Populisten an die Macht!(?) – Plädoyer für eine Demokratisierung der Demokratie

Kubin Der Weg ins Unbekannte
Kubin Der Weg ins Unbekannte

 

In dieser Woche haben in Europa alle gebannt auf die Regierungsbildung in Italien geschaut. Man hatte und hat das Gefühl, dass hier etwas Entscheidendes passiert, etwas, das für die künftige Entwicklung Europas und speziell der Europäischen Union von fundamentaler Bedeutung sein könnte. Diese starke emotionale Beteiligung erklärt wohl auch, warum manch einer im Eifer des Gefechts über das Ziel hinausgeschossen ist und Italien für Entwicklungen verantwortlich gemacht hat, für die das Land lediglich ein Symptom darstellt. So scheint es sinnvoll zu sein, noch einmal genau hinzuschauen und sich darüber klar zu werden, was da gerade auf der politischen Bühne Europas im Allgemeinen sowie speziell in Italien passiert.

Da wäre zunächst einmal die ökonomische Ebene. Das Regierungsprogramm der Koalition aus Lega und Cinque Stelle sieht hohe Ausgaben vor, bei denen fraglich ist, ob sie durch Umschichtungen im Haushalt gegenfinanziert werden können. So besteht die Gefahr, dass die Ausgaben über neue Staatsschulden finanziert werden sollen. Schon die bloße Möglichkeit einer solchen Entwicklung sorgt an den Finanzmärkten für hysterische Reaktionen. In der Folge ist das Scheitern der neuen Regierung fast schon wie bei einer self fulfilling prophecy vorprogrammiert. Dabei hat das Beispiel Portugals – wo die erhöhten Sozialausgaben freilich durch Einsparungen an anderer Stelle gedeckt sind – gezeigt, dass eine sozialere Wirtschaftspolitik sehr wohl eine stimulierende Wirkung auf die Konjunktur entfalten kann.

Nun ist es freilich gerade ein Kennzeichen populistischer Parteien – wie sie die neuen italienischen Regierungsparteien (insbesondere die Lega) fraglos darstellen –, dass Feinheiten wie die solide Finanzierung von Regierungsvorhaben als zu vernachlässigendes Beiwerk abgetan werden. Vor allem aber halten diese Parteien es nicht für notwendig, ihre Pläne mit anderen EU-Mitgliedern abzustimmen. Tendenziell ist sogar das Gegenteil der Fall, da ein Charakteristikum des europäischen Populismus ja gerade der Kampf gegen die angebliche Fremdbestimmung durch „Brüssel“ und für die Wiedergewinnung der vollen nationalen Souveränität ist.

Auch dies birgt die Gefahr in sich, dass die Neurorientierung in der Wirtschaftspolitik eine Totgeburt ist. Dabei ist gerade in Italien die Berechtigung einer keynesianisch ausgerichteten Politik, die über eigene Investitions- und Sozialprogramme der Wirtschaft Impulse gibt, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Das Land leidet unter einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit, die jungen Menschen jede Perspektive nimmt. Viele sind dazu gezwungen, im Elternhaus wohnen zu bleiben, und tun sich daher schwer, die Kraft und die Phantasie für einen eigenständigen Weg ins Leben aufzubringen. Dadurch geht auch der Wirtschaft viel kreatives Potenzial verloren.

Wenn jedoch die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in einem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union – noch dazu, wenn es sich um ein Euro-Land handelt – nicht mit den Partnern abgesprochen wird, besteht immer die Gefahr, dass diese das Projekt boykottieren oder zumindest nicht unterstützen. Schon das Signal, dass dies so sein könnte, treibt die Zinsen für die Staatsanleihen des betreffenden Landes in die Höhe. Und wenn sich ein Land dann erst einmal in Schwierigkeiten befindet, sind die Ratingagenturen schnell mit einer Abstufung der Bonität bei der Hand, was dann einen Teufelskreis aus immer weiter steigenden Zinsen für die Staatsverschuldung und immer neuer Abwertung der Bonität in Gang setzt. Am Ende steht dann ein Hilfsprogramm der EU, das angesichts der dabei üblichen strengen Sparvorhaben – siehe Griechenland – die Bemühungen um eine sozialere und investitionsfreudigere Wirtschaftspolitik ins Gegenteil verkehrt.

