Inneres und äußeres Wachstum

Die Paradoxie eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums. 

Überarbeitete Fassung 2019.

Face of Buddha in archeological site in Thailand

Klimaschutz, Hambacher Forst, Kohleausstieg, Fridays for future, erneuerbare Energien, Kohlendioxidabgabe – die Diskussion über unsere Zukunft hat in letzter Zeit eine merkwürdige Verkürzung erfahren. Es gilt die Formel: Wenn Deutschland seine Klimaziele erreicht, wird alles gut. Am deutschen (Klima-)Wesen wird die Welt genesen.

Noch vor wenigen Jahren, bei der Occupy-Wallstreet-Bewegung, war das anders. Die damalige Kritik an dem bestehenden Finanzsystem implizierte immer auch die Forderung nach einer anderen Wirtschaft und damit auch einer anderen Gesellschaft, in der das Lebensglück mehr wäre als ein paar Nullen an der richtigen Stelle eines Kontoauszugs.

Auch die seit den 1970er Jahren durchgeführten Studien zu den „Grenzen des Wachstums“ scheinen völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Stattdessen wird heute immer wieder das wachstumsfördernde Potenzial der „erneuerbaren Energien“ betont. Es geht also ausdrücklich nicht um einen ökonomischen Paradigmenwechsel, der uns eine Abkehr vom Wachstumsfetisch ermöglichen würde.

Solange in unserer Wirtschaft das Wachstum aber den Rang eines Dogmas einnimmt, das allein unser Wohlergehen garantieren kann, verhalten wir uns wie Krebskranke, die einen Tumor mit einem anderen Tumor bekämpfen wollen. Was wir brauchen, ist eine Wirtschaft, in der Produktion und Konsum nicht mehr um ihrer selbst willen wuchern; eine Wirtschaft, in der nicht wir dem Wachstum dienen, sondern das Wachstum uns. Nur dann werden wir auf lange Sicht diesen Planeten als lebenswerten Ort für uns erhalten können.

Zur Vertiefung dieser Gedanken gibt es hier eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Essays über die Paradoxie eines nachhaltigen Wachstums.

Als Pdf lesen: Paradoxie des nachhaltigen Wachstums

INHALT:

Bruttonationalglück: Wachstum auf Bhutanisch

Selbstzerstörerisches Wachstum

Wachstum und Nachhaltigkeit: ein Widerspruch in sich

Der Konsumrausch als Nachhaltigkeitskiller

Der politische Nährboden der Wachstumsideologie

Wege zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Die ökonomische Ebene

Wege zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Die politische Ebene

„Glück“ als Staatsziel?

Literatur

Bruttonationalglück: Wachstum auf Bhutanisch

Als Jigme Singye Wangchuk, der vierte König von Bhutan, 1979 von einem Journalisten nach der Höhe des Bruttonationaleinkommens seines Landes gefragt wurde, entgegnete er, in Bhutan orientiere man sich eher am Bruttonationalglück (vgl. Dorji 2008). Dieses Konstrukt war damals zwar – anders als heute, wo „the pursuit of Gross National Happiness“ in Bhutan Verfassungsrang genießt (Art. 9, Abs. 1) – lediglich eine „intuitive Vision“ des Königs (vgl. ebd.). Trotzdem problematisierte dieser eben hiermit – aus der Distanz einer majestätischen Ironie – die Voraussetzungen, auf denen die Frage des Interviewers beruhte. Denn die Gegenüberstellung von „Bruttonationalglück“ und „Bruttonationaleinkommen“ verdeutlicht, dass Letzteres nationalen Wohlstand auf äußere, materielle Indikatoren reduziert. Dem stellt der König ein Konzept gegenüber, das auch innere, nicht eindeutig messbare Indikatoren berücksichtigt.

Nun könnte man einwenden, dass ein höheres bzw. steigendes Bruttonationaleinkommen oder Bruttoinlandsprodukt auch ein Indikator für eine hohe Lebenszufriedenheit des betreffenden Volkes sei, weil diese eben ganz wesentlich auf einem hohen Standard bei den materiellen Rahmenbedingungen beruhe. Dies ist insofern nicht falsch, als natürlich eine ausgewogene Ernährung, hinreichende medizinische Versorgung und angemessene Wohnbedingungen auch für inneres, subjektives Glückserleben unverzichtbar sind.

