Grönländische Musik: Träume, Trost und Therapie

Nordische Musikkulturen: Musikalische Sommerreise 2019, 5. Etappe

Grönland: 56.000 Menschen, die auf einer Fläche von der sechsfachen Größe Deutschlands leben. Und da soll es eine lebendige Musikkultur geben? Aber ja doch! Gerade in Grönland gibt es eine ganze Menge musikalische Schätze zu heben. Gerade hier, abseits der großen Musikzentren, gibt es Raum für die Entwicklung eigener Musikstile.

Grönländische Musik – Träume, Trost und Therapie.pdf

INHALT: 

Auf nach Grönland! (?)
Die grönländische Musikkultur
Musik als Trost und Therapie
Links
Songs mit Übersetzungen
Ole Kristiansen: Zoo inuillu
Nanook: Kisimiinneq
Nive Nielsen & The Deer Children: Good for you
Weitere Songs

Auf nach Grönland! (?)

Platzangst? Dichtestress? Dann nix wie ab nach Grönland! Denn Grönland ist zwar eine Insel – aber es handelt sich dabei um die größte Insel der Welt. Die von ihr eingenommene Fläche übertrifft die Deutschlands ungefähr um das Sechsfache. Die Bevölkerungszahl entspricht mit etwa 56.000 Menschen jedoch der einer Kleinstadt.

David Mark Polarfuchs 1758183_1920Platz ohne Ende, unberührte Landschaften, wo der Blick bis zum Horizont schweifen, sich im makellosen Blaul des Himmels verlieren und ungestört übers Meer gleiten kann … Warum wohnen da so wenige Menschen? Ganz einfach: Weil Grönland nicht nur sehr groß ist, sondern auch sehr kalt und für viele Mo­nate im Jahr sehr dunkel. Außerdem ist der größte Teil der Insel von einem bis zu 3.400 Meter dicken Eispanzer überzogen – dem zweitmächtigsten nach der Antarktis. Besiedelt ist die Insel daher nur an den eisfreien Stellen an der Küste – deren Fläche die Deutschlands allerdings immer noch um mehr als 50.000 Quadratkilometer übertrifft.

Jetzt, im Hochsommer, mag die Vorstellung großer Kälte nicht sehr abschre­ckend wirken. Wenn aber erst einmal der arktische Winter anbricht und alles in eisige Finsternis hüllt, sieht die Sache schon anders aus. Auch für die Men­schen, die dauerhaft auf Grönland leben, ist das nicht immer leicht zu ertragen. Berichte über eine hohe Selbstmordrate, Alkoholismus, häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch zeugen davon, dass die äußere Dunkelheit bei nicht we­nigen auch zu einer inneren Verdüsterung führt.

Diese Tendenzen scheinen dadurch verstärkt zu werden, dass die einheimische Inuit-Kultur schon seit längerer Zeit zivilisatorischen Einflüssen ausgesetzt ist, die Riten und Traditionen für einen kompensatorischen Umgang mit den widri­gen Umweltbedingungen bedrohen. So profitiert Grönland zwar einerseits von den modernen Errungenschaften auf den Gebieten der Medizin, des Verkehrs oder der Kommunikation. Auch existiert in der Hauptstadt Nuuk eine eigene kleine Universität, die als geistiges Zentrum wichtige Impulse für die Diskussio­nen über das nationale Selbstverständnis und die Zukunft der Insel geben kann. Dennoch scheint das Leben im Spannungsfeld traditioneller Inuit-Kultur und moderner High-Speed-Gesellschaft einer inneren Zerrissenheit Vorschub zu leisten, die eine hohe Hürde auf dem Weg zu einem erfüllten Leben darstellt und sich zerstörerisch auf das Sozialleben auswirkt.

Die grönländische Musikkultur

Der Musik kam in der grönländischen Kultur schon immer eine wichtige Funk­tion zu. In der traditionellen Inuit-Kultur bezog sich dies insbesondere auf spe­zielle Formen des Trommelns. Dabei ging es einerseits um den gemeinsamen Tanz, andererseits aber auch um das rituelle Ausfechten von Streitigkeiten. Durch europäische Seefahrer kamen die Einheimischen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zudem mit Formen der Spielmannsmusik in Kontakt. Auf deren Grundlage entstand die „Kalattuut“ genannte grönländische Polka, für die Har­monika und Violinen stilprägend sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in Grönland dann eine eigene moderne Musikkultur, bei der traditionelle Folk-Klänge mit Rock-Elementen und Gitarrenmelodien im Stil der Singer-Songwriter vermischt wurden. Schon allein dies stärkte das Selbstvertrauen der Einheimischen, die so für alle sicht- undJonny Carstensen Grönland nature-1180961_1920 hörbar ihr eigenes kulturelles Potenzial zum Ausdruck bringen und sich auch international Gehör verschaffen konnten. Hinzu kam, dass nun erstmals auch in der eigenen Sprache gesungen wurde – einer Variante des auch von anderen Inuit gesprochenen Inuktitut. Dies festigte das Bewusstsein für die kul­turelle Identität und ging mit einer vermehrten Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln einher.