Die spezielle Problematik im Falle Italiens ist nun allerdings: Italien ist sicher „too big to fail“. Insofern könnte sich die neue Regierung darauf verlassen, im Notfall von den anderen Mitgliedsstaaten entsprechend unterstützt zu werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob Italien nicht auch „too big to be saved“ ist. Wenn allein für die Rettung Griechenlands über 100 Milliarden Euro für die diversen Rettungsprogramme aufzubringen waren, könnte für Italien leicht eine Billion an Hilfsgeldern erforderlich sein. Dies aber könnte die gesamte Europäische Union in Schieflage bringen und den Euro sprengen. Eben hierauf scheinen auch die hysterischen und teilweise offen feindseligen Reaktionen auf die Regierungsbildung in Italien zurückzuführen zu sein.

Die im engeren Sinn politische Bedeutung der Entwicklungen in Italien hängt zunächst unmittelbar mit der ökonomischen Ebene zusammen. Viele Menschen (nicht nur) in Italien fühlen sich eben von „Brüssel“ missachtet und teilweise auch verachtet. Und in der Tat ist es ja auch so, dass Sozialpolitik auf der Prioritätenliste der EU-Kommission nicht an erster Stelle steht. Natürlich fördert die EU auch Infrastrukturprojekte, die mittelbar auch ärmeren Regionen und den dort lebenden Menschen zugute kommen können. Derartige Projekte sind jedoch oft so groß dimensioniert, dass bei der Auftragsvergabe die beteiligten Firmenkonsortien und Subunternehmen nicht hinreichend begutachtet werden können.

In einem Land, in dem die Wirtschaftskriminalität durch die Mafia fast schon systemischen Charakter hat, öffnet dies dem Missbrauch von Geldern Tür und Tor. Bestes Beispiel dafür ist in Italien die Autobahn von Salerno nach Reggio Calabria, die sich im Verlauf ihrer 54-jährigen Bauzeit zu einem Paradies für mafiöse Geschäfte entwickelt hat, so dass an ihrer Fertigstellung bei den beteiligten Bauunternehmen gar kein Interesse bestand.

Nun hat die Existenz der Mafia auch dazu geführt, dass Italien bereits auf eine sehr lange Tradition populistischer Politik zurückblickt. Noch bevor sich die Unzufriedenheit mit der eigenen sozioökonomischen Lage an den Brüsseler Eurokraten abreagieren konnte, wurde sie von Silvio Berlusconi auf das italienische Polit-Establishment gelenkt. Dies wirkte als Katalysator für die Implosion des italienischen Parteiensystems. Während in anderen europäischen Ländern noch die alten Volksparteien regierten, hatte in Italien bereits eine Partei mit einem realsatirischen, an Schlachtrufe von Fußballfans angelehnten Namen (Forza Italia –  „Vorwärts, Italien!“) die Macht ergriffen. Heute sind derartige nichtssagende Namen, die nur noch die Existenz einer Partei vortäuschen, während sie in Wahrheit lediglich Wahlvereine für bestimmte Interessengruppen darstellen, in ganz Europa verbreitet.

Schon im Falle Berlusconis ergab sich – wie bei den meisten populistischen Führern nach ihm – die bittere Pointe, dass derjenige, der gegen das alte Establishment wetterte, in besonderem Maße davon profitierte und mit dem Erwerb der politischen Macht nicht zuletzt seine eigenen Interessen schützen wollte. So war Berlusconi auch die Blaupause für alle späteren selbst ernannten Volkstribunen. Er hatte vorgeführt, dass für einen Sieg bei demokratischen Wahlen nichts so hilfreich war wie Skrupellosigkeit. Wer keine Bedenken hatte, Anti-Establishment-Stimmungen aufzugreifen, konnte dabei auch in großem Maßstab Steuern hinterziehen und mafiöse Geschäftsbeziehungen pflegen.

Dies war später auch der Weg Trumps oder etwa des „tschechischen Berlusconis“ Andrej Babiš. Wie Berlusconi profitierten diese Politiker zudem auch von der Möglichkeit einer entsprechenden Selbstdarstellung über eigene Medien und/oder die sozialen Medien.

Die populistischen Führer unterminieren demokratische Entscheidungsprozesse damit gleich auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen erschweren sie die kritische Urteilsbildung der Wählenden, indem sie diffuse Stimmungen aufgreifen und gezielt verstärken, anstatt mit Informationen über ihre Programme zu überzeugen. Zum anderen untergraben sie aber auch die Analyse- und Kommentierfunktion der Medien, indem sie diese entweder gleich selbst in Besitz nehmen oder sie auf verschiedene Weise (wie etwa über den Entzug von Werbegeldern) unter Druck setzen, um die Berichterstattung in ihrem Sinne beeinflussen zu können.