Daraus lässt sich allerdings nicht der Schluss ziehen, dass ein beständig steigendes Bruttonationaleinkommen notwendigerweise beständig steigende Glücksgefühle in der Bevölkerung zur Folge haben muss. Ganz abgesehen davon, dass der dadurch generierte Reichtum in den westlichen Gesellschaften ungleich verteilt ist und somit nicht jeder gleichermaßen am wirtschaftlichen Wachstum partizipiert, zeigen Studien zur Lebenszufriedenheit, „dass eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens ab einem bestimmten Niveau keinen weiteren Zuwachs an subjektiv empfundenem Wohlbefinden stiftet“ (Paech 2012a, S. 5; vgl. Layard 2005).

Aus eben dieser Einsicht speist sich auch die heutige Konzeption des bhutanischen Bruttonationalglücks. Sie trägt zwar durchaus der Tatsache Rechnung, dass „Vermögen (…) notwendig“ ist. Laut Karma Ura, der in der bhutanischen Hauptstadt Thimphu das Centre for Bhutan Studies leitet und dort die Forschungen zum Bruttonationalglück koordiniert, gilt dies aber „nur in dem Maße, wie es zu Freiheit von Not verhilft und den Menschen erlaubt, ein glückliches Leben zu führen“. Dagegen sei die „Anhäufung von Vermögen“ ein „leerer Wert, wenn alles menschliche Bemühen sich darauf konzentriert und wenig Raum für Freiheit (…) und Glück (…) bleibt“ (Karma Ura 2010, S. 6).

Selbstzerstörerisches Wachstum

Die Tatsache, dass wirtschaftliches Wachstum und der damit einhergehende immerwährende „Konsumrausch“, der ja schon in seinem Namen seine Wahnhaftigkeit andeutet, den Einzelnen ab einem bestimmten Punkt keinen Zugewinn an persönlichem Glück mehr bescheren, ist freilich nicht das einzige Problem dieser Art von Wohlstandskonzeption. Vielmehr zerstört dasselbe ungebremste Wachstum auf Dauer auch die materiellen Grundlagen, auf denen die bisherige relative Lebenszufriedenheit beruhte.

Dies wurde bereits 1972 von Meadows et al. in ihrer bahnbrechenden Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ anhand detaillierter Modellrechnungen nachgewiesen. In der vom Club of Rome, einer multinationalen Vereinigung hochrangiger Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, initiierten Untersuchung wurden verschiedene Szenarien der Interdependenz zentraler, global wirksamer sozioökonomischer Entwicklungen durchgespielt. So wurde etwa erforscht, wie sich Bevölkerungswachstum, Rohstoffabbau, Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelversorgung, Energiebedarf oder auch der Landverbrauch gegenseitig beeinflussen.

Alle Szenarien führten zu dem Ergebnis, dass eine unveränderte Fortschreibung der bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise innerhalb von 50 bis 100 Jahren einen Kollaps des Gesamtsystems, verbunden mit einem deutlichen Absinken des allgemeinen Lebensstandards, zur Folge hätte. Laut den Studienergebnissen wäre eine solche Entwicklung selbst im Falle verbesserter Geburtenkontrolle, einem intensivierten Umweltschutz und technischer Entwicklungen, die etwa zu einer optimaleren Nutzung der landwirtschaftlichen Ressourcen und der Rohstoffvorräte führen würden, kaum zu vermeiden gewesen.

Dieser Befund wurde auch in Folgestudien aus den Jahren 1992, 2004 und 2012, die neuere Entwicklungen berücksichtigten und zueinander in Beziehung setzten, bestätigt. Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels und des ungebremsten Raubbaus an den natürlichen Ressourcen zeichnen sich die Prognosen tendenziell sogar durch eine zunehmende Skepsis hinsichtlich eines möglichen Umsteuerns aus.

Wachstum und Nachhaltigkeit: ein Widerspruch in sich

Die Veröffentlichung der ersten Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ stand in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Ölkrise des Jahres 1973, die den westlichen Ländern die Vulnerabilität ihrer Wirtschaftsweise vor Augen führte. So fiel die Untersuchung durchaus auf fruchtbaren Boden. Sie leitete ein Umdenken ein, als dessen Leitbegriff sich das Ideal der „Nachhaltigkeit“ herauskristallisierte. Für diese wiederum ist das Bemühen um eine schonendere und effizientere Nutzung der vorhandenen Ressourcen zentral. So hat die Studie insbesondere in der Recycling-Wirtschaft und beim Bemühen um einen sparsameren Umgang mit Energie wichtige Anstöße gegeben.