Auch heute noch werden die Songs grönländischer LiedermacherInnen – wie etwa die der Singer-Songwriterin und Schauspielerin Kimmernaq Kjeldsen – als wichtiger Beitrag zur Sprachpflege verstanden. Manche singen mittlerweile al­lerdings zumindest teilweise auch auf Englisch, weil sie so in der internationa­len, anglophonen Musikszene eher wahrgenommen werden.

In engem Zusammenhang mit der Besinnung auf die eigene Sprache und Kultur stand auch das zunehmende politische Engagement, das seit den 1970er Jahren vermehrt in den Liedtexten zum Ausdruck kam. Immer häufiger artikulierten diese nun die Eigenständigkeit Grönlands und den Wunsch nach Unabhängig­keit von der dänischen Oberhoheit. So können etwa die Songs von Bands wie Sumé, Zikaza oder Piitsukkut als Reaktion auf die Assimilierungspolitik verstan­den werden, die Dänemark noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grönland betrieben hat. Das programmatische Lied Kalaaliuvunga („Ich bin Grönländer“) von Sumé unterstreicht den Autonomieanspruch dabei auch musi­kalisch durch die Integration der traditionellen grönländischen Trommel­klänge in den Song.

Die Musik war damit ein wichtiger Baustein im Rahmen der grönländischen Identitätsbildung. Sie trug mit dazu bei, dass die Insel 1979 ein Autonomiesta­tut in Anlehnung an die Selbstverwaltungsrechte der Färöer erhielt, das im Jahr 2009 noch einmal erweitert wurde. Heute scheint sogar die völlige Unabhän­gigkeit Grönlands keine Utopie mehr zu sein.

Der Wunsch nach einer solchen Unabhängigkeit ist zwar angesichts der kultu­rellen wie geographischen Distanz Grönlands zu Dänemark – die Insel ist Ka­nada vorgelagert und gehört geographisch zu Nordamerika – verständlich. Fraglich war bislang jedoch stets, ob Grönland als eigenständiger Staat überle­bensfähig wäre. Durch den Klimawandel werden die Karten nun jedoch neu gemischt. Denn dieser wird die unter dem Eis lagernden Rohstoffe langfristig besser zugänglich machen. Inwieweit die Welt sich deren Förderung wünschen soll, steht auf einem anderen Blatt – denn der Rohstoffabbau wäre kaum ohne negative Folgen für die Umwelt denkbar und könnte zudem den Klimawandel in einem sich selbst verstärkenden Prozess weiter antreiben.

Musik als Trost und Therapie

Robynm arctic-415209_1920Neben der identitätsstiftenden kommt der grönländischen Musik auch eine kompensatorische Funktion zu. Manche Lieder feiern die Schönheit der Heimat und spenden so Trost in den düster-kalten Monaten, wenn diese Schönheit recht gut verborgen ist. So kontrastiert etwa Ole Kristiansen in Zoo inuillu („Der Menschenzoo“) das Leben in der labyrinthischen Stadt, in der die Menschen wie in einem Gefängnis vor sich hin vegetieren, mit dem freien Leben in den Weiten der Natur. Auch die Band Sumé hat neben ihren politisch engagierten Songs Lieder mit naturlyrischen Texten veröffentlicht (wie etwa in Ukiaq – „Frühling“).

Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass die Schwierigkeit, mit der langen Abgeschnittenheit von der Welt in den Wintermonaten zurechtzukommen, in den Liedern thematisiert wird. Ein Beispiel dafür ist der Song Kisimiinneq („Ein­samkeit“) von Nanook („Eisbär“), einer der erfolgreichsten Bands Grönlands. Die Band Chilly Friday greift in Sialuit sogar die Selbstmordproblematik auf.

Manche Songs haben auch fast schon einen therapeutischen Charakter. Dies gilt etwa für das Lied Good for you der grönländischen Singer-Songwriterin Nive Nielsen und ihrer Band The Deer Children. Darin wird nicht nur das Problem des Alkoholismus thematisiert, sondern auch das häufige Schweigen darüber in der Familie, das die Suche nach einem Ausweg aus der Sucht und der ihr zugrunde liegenden inneren und äußeren Konflikte so schwierig macht.

