Musikalische Sommerreise 2019

Nordische Musikkulturen

Präludium

Die skandinavischen Länder habe ich bei meinen Musikreisen bislang recht stiefmütterlich behandelt. Dafür gibt es zwei Gründe. Einer davon ist persönlicher Natur: Die romanischen und teilweise auch die slawischen Sprachen sind mir schlicht näher. Es gelingt mir hier besser, die Texte zu verstehen, so dass ich auch authentischere Übersetzungen der Songtexte anfertigen kann. Bei Texten aus anderen Sprachen bin ich dagegen auf Übersetzungen in Sprachen angewiesen, die ich verstehe. Meine eigenen Übertragungen ins Deutsche sind in diesem Fall also gewissermaßen nur Übersetzungen aus zweiter Hand.

Der zweite Grund dafür, dass Lieder aus skandinavischen Ländern bei den Musikreisen bislang unterrepräsentiert sind, hängt mit der Natur dieser Reisen zusammen. Denn ich habe ausdrücklich deshalb angefangen, diese zu unternehmen, weil ich Liedern und musikalischen Ansätzen abseits des Mainstreams zu ein klein wenig mehr Aufmerksamkeit verhelfen wollte. Und da sind die skandinavischen Länder eben nicht gerade die erste Anlaufstelle.

Dies kann durchaus auch als Kompliment verstanden werden. Pop- und Rockgruppen wie A-ha aus Norwegen, HIM aus Finnland und natürlich die schwedische Legende Abba haben die nordischen Länder dermaßen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, dass diese zu anerkannten Hotspots der globalen Musikkultur geworden sind. So etwas zu erreichen, ist angesichts der vergleichsweise kleinen Bevölkerungszahlen dort gar nicht so leicht. Man muss schon sehr professionell arbeiten und ein feines Gespür für weltweite Trends haben, um regelmäßig den Musikgeschmack so vieler Menschen zu treffen. Hinzu kommt noch das perfekte Englisch, das viele KünstlerInnen im hohen Norden sprechen. Selbst für britische Musikliebhaber ist oft wohl nicht gleich zu erkennen, dass hier keine englischen Muttersprachler singen.

Andererseits hat die feste Verankerung skandinavischer Bands in der internationalen Musikszene eben zur Folge, dass im hohen Norden weniger verborgene Schätze zu heben sind als in anderen Ländern. Dachte ich zumindest bislang. Nachdem ich jetzt noch einmal genauer hingeschaut habe, muss ich meine Meinung allerdings zum Teil revidieren.

Dies betrifft zunächst Songs, die zwar das Potenzial zum Welterfolg haben, aber dennoch nicht in aller Munde (bzw. Ohren) sind. So haben etwa Madrugada oder Maria Solheim aus Norwegen eine große Fangemeinde und geben auch im Ausland gefeierte Konzerte. Die Klickzahlen der einzelnen Songs überschreiten aber dennoch nicht unbedingt die Millionengrenze, und auch bei Radiostationen und Streamingportalen stehen sie nicht gerade auf Platz 1 der Lieblingslisten oder meistgespielten Hits. Hier gibt es für manch einen (zum Beispiel den Rothen Baron) also durchaus noch etwas zu entdecken.

Daneben blitzen auch in Skandinavien immer mal wieder One-Hit-Wonder auf, deren kurzes Leuchten nicht über das engere heimische Umfeld hinausreicht. Ein kurioser Fall ist etwa die schwedische Band Lädret, die vorletztes Jahr mit einem Videoclip an die Öffentlichkeit getreten ist, die Identität der Bandmitglieder jedoch geheim hielt. In Schweden wurde daraufhin eifrig über die mögliche verkappte Reunion einer bekannten Band diskutiert – wobei am häufigsten der Name „Kent“ fiel. Außerhalb von Schweden machte die Band jedoch kaum Furore, obwohl die Melodien der Songs durchaus sehr eingängig sind.

Schließlich gibt es aber auch in den nordischen Ländern spezielle Musikkulturen, die eher auf den einheimischen Markt bezogen sind. Die Texte sind dabei zumindest nicht durchgehend auf Englisch, sondern teilweise auch in der Muttersprache der SängerInnen verfasst. Dabei werden entweder heimische Legenden und Sagas thematisiert, oder es wird explizit der meditativen Stimmung der langen Winterabende Raum gegeben. Dadurch haben manche dieser Songtexte deutlich mehr Tiefgang als die Produkte der skandinavischen Hitindustrie.

Auch die Musik weist in diesen Fällen häufig eine größere Komplexität auf. Sie ist zudem weniger computeroptimiert und setzt stattdessen stärker auf die – oft unkonventionelle – Nutzung traditioneller Instrumente und die Kunst der musikalischen Improvisation. Dies gilt gerade auch für die insularen Musikreiche des hohen Nordens – Island, die Färöer Inseln und Grönland –, die eine äußerst produktive Musikszene aufweisen. Offenbar sind die großstadtferne Stille und die Dunkelheit des Winters ein besserer Nährboden für künstlerische Kreativität, als die umtriebigen Kulturjunkies der großen Metropolen es sich vorstellen können.

Eben diese speziellen nordischen Musikkulturen sind es, auf die ich bei meiner diesjährigen Musikreise den Fokus legen möchte. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich mich vom Epizentrum der europäischen Popmusik – Schweden – allmählich in Richtung der Polarregionen vortasten werde. So wird mich meine Reise von Schweden aus über Dänemark, wo ich in See stechen werde, zu den musikalischen Inselkulturen der Färöer, Islands und Grönlands führen. Von dort aus werde ich zurück nach Skandinavien tuckern und mich abschließend in der Musikszene Norwegens und Finnlands umhören.

Buchtipp zur Vertiefung:

Andersson, Greger (Hg.): Musikgeschichte Nordeuropas. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden. Stuttgart und Weimar 2001: Metzler (schwedische Originalausgabe Musik i Norden, Stockholm 1997).

Madrugada: Majesty

aus: Grit (2002)

Liedtext

Maria Solheim: Too many days

aus: Frail (2004)

Liedtext

Lädret: Nittonhundranittiofem (1995)

Zur Diskussion über die Identität der Band Lädret vgl. mittsommernachtsspitzen.de (Post von Sandra vom 30. Oktober 2017)

Bildnachweis: Heiko Behn: Fjord (pixabay)

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