Aus heutiger Sicht sind die im Anschluss an die Studie entwickelten Nachhaltigkeitskonzepte jedoch auch ein Beleg für die Unverträglichkeit von Nachhaltigkeitsidealen und Wachstumsideologie. So waren beispielsweise die Fischfarmen, mit denen die Überfischung der Meere eingedämmt werden sollte, anfangs ein wichtiger Baustein im Rahmen des geforderten nachhaltigeren Umgangs mit der Natur. Durch die Übertragung der Wachstumsmaximen auf diese Form der Fischzucht haben die Fischfarmen mittlerweile jedoch vielfach eine solche Größe erreicht, dass sie das Gegenteil des ursprünglich Bezweckten bewirken. So führen der Austritt der Fischexkremente aus den Farmen oder undichte Netze, die ganze Schwärme der gezüchteten Fischarten in die Umgebung entweichen lassen, zu einer empfindlichen Störung der Ökosysteme. Abgesehen davon hat das Zusammenpferchen Tausender von Fischen in engen Zuchtbecken natürlich nichts mit artgerechter Haltung zu tun.

Das Beispiel zeigt, dass das Modell des nachhaltigen Wachstums in sich widersprüchlich ist. Denn es geht dabei eben nicht um eine Abkehr von der bisherigen Wirtschaftsform. Angestrebt werden vielmehr Korrekturen, mit denen gerade der Fortbestand der wachstumsbasierten Ökonomie sichergestellt werden soll. Dies findet seinen Ausdruck auch in der Proklamierung eines „Green New Deal“ (Giegold 2009), durch den die immer wieder beschworene „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“ realisiert werden soll.

Bezeichnend war in dieser Hinsicht auch der Umgang mit der jüngsten weltweiten Finanzkrise. Die deutsche Bundesregierung hat hierauf bekanntlich mit einem „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ reagiert. Damit machte sie deutlich, dass Nachhaltigkeit zwar erwünscht ist, wo sie dem Wirtschaftswachstum dient, dass im Zweifelsfall aber ein nicht-nachhaltiges Wachstum einer nicht-wachstumsorientierten Nachhaltigkeit vorzuziehen sei.

So wurde zwar der ebenfalls als Konjunkturmaßnahme eingeführten Abwrackprämie durch die Etikettierung als „Umweltprämie“ ein grüner Anstrich verpasst. De facto war die massenhafte Verschrottung fahrtüchtiger Autos, die durch energieintensiv produzierte, nicht notwendigerweise spritsparende Neuwagen ersetzt wurden, allerdings das genaue Gegenteil einer am Kriterium der Nachhaltigkeit orientierten Wirtschaftspolitik.

Der Konsumrausch als Nachhaltigkeitskiller

Das Postulat eines nachhaltigen Wachstums erweist sich vor diesem Hintergrund als Widerspruch in sich. Denn während ein nachhaltiges Wirtschaften im Interesse eines schonenden Umgangs mit den Ressourcen durchaus auch Wachstumspausen oder einen zumindest zeitweiligen Wachstumsrückgang in Kauf nehmen würde, ist für eine auf Wachstum fixierte Ökonomie jede Stagnation oder gar Rezession gleichbedeutend mit einer Wirtschaftskrise.

In sich widersprüchlich ist folglich auch das Verhalten von Bevölkerung und Regierungen in Staaten, die sich dem paradoxen Konstrukt eines „nachhaltigen Wachstums“ verschrieben haben. Zwar wird die Einsparung von Ressourcen hier gefördert oder – wie im Falle der LED-Technologie – per Verbot der energieintensiveren Variante erzwungen. Die sich hieraus ergebenden umweltschonenden Effekte werden jedoch durch die Förderung des Konsums, der unverändert als zentrale Stütze der Wirtschaft gilt, konterkariert. Um nämlich die Bevölkerung zum Kauf immer neuer Produkte anzuregen, müssen diese entweder so konstruiert sein, dass sie nur eine begrenzte Zeit halten (Stichwort „Obsoleszenz“), oder es werden neuartige Produkte auf den Markt gebracht, deren Unverzichtbarkeit dann durch entsprechende Werbekampagnen suggeriert wird.