Die Hatz auf das politische Establishment ist dabei nur ein Topos unter anderen, mit denen Populisten die Wählenden für sich einzunehmen versuchen. Auf der Hitliste ganz oben steht, wie in Italien insbesondere bei der Lega, natürlich auch die Fremdenfeindlichkeit. Beide populistischen Leitmotive lassen sich zudem gut miteinander verbinden, indem die Migranten zu Sündenböcken für wirtschaftliche Probleme gemacht werden und der politischen Elite mangelnde Durchsetzungskraft bei deren Lösung vorgeworfen wird. Als Heilmittel für beides – die Zurückweisung der zu „Volksschädlingen“ erklärten Migranten und die Genesung der Wirtschaft – wird dann der „starke Führer“ angepriesen, als der sich die populistischen Volkstribunen so gerne darstellen.

Streng genommen untergraben die Populisten mit ihrem Tun allerdings nicht die Demokratie, sondern fördern lediglich fundamentale Webfehler in der Textur der westlichen Demokratien zutage. Diese nämlich folgen zum allergrößten Teil einem formal-prozeduralen statt einem substanziellen Begriff von Demokratie. Dies bedeutet, dass die Wählenden zwar über diejenigen mitbestimmen dürfen, welche die Geschicke des Volkes lenken, über diese Geschicke selbst jedoch nicht mitentscheiden dürfen. Dieses System ist insofern auf Missbrauch angelegt, als ein Politiker dabei lediglich die Klippe der Wahlen umschiffen und sich allenfalls noch das spätere Regierungsprogramm in einem Mitgliederentscheid seiner Partei absegnen lassen muss, danach aber – abgesehen von groben Verstößen gegen die Verfassung – schalten und walten kann, wie er will.

Dass die mediale Entwicklung von einer immer stärkeren Eigendynamik der Bildersprache und einer abnehmenden Bedeutung informativer Texte geprägt ist, macht einen auf suggestive Verführung, wenn nicht gar gezielte Täuschung der Wählenden angelegten Wahlkampf noch leichter möglich als früher. Hinzu kommt, dass viele politische Entscheidungsträger auch in der Regierungsverantwortung nicht an Diskussionen und konstruktiver Kritik an ihrem Handeln interessiert sind. Wenn die Wählenden etwas nicht goutieren, heißt es vielmehr, man müsse die Inhalte in Zukunft besser „kommunizieren“, sprich: die Propagandaanstrengungen intensivieren.

So steht unsere Demokratie heute an einem Scheideweg. Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, dass wir alles so lassen, wie es ist. Dann werden die populistischen Parteien den Takt vorgeben und entweder zu einer entsprechenden Umformung der tradierten Parteien führen oder gleich selbst die Macht übernehmen. Dies entspräche de facto einer Abschaffung der Demokratie. Denn für eine populistische Partei gilt: ein Volk, ein Führer. Wahlen haben hier nur noch akklamatorischen Charakter und dienen der Festigung des mystischen Bandes zwischen dem Volk und seinem Führer, der dieses nicht nur repräsentiert, sondern personifiziert, indem er den zu Gefolgsleuten mutierten Bürgern als Projektionsfläche ihrer Wünsche und Ängste dient.

Die zweite Möglichkeit wäre ein unverzüglicher Umbau des Systems der demokratischen Mitbestimmung im Sinne eines substanziellen Modells von Demokratie. Konkret müssten dafür überall im Land Bürgerkomitees eingerichtet werden, die sich jeweils unterschiedlichen Themen widmen und auch über die entsprechenden Entscheidungskompetenzen verfügen würden. Die Teilnahme an diesen Gruppen müsste allen offenstehen. Aus ihrer Mitte würden dann jeweils VertreterInnen in überregionale und nationale Gremien entsandt, in denen die lokalen Entscheidungen miteinander koordiniert werden müssten.