Links

Chemnitz, Mia: Grönländische Musikgeschichte, Teil 1 (bis 1945) und Teil 2 (nach 1945); visitgreenland.com

Decker, Susanne / Yahya, Chahrazed: Grönland; planet-wissen.de, 6. August 2018; mit Link zu einem kurzen Info-Film.

Greenlandpopularmusic.com: Übersicht über die bekanntesten grönländischen Bands und Singer-Songwriter; mit Links zu Hörbeispielen (Info-Texte auf Dä­nisch).

Otte, Andreas: The music in Greenland and Greenland in the music. Globaliza­tion and performance of place; greenlandicpopularmusic.com, 2014; mit Links zu zahlreichen Hörbeispielen im Text.

Schmidt, Christian: Schweigen ist Tod. UniSpiegel 3/2016, 21. Mai 2016. [über die schwierigen Lebensbedingungen junger Menschen auf Grönland]

Stettin, Isabell: Nördlichstes Heim der Welt: Grönlands verlassene Kinder. Berli­ner Zeitung, 25. April 2018.

Songs mit Übersetzungen

Ole Kristiansen: Zoo inuillu

aus: Isimiit Iikkamut (1988):

Lyric Video (Grönländisch-Englisch)

Freie Übertragung:

Der Menschenzoo

Gefangen in einer Stadt,
renne ich die Straßen entlang
unter Menschen, die wie Zombies
zwischen den Mauern umherirren.
So sieht es aus

im Menschenzoo,
im Menschenzoo.

Die Vögel ergreifen die Flucht,
sie beneiden uns nicht,
sie schauen einfach zu,
beobachten mich und die anderen

im Menschenzoo,
im Menschenzoo.

Deine Stadt mag groß sein,
aber draußen in der Natur
gibt es viel mehr Platz
und Luft zum Atmen.

Eine blumenbestickte Ebene
erstreckt sich direkt
vor den Toren deiner Stadt –
sieh nur hin!

Die Weite öffnet sich vor meinen Augen,
mich ruft das freie Land.
Ich möchte die Stadt verlassen,
suchend renne ich die Straßen entlang.

Doch leider finde ich keinen Weg hinaus.
Ich bin ganz auf mich allein gestellt,
verloren zwischen den Mauern der Stadt.
So sieht es aus

im Menschenzoo,
im Menschenzoo.

Deine Stadt mag groß sein, …

Nanook: Kisimiinneq

aus: Seqinitta Qinngorpaatit (Unsere Sonne scheint auf euch; 2009)

Liedtext (mit englischer und spanischer Übersetzung)

Übersetzung:
 
Einsamkeit

Die leere Straße …
Es ist, als wäre das Leben verstummt.
Alles wird beherrscht vom Heulen des Sturms,
der auch mir Tränen in die Augen treibt.

Manchmal ist es unerträglich, allein zu sein.
Ein fernes Kreuz
lässt meinen Geist auf Reisen gehen.

Die Geister meiner Träume sind immer um mich.
Bald werde ich besiegt sein
von all den Bildern, die mir Tränen in die Augen treiben.

Manchmal ist es unerträglich, allein zu sein.

Nive Nielsen & The Deer Children: Good for you

aus: Nive sings (2009)

Unplugged im WDR-Rockpalast (2012)

Liedtext

Übersetzung:

Gut für dich

Du hast die Drinks unter deinem Hemd versteckt
und dich draußen zum Rauchen herumgedrückt.
Wie wäre es, wenn du diese Seite deiner Mutter zeigen würdest?
Wäre das nicht gut für dich?
Für dich und die anderen?

„Ich war mir sicher, dass du mich nicht finden würdest,
wenn ich mein Versteckspiel aufgebe.“

Du hast Herzen gebrochen, aber niemand ist verletzt.
Deine Maske der Stärke war nie dick genug.
Kannst du nicht den Mut fassen, dich um dich selbst zu kümmern?
Wäre das nicht gut für uns?
Für uns und die anderen?

„Ich bin mir sicher, dass ich dich finden werde,
wenn du dein Versteckspiel aufgibst.“

Wäre das nicht gut für dich?
Für dich und die anderen?
Wäre das nicht gut für uns?
Für uns und die anderen?

Weitere Songs

Sumé: Kalaaliuvunga („Ich bin Grönländer“; 1976)

Sumé: Ukiaq („Frühling“; 1973); Liedtext mit englischer Übersetzung

Chilly Friday: Sialuit („Regen“; 2001; Videoclip)

Bilder: Pixabay: Titelbild: Quinn Kampschroer: Grönland; 1. Davis Mark: Polarfuchs; 2. Jonny Carstensen: Grönland 3. Robynm: Eisberg

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