Dieser Produktkreislauf widerspricht dem Nachhaltigkeitskriterium gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind die Vergöttlichung des Neuen um seiner selbst willen und die Förderung der Wegwerfmentalität natürlich schon an sich alles andere als nachhaltig. Zum anderen wird aber auch bei den qualitativ neuen Produkten einseitig der Aspekt der Konsumförderung in den Vordergrund gestellt. Der durch sie entstehende zusätzliche Energieverbrauch wird dagegen kaum thematisiert. So werden auch objektiv überflüssige Produkte wie Laubpuster oder Alleskönner-Küchengeräte mit Macht in den Markt gedrückt.

Die Konsumorientierung der Wachstumswirtschaft trägt folglich auch zur Verstärkung von Risiken bei, die dem Bemühen um einen schonenderen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen ohnehin inhärent sind. Dabei handelt es sich insbesondere um die so genannten „Rebound-Effekte“. Gemeint sind damit Entwicklungen, bei denen die durch technologische Innovationen erzielte effizientere Ressourcennutzung durch ein dem widersprechendes Konsumentenverhalten eingeschränkt, zunichte gemacht oder – als so genannter „Backfire-Effekt“ – sogar ins Gegenteil verkehrt wird (vgl. Hänggi 2008, S. 81 ff.). Zu denken ist dabei etwa an die intensivere – weil kostengünstigere – Nutzung engiergieeffizienter Produkte (wie beispielsweise benzinsparender Autos) oder an die Verwendung des eingesparten Geldes für nicht-nachhaltige Ausgaben (wie beispielsweise einen Zweitwagen oder eine Fernreise).

Verstärkt werden derartige Verhaltenstendenzen durch die aus der Sozialpsychologie bekannte Neigung des Menschen, moralisches gegen unmoralisches Verhalten aufzurechnen. So hat etwa ein an der Universität Toronto durchgeführtes Experiment gezeigt, dass Probanden im Anschluss an den Kauf von Bio-Produkten in einer anschließenden Gruppensituation eher zu nicht-altruistischem oder gar betrügerischem Verhalten tendierten (vgl. Mazar/Zhong 2010).

Übertragen auf die Bemühung um Nachhaltigkeit bedeutet dies, dass beispielsweise Fahrer eines umweltfreundlicheren Hybrid- bzw. Elektro-Autos oder Nutzer von Carsharing-Angeboten sich eher dazu berechtigt fühlen könnten, an anderer Stelle ein weniger nachhaltiges Verhalten an den Tag zu legen. Soweit es sich dabei um eine Konsumentscheidung handelt, kann der Gedanke, damit die heimische Wirtschaft zu fördern, sich also trotz aller moralischen Fragwürdigkeit des Verhaltens doch immerhin als Konsumentenpatriot zu bewähren, das Gewissen noch zusätzlich beruhigen.

Dieser psychologische Mechanismus ist auch im Bereich der deutschen Energiepolitik zu beobachten. So dient hier die Erzeugung von Energie aus „erneuerbaren“ Quellen als Legitimation für die Beibehaltung einer energieintensiven Lebensweise, die selbst alles andere als nachhaltig ist. Dies ist auch deshalb fatal, weil insbesondere die Windkraft das Nachhaltigkeitsversprechen, mit dem ihre Profiteure sie umkränzen, noch nicht einmal selbst erfüllt (vgl. http://www.vernunftkraft.de).

Der politische Nährboden der Wachstumsideologie

Als zusätzliches Hindernis für eine stärkere Verankerung des Nachhaltigkeitskriteriums im Alltag erweist sich die Tatsache, dass die politischen Entscheidungsträger zwar ständig vom mündigen Bürger reden, faktisch aber nicht an dessen Existenz glauben oder sie sogar fürchten. So versuchen sie das erwünschte Verhalten der Bevölkerung weniger durch Überzeugungsarbeit als vielmehr durch eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik aus finanziellen Anreizen und Verboten zu erreichen. Für eine Problematisierung der oben beschriebenen, unbewusst ablaufenden Mechanismen wäre jedoch gerade die Förderung kritischer Selbstreflexion notwendig – die dann freilich auch eine Infragestellung der in sich widersprüchlichen politischen Vorgaben für gleichzeitig nachhaltiges und konsumfreudiges Verhalten der Bürger zur Folge haben müsste.