Alle Diskussionen in den neuen Entscheidungszirkeln müssten sich an den Grundsätzen der Sachorientierung, der uneingeschränkten Gleichberechtigung der Mitglieder und eines wertschätzenden Umgangs miteinander ausrichten. Um dies zu gewährleisten, wären folgende Punkte zu beachten:

  1. Herstellung eines gemeinsamen Informationshorizonts. Allen Gruppenmitgliedern müssen vor Beginn des Diskussionsprozesses die nötigen Informationen zugänglich gemacht werden. Jedes Treffen sollte noch einmal mit einer überblicksartigen, allgemein verständlichen Zusammenfassung der Fakten beginnen.
  2. Sobald ein Entscheidungszirkel eine kritische Größe übersteigt, ist er in mehrere Untergruppen zu unterteilen. So soll sichergestellt werden, dass jeder sich an den Diskussionen beteiligen kann. Die einzelnen Untergruppen wählen wechselnde Gruppensprecher, die den jeweiligen Diskussionsstand im Plenum des gesamten Entscheidungszirkels referieren.
  3. Sensibilisierung für gruppendynamische Prozesse. Um bei den Diskussionen nicht von vermeidbaren irrationalen Impulsen abgelenkt zu werden bzw. diese zumindest selbstkritisch im Blick zu haben, sollten alle Mitglieder von Entscheidungszirkeln sich regelmäßig mit den Eigenarten gruppendynamischer Prozesse auseinandersetzen (typische Rollenmuster, die sich dabei herausbilden, Formen unbewusster Projektion von Gefühlen auf andere Gruppenmitglieder, Ausgrenzungs- und Unterordnungstendenzen etc.).
  4. Berücksichtigung von Problemen der Gesprächsführung. Dies bezieht sich zunächst auf Selbstverständlichkeiten, die allerdings im Talk-Show- und Debatten-Alltag allzu oft missachtet werden: gegenseitiges Zuhören, Bereitschaft zum Umdenken und -lernen, Kritikfähigkeit im doppelten Sinn von Selbsthinterfragung und Höflichkeit bei der Infragestellung der Positionen anderer. Um dies zu gewährleisten, benötigen strukturierte Gespräche eine qualifizierte Moderation. Diese sollte wechselseitig von verschiedenen Gruppenmitgliedern übernommen werden, um nicht auf diesem Wege informelle Hierarchien entstehen zu lassen.

Das wichtigste Argument gegen eine solche Form direkter Demokratie ist stets, dass die „Bürgerinnen und Bürger“ damit überfordert wären. Die moderne Welt sei einfach zu komplex für „den einfachen Mann“ bzw. „die einfache Frau“ auf der Straße. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass auch Politiker, die oft heute in dem einen und morgen in dem anderen Ressort tätig sind, die nötigen Entscheidungen nur durch die beratende Tätigkeit ihres ReferentInnenstabes treffen können. Auch ist die Debattenkultur in den meisten Parlamenten nicht gerade ein Vorbild für einen auf die Gesprächspartner eingehenden, wertschätzenden Umgang miteinander.

So beruht die Zurückweisung einer direkten Beteiligung der in einem Land lebenden Menschen an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen letztlich auf einem vordemokratischen Verständnis des Gemeinwesens. Die Diskussion erinnert damit ein wenig an die Debatten über Schulprojekte wie Summerhill, wo die Mitbestimmung der Lernenden über alle schulischen Belange ein zentraler Teil des Schulkonzepts ist. Allen skeptischen Blicken auf derartige Projekte zum Trotz zeigt sich immer wieder, dass die Fähigkeiten zu einem kritischen, verantwortungsbewussten Urteil und zum wertschätzenden Umgang miteinander sich in dem Maße ausprägen, wie diese Fähigkeiten erprobt und genutzt werden.

Soll heißen: Niemand kommt als mündiger Bürger mit einem kritischen Urteilsvermögen und der Fähigkeit, anderen zuhören und in einen faktenbasierten Dialog mit ihnen eintreten zu können, auf die Welt. Der Glaube daran, dass diese Fähigkeiten sich entwickeln können, wenn die entsprechenden Erprobungsräume geschaffen werden, ist jedoch das Fundament jedweder Demokratie. Verliert man das kantische Vertrauen in die Fähigkeit und den Wunsch des Menschen zum Ausbruch aus seiner Unmündigkeit – die heute eben nicht mehr in jedem Fall „selbst verschuldet“ ist, sondern oft genug von interessierter Seite zementiert wird –, so bereitet man damit eben jenen antidemokratischen Führern den Boden, die schon immer der Meinung waren, die wahre Stimme des Volkes zu sein.

 

 

Bild: Alfred Kubin: Ins Unbekannte (1900/01). Leopold Museum Wien © 2012 ProLitteris, Zürich

 

Ein Kommentar

  1. Endlich mal eine Analyse des Populismus, die gleichzeitig die Bedrohungen des eigentlichen demokratischen Grundkonsens und den einzigen echten Ausweg aus der aktuellen Sackgasse aufzeigen.

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