittelbar zum Ausdruck bringenden Sprache zu sprechen. Während die biblischen Apostel diese Gabe durch den Heiligen Geist erhalten, vertrauen Hofmannsthal und Rilke hierfür auf die Poesie. Denn durch die ihr eigene, bildhaft-verdichtende Sprache verfügt diese über die Kraft, die in den Alltagsbegriffen gefangene Wirklichkeitswahrnehmung für die tiefere Wahrheit des Seins zu öffnen. Sehe man die Welt, so Hofmannsthal, „mit den Augen der Poesie, die jedes Ding jedesmal zum erstenmal sieht, die jedes Ding mit den Wundern seines Daseins umgibt“, so lasse sich auch das wahre Wesen der Dinge wieder erkennen. Man entwickle dann ein Gespür für die „eigentlichen Hieroglyphen“, die „lebendige[n] ge­heimnisvolle[n] Chiffren, mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt ge­schrieben hat“ (Hofmannsthal 1904/1991: 79 f.).

An dieser Stelle berührt sich demnach das dichterische Schaffen auch wieder mit der religiösen Erfahrung. Denn auch für das Pfingsterlebnis gilt: Es reicht nicht, dass irgendwann einmal die Apostel eine solche Erfahrung gemacht haben. Vielmehr muss sich die religiöse Erweckung in jedem Einzelnen immer aufs Neue wiederholen, um lebendig zu bleiben. Wer Gott nur auf seine Buchwahrheit reduziert, nimmt ihn in einer ebenso oberflächlichen, verzerrenden Weise wahr, in der die Alltagssprache die Dinge zeichnet.

In diesem Sinne sind für den Ikonen malenden Mönch in Rilkes Stunden-Buch all die „Bilder“ und „Namen“, mit denen wir Gott belegen, wie „tausend Mauern“, welche die Wahrheit Gottes verstellen. Das Mittel dagegen ist für ihn ein beständiges, meditatives ‚Umkreisen‘ Gottes bzw. der Wahrheit des Seins, durch das diese in einem nie endenden künstlerischen Prozess immer wieder neu zu erfassen versucht wird:

„Wir bauen an dir mit zitternden Händen
und wir türmen Atom auf Atom.
Aber wer kann dich vollenden,
du Dom.“
(Rilke 1899/1996: 157 ff.)

 

Nachweise

Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief (1902). In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 31, hg. von Ellenritter: Erfundene Gespräche und Briefe, S. 45 – 55. Frankfurt/Main 1991: S. Fischer.
Ders.: Das Gespräch über Gedichte (1904): In: Ebd., S. 74 – 86.
Neues Testament, übertragen von Jörg Zink. Stuttgart 1965: Kreuz-Verlag.
Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch, Erstes Buch: Das Buch vom mönchischen Leben (1899). In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 1, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, S. 157 ff. Frankfurt/Main 1996: Insel.
Ders.: Erlebnis I (e 1913, v 1918). In: Ebd., Bd. 4, hg. von Horst Nalewski, S. 666 – 668.
Ders.: Erlebnis II (e 1913, v 1935). In: Ebd., S. 668 – 670.
Ders.: [Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen …] (e   1914, v 1927). In: Ebd., Bd. 2, S. 113.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819); hier zit. nach Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus, Bd. 1. Zürich 1988 (Neuausgabe 1994): Haffmans.

 

Bild: privat Copyright: Dieter Hoffmann

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