Bleibt die Frage, warum die Politik wider besseres Wissen so hartnäckig an der Wachstumsideologie festhält. Darauf gibt es drei Antworten. Die erste ist demokratietheoretischer Natur und betrifft die Logik von Wahlen in einer repräsentativen Demokratie. Ein Politiker, der hier das Schlagwort „Suffizienz“ (vgl. Linz 2014) in den Mund nähme, also die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in unserem Verständnis von Wohlstand betonen und die Anhäufung materieller Güter um ihrer selbst willen problematisieren würde, müsste befürchten, damit seine Wahlchancen zu gefährden. Die Tatsache, dass er dies weiß, führt zu einer Bestärkung der Wählererwartungen durch entsprechende, den Status quo feiernde und patriotisch überhöhende Werbekampagnen.

Die Fixierung der Politik auf die Wachstumswirtschaft hat zweitens aber auch fiskalpolitische Ursachen. Denn der Staat ist für die Bewältigung seiner Aufgaben auf stabile Geldzuflüsse angewiesen, wie sie durch die beständige Ankurbelung des Konsums zu generieren sind. (vgl. Seidl/Zahrnt 2012, S. 20 ff.). Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich der Sozialversicherung, wo eine alternde Gesellschaft immer stärker auf staatliche Transferleistungen angewiesen ist.

Drittens schließlich ist die Wachstumswirtschaft eng mit einem Verständnis von Arbeit verbunden, das diese einseitig als „Erwerbsarbeit“ definiert. Dies liegt daran, dass Arbeit als festes Rädchen in die konjunkturelle Wachstumsspirale eingepasst ist: Konjunkturelles Wachstum führt zu steigenden Löhnen, diese fördern die Konsumbereitschaft, was wiederum die Produktion ankurbelt, usw. Der Kreislauf der Wachstumsökonomie legt die in ihr Agierenden damit auf eine Konzeption von Arbeit fest, bei der die Arbeitskraft wie ein zu veräußerndes Gut von dem Arbeitenden abgetrennt wird. Diesem entfremdeten Verständnis von Arbeit entspricht ein entfremdetes Verständnis von Glück, dessen Realisierung nur über die Anhäufung materieller Güter möglich erscheint.

Wege zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Die ökonomische Ebene

Dies alles zeigt, wie weit der Weg wäre, wollte man auch in Deutschland ein dem bhutanischen Bruttonationalglück analoges Konstrukt einführen. Entsprechende Versuche müssten mit fundamentalen Änderungen verbunden sein. Diese hätten sowohl auf der im engeren Sinne ökonomischen als auch auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zu erfolgen.

Was zunächst die ökonomische Ebene anbelangt, so müsste eine nachhaltige Wirtschaft sich hier an den folgenden Prinzipien orientieren:

  1. Prinzip der Ressourcenschonung. Eine nachhaltige Wirtschaft dürfte stets nur die Ressourcen verbrauchen, die für den jeweiligen Produktionszweck unbedingt erforderlich sind. Anti-Beispiel: die Vernichtung von Regenwald für die Produktion von Soja, mit dem dann Tiere gefüttert werden, die in Schlachthöfen in industriellen Massentötungsverfahren zu mundgerechten Häppchen verarbeitet werden. Nachhaltig wäre hingegen der Verzicht auf so produziertes Fleisch und der direkte Verzehr von Soja durch den Menschen. Hierfür müsste weit weniger Soja produziert werden, so dass kein weiterer Regenwald für den Anbau zerstört zu werden hätte.
  2. Prinzip der Kreislaufwirtschaft. Eine nachhaltige Wirtschaft müsste den Müll auf ein Minimum reduzieren. Dies wird zwar auch jetzt schon – u.a. mit diversen EU-Richtlinien – angestrebt. Dabei geht es jedoch stets nur um einzelne Produkte. Stattdessen müsste grundsätzlich überall dort, wo die Wiederverwendung von Verpackungen oder die Umstellung auf ressourcenschonende Verpackungen möglich ist, dies auch zwingend vorgeschrieben werden. Es dürfte auch niemandem – wie dies heute etwa bei all den vielen Umsonstblättchen, Wurfsendungen und Werbegeschenken der Fall ist – gegen seinen Willen ein Produkt aufgezwungen werden.
  3. Prinzip der Solidität. Es ist grundsätzlich eine lange Haltbarkeit von Produkten anzustreben. Die Erneuerung der Produkte ist nur dann vorzusehen, wenn – wie dies etwa bei modernen Kühlschränken der Fall sein kann – deren Nutzen für die Umwelt größer ist als der durch die Verschrottung zu erwartende Schaden.
  4. Prinzip der Regionalität. Regionale, sozial und umweltschonend hergestellte Produkte sind so zu fördern, dass sie für die örtliche Bevölkerung attraktiver sind als Konkurrenzprodukte, die einen höheren Transportaufwand erfordern. Insbesondere Bio-Bauern, die heute durch die – hauptsächlich an der Größe der Anbaufläche ausgerichteten – Subventionspolitik der EU massiv gegenüber den großen Agrarbetrieben benachteiligt werden, müssten dabei eine größere Unterstützung erfahren.
  5. Prinzip der Suffizienz. Bei der Produktion neuer Güter sollte deren faktische Notwendigkeit für den Alltag und nicht die Schaffung künstlicher Anreize im Vordergrund stehen. Der Konsum darf nicht um seiner selbst gefördert werden, sondern muss stets ein Mittel zum Zweck eines erfüllten Lebens sein.
  6. Prinzip der Solidarität. Nicht alle müssen alles besitzen. Die jetzt schon vorhandenen Ansätze zu einer gemeinsamen Nutzung bestimmter Gebrauchsgegenstände sind gezielt zu fördern. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass eine solche „Sharing Economy“ nicht selbst in jene Wachstumsspirale hineingerät, aus der sie ursprünglich Auswege aufzeigen wollte. Das Carsharing darf nicht zu einer Einschränkung des Nahverkehrs führen, das Couchsurfing nicht von Anbietern wie Airbnb als Geschäftsmodell instrumentalisiert werden, das die Wohnungsnot fördert und den Tourismus außer Kontrolle geraten lässt.
  7. Prinzip der Humanität. Wirtschaftsformen, die auf der Ausbeutung anderer beruhen, fördern soziale Konflikte, Krieg und Armut. Dies ist nicht nur inhuman, sondern hemmt auch die Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen. Ein Beispiel dafür ist der Export von Second-Hand-Kleidern nach Afrika, der den Aufbau einer einheimischen Textilindustrie behindert.
  8. Prinzip der Naturverträglichkeit. Eine nachhaltige Wirtschaft betrachtet die Natur nicht nur unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Nutzbarkeit. Sie schont sie deshalb nicht, um sie effektiver ausbeuten zu können, sondern weil sie auf der Einsicht aufbaut, dass ein harmonisches Miteinander von Mensch und Umwelt nicht nur die Natur schützt, sondern auch die Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben des Menschen ist.

Wege zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Die politische Ebene

Auf der allgemeineren, politisch-gesellschaftlichen Ebene müssten die Veränderungen in die folgende Richtung weisen:

  1. Veränderter Demokratiebegriff. An die Stelle einer repräsentativen müsste eine reflexiv-diskursive Demokratie treten, in der die Einzelnen durch basisdemokratische Verfahren unmittelbar an der Lösung der Probleme beteiligt würden. So könnten sie ein differenzierteres Problemverständnis entwickeln, was die Chance auf eine Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen erhöhen würde.
  2. Veränderter Arbeitsbegriff. Das derzeitige Sozialsystem führt zu einer doppelten Entmündigung und Entmutigung der Bürger. Ältere Menschen werden mit Verweis auf knappe Kassen mit würdelosen Taschengeld-Renten abgespeist. Und jüngere Menschen werden mit an Erpressung grenzenden Methoden in sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit gedrängt, um eben diese Kassen zu füllen. Dies geht, wie oben erläutert, mit der Förderung eines sich selbst verstärkenden, umweltzerstörerischen Wachstumskreislaufs aus Arbeit, Produktion und Konsum einher.

Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist folglich auch ein veränderter Arbeitsbegriff notwendig. Das enge, erwerbsförmige Verständnis von Arbeit müsste dabei durch einen erweiterten, bezahlungsunabhängigen Arbeitsbegriff ersetzt werden. Kindererziehung sowie häusliche Alten- und Krankenpflege würden dadurch endlich jene Anerkennung erfahren, die sie angesichts ihrer zentralen Bedeutung für die Gesellschaft verdienen.

Aktivitäten, die im Sinne von solidarischem Handeln oder von mehr Nachhaltigkeit wünschenswert sind, müssten dabei auch entsprechend gefördert werden. Beispiele hierfür sind etwa die im Freundeskreis organisierte Kinderbetreuung oder die ‚repair cafés‘, die sich mit ihrer Bemühung um die Reparatur oder Wiederverwertung funktionsuntüchtiger Produkte der Obsoleszenz widersetzen.

In einer monetär strukturierten Gesellschaft wäre es freilich unerlässlich, dass eine solche Erweiterung des Arbeitsbegriffs auch auf materieller Ebene ihren Niederschlag fände. Dafür müsste der bisherige paternalistische Sozialhilfe-Ansatz, der die Erwerbslosen zu Bettlern degradiert bzw. sie – im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung – unter den Generalverdacht der Arbeitsverweigerung stellt und sie in erzieherische Zwangsmaßnahmen drängt, zugunsten eines die kreative Eigeninitiative der Einzelnen unterstützenden Konzeptes überwunden werden. Vorstellbar wäre etwa, dass ergänzend zu einem die Grundbedürfnisse abdeckenden Grundeinkommen ein Anrecht auf Bonuszahlungen für Formen bürgerschaftlichen Engagements erworben werden könnte. Die Finanzierung könnte dabei über eine zusätzliche Besteuerung hoher Einkommen erfolgen.

  1. Veränderter Bildungsbegriff. Notwendig wäre ferner eine Neuausrichtung der schulischen Bildung, die sowohl in ihrer äußeren Struktur (längeres gemeinsames Lernen, Abschaffung der Notengebung, Förderung von Gemeinschaftsprojekten) als auch auf der inhaltlichen Ebene (z.B. Krankenpflege als Unterrichtsfach, Praktika im pflegerischen und erzieherischen Bereich) sozialer ausgerichtet sein müsste. Daneben müsste Nachhaltigkeit im oben beschriebenen Sinne natürlich in allen Fächern ein zentraler Orientierungspunkt des Unterrichts sein – nicht im Sinne einzelner Themen, sondern im Sinne einer Haltung, die allen Unterrichtsgegenständen zugrundeliegt.

„Glück“ als Staatsziel?

Ein Staat, der sich von einem auf äußerem, materiellem Wachstum beruhenden Bruttonationaleinkommen als zentraler Kennziffer für nationalen Wohlstand verabschieden und sich stattdessen am Beispiel des bhutanischen „Bruttonationalglücks“ orientieren würde, sähe sich dabei allerdings einer sehr grundsätzlichen Frage gegenüber: Was ist „Glück“? Und: Darf der Staat diese Frage überhaupt stellen? Ist dies nicht ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre der Menschen, der erste Schritt hin zu einem totalitären Staat?

Schauen wir uns hierfür noch einmal das Beispiel Bhutan an. Dort bekennt man sich laut Karma Ura zwar dazu, die Ermöglichung von Glück „als eine vorrangige Aufgabe staatlichen Handelns“ anzusehen. Während in den westlichen Ländern das Glück „eher als eine persönliche Angelegenheit“ betrachtet werde, als „mögliches Nebenprodukt“, das sich aus dem „hohe[n] Niveau an materiellen Gütern und an Konsum“ ergebe, gehe man in Bhutan den umgekehrten Weg und frage zunächst danach, welche Bedingungen erfüllt sein müssten, um das Glück der Menschen zu gewährleisten. Da man davon ausgehe, dass „Wohlfahrt nicht nur von materiellen Gütern, sondern auch von (…) spirituellem und emotionalem Wohlsein“ abhänge, ergebe sich aus dem Leitbild des Bruttonationalglücks das allgemeine Ziel, „äußere und mentale Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, die dem entgegenstehen“ (alle Zitate aus Karma Ura 2010, S. 5 f.).

Auf der Ebene der „äußere[n] Hindernisse“ werden in der Verfassung von Bhutan konkret die Bereiche der Gesundheit, der Bildung und des sozialen Friedens genannt. Hier sollen durch eine kostenlose Gesundheitsversorgung, eine allgemeine Schulbildung für alle bis zur 10. Klasse und die Verhinderung zu großer Einkommensunterschiede Hemmnisse für die Verwirklichung von Glück beseitigt werden (vgl. Pfaff 2011, S. 19). Das Verständnis der „mentale[n] Hindernisse“ und der Wege zu ihrer Überwindung ergibt sich aus der Tradition der buddhistischen Philosophie, mit der die Kultur Bhutans eng verbunden ist.

Wie man sieht, bleibt die Definition dessen, was unter „Glück“ zu verstehen sei, in der bhutanischen Verfassung absichtlich vage. Keinesfalls beansprucht der Staat, den Einzelnen vorzuschreiben, auf welchem Weg sie glücklich werden sollen. Er erlegt sich allerdings selbst die Pflicht auf, Hürden zu beseitigen, die ihnen bei der Verwirklichung ihrer je individuellen Glücksvorstellungen im Wege stehen könnten.

Damit erweist sich das Staatsverständnis, das sich aus dem bhutanischen Bruttonationalglück ergibt, als diametraler Gegensatz zum Selbstverständnis eines Staates, der sich am Bruttonationaleinkommen bzw. Bruttoinlandsprodukt und an der hierfür konstitutiven Wachstumswirtschaft orientiert. Gerade indem ein solcher Staat das Glück als Privatsache der Menschen betrachtet, die ihn nichts angeht, erschwert er im Endeffekt dessen Realisierung. Denn die Wachstumswirtschaft zwingt die Einzelnen, wie oben dargelegt, in eine Spirale aus entfremdeter Arbeit und kompensatorischem Konsum, die das genaue Gegenteil optimaler Voraussetzungen für das Erreichen individuellen Glücks darstellt. Ihre Überwindung ist daher nicht nur in ökologischer Hinsicht, sondern auch im Interesse der Ermöglichung eines glücklicheren Lebens der einzelnen Menschen erstrebenswert.

Literatur

Giegold, Sven: Der Green New Deal – Der grüne Pakt mit dem Monster. In: Politische Ökologie 17 (2009), H. 118, S. 42 – 44.

Hänggi, Marcel: Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt. Zürich 2008: Rotpunktverlag.

Karma Ura: Die Entwicklungsstory von Bhutan. In: Fremuth, Michael L. / Kulessa, Manfred / Weiler Thomas (Hgg.): Glückseligkeit des Drachens – die Philosophie des Glücks in Bhutan und anderswo (Seminarreihe der Deutschen Bhutan Himalaya Gesellschaft), S. 5 – 11. Bonn 2010: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Landesverband Nordrhein-Westfalen.

Layard, Richard: Die glückliche Gesellschaft. Kurswechsel für Politik und Wirtschaft. Frankfurt/Main und New York 2005: Campus.

Linz, Manfred: Weder Mangel noch Übermaß. Über Suffizienz und Suffizienzforschung. Wuppertal 2014: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (Wuppertal Papers Nr. 145).

Mazar, Nina / Zhong, Chen-Bo: Do Green Products Make Us Better People? In: Psychological Science 21 (2010), S. 494 – 498.

Meadows, Donella / Meadows, Dennis / Randers, Jørgen / Behrens, William W.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972: Deutsche Verlags-Anstalt.

Meadows, Donella / Meadows, Dennis / Randers, Jørgen: Die neuen Grenzen des Wachstums. Die Lage der Menschheit: Bedrohung und Zukunftschancen. Stuttgart 1992: Deutsche Verlags-Anstalt.

Dies.: Limits to Growth: Grenzen des Wachstums. Das 30-Jahre-Update. Signal zum Kurswechsel (engl. 2004). Stuttgart 2006: Hirzel.

Paech, Niko: Vom grünen Wachstumsmythos zur Postwachstumsökonomie. Warum weiteres wirtschaftliches Wachstum keine zukunftsfähige Option ist. In: Woynowski u.a., S. 2 – 11 (= Paech 2012a).

Ders.: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München 2012b: Oekom.

Pfaff, Tobias: Das Bruttonationalglück aus ordnungspolitischer Sicht – eine Analyse des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems von Bhutan. Rat für sozial- und WirtschaftsDaten, Working Paper Series, Nr. 182, Juli 2011.

 

Bild: Banana Republic: Buddhakopf in einem Park in Thailand (fotolia)

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