Der Ossi als Freiheitskünstler

Ein unzeitgemäßes Loblied auf die Alltagskultur in der DDR

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INHALT:

Rechtsextremismus – ein ostdeutsches Phänomen?
Faschismus in Ost und West
Innere Freiheit als Folge äußerer Unfreiheit
Mangelwirtschaft und Improvisationskunst
Materielle Unfreiheit und Freiheit vom Materiellen
Zensur und geistiger Hunger
Äußere Uniformität und private Offenheit
Reiseunfreiheit und die Freiheit des Reisenden
Heutige Bedeutung der „Ost-Sozialisation“

Rechtsextremismus – ein ostdeutsches Phänomen?

Anlässlich der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg wird nun wieder viel über den Ossi und die AfD philosophiert. Vieles von dem, was dabei diskutiert wird, ist in der Tat bedenkenswert. Es stimmt, dass sich die DDR – als selbst ernannter sozialistischer Staat – nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Seite der Sieger identifiziert und sich deshalb weit weniger der Aufarbeitung der Vergangenheit gewidmet hat, als das in Westdeutschland der Fall war.

Ebenfalls nicht zu leugnen ist, dass die Wiedervereinigung in der Form eines „Anschlusses“ der DDR an die Bundesrepublik vollzogen worden ist – mit der Folge, dass viele Menschen in Ostdeutschland sich mit ihrer eigenen Kultur und Gesellschaft herabgewürdigt sahen und das neue Gesellschaftssystem als eine Form von Fremdherrschaft empfanden. Diese Überfremdungsgefühle werden heute von skrupellosen Politikern vom rechten Rand für das eigene Machtstreben instrumentalisiert, indem das Entfremdungsempfinden auf Ausländer übertragen wird – deren Ausgrenzung und Abschiebung so als Allheilmittel erscheint.

Faschismus in Ost und West

So stimmig diese Analysen auch sind – sie ergeben doch ein schiefes Bild. Der Grund dafür ist zunächst, dass das wohlfeile Ossi-Bashing den Westen implizit von allen faschistoiden Tendenzen freispricht. Es ist aber keineswegs so, dass der Faschismus nur im Osten neue Wurzeln geschlagen hätte. Die modernen faschistoiden Bewegungen werden vielmehr von transnational organisierten rechtsextremen Netzwerken gesteuert, die sich lokale Stimmungslagen lediglich für ihre Zwecke zunutze machen.

Außerdem gibt es durchaus auch im Westen starke faschistoide Tendenzen. Sie äußern sich nur anders als in Ostdeutschland. In der alten Bundesrepublik ist man so sozialisiert worden, dass bestimmte Reizworte aus dem nationalsozialistischen Jargon instinktiv gemieden werden. Man spricht dort nicht von „fremdrassigen“ Menschen oder von einer Bedrohung des „deutschen Volkstums“. Das hindert einen aber nicht daran, entsprechend zu handeln – bis hin zur billigenden Inkaufnahme des Ertrinkens Tausender Flüchtlinge im Mittelmeer und zur Tod bringenden Abschiebung von Asylbewerbern in Krisenländer, die per Ministeriumserlass für sicher erklärt werden.

Auch diese Handlungsweisen gehen von dem Gedanken eines „Untermenschentums“ aus, für das andere Maßstäbe gelten als für den arischen Übermenschen. Nur wird das eben nicht so offen ausgesprochen, sondern mit einem neumodisch-technokratischen Sicherheitsjargon kaschiert. Und statt der AfD wählen die meisten (noch) lieber die CDU/CSU, deren Parteistrategen längst auf den von der AfD angeschobenen Ausländer-Raus-Zug aufgesprungen sind.

In Ostdeutschland dagegen bestehen derartige Hemmschwellen nicht. Die Bindung an die CDU, die man als „Blockflöten-Partei“ kannte, war dort nie so eng wie in Westdeutschland, wo die Christdemokraten jahrzehntelang als staatstragende Volkspartei fungierten. Auch der Nazi-Jargon ist längst nicht so verfemt wie in den „alten Ländern“. Mitunter wirkt es fast so, als würde er ganz gezielt eingesetzt, um sich an der dann einsetzenden Schnappatmung westdeutscher Politiker zu weiden.

So erinnert der ostdeutsche Rechtsextremismus ein wenig an pubertäre Auflehnung. Er ist deshalb nicht weniger gefährlich als die westdeutsche Variante. Dennoch ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu berücksichtigen, wenn man angemessen mit dem Phänomen umgehen möchte. Oberlehrerhaftes Besserwessitum dürfte dafür jedenfalls kaum ein erfolgversprechender Ansatz sein.

Innere Freiheit als Folge äußerer Unfreiheit

Das reflexhafte Assoziieren von „Ossi“ und „AfD“ führt jedoch noch aus einem anderen Grund in die Irre. Denn auf diese Weise entsteht der Eindruck, der gesamte Osten würde aus ewig gestrigen braunen Horden bestehen. Indem dies dann noch einseitig als geistiges Erbe der untergegangenen DDR dargestellt wird, wiederholt man den Fehler, der schon bei der Wiedervereinigung begangen worden ist: Man wertet die Vergangenheit der in der DDR aufgewachsenen Menschen als Ganzes ab. Die Frage, ob diese Vergangenheit auch positive Entwicklungen gezeitigt hat, wird von vornherein als abwegig abgetan.

Natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Ein Staat, der die Menschen in ein riesiges Freiluftgefängnis gesperrt hat. Ein Staat, der in seinen Bürgern nur potenzielle Spitzel oder Regimegegner sah. Ein Staat, der die Heuchelei zum moralischen Prinzip erklärte, indem gerade diejenigen am offiziell verachteten westlichen Materialismus teilhaben durften, die sich nach außen hin zur realsozialistischen Staatsdoktrin bekannten.

Es geht also nicht darum, irgendetwas zu verklären, was diesen Unrechtsstaat am Lebenddr erhalten hat. Das Leben in der DDR hat sich jedoch nicht in den Strukturen erschöpft, die dieses Herrschaftssystem getragen haben. Die Alltagskultur war für viele Menschen vielmehr von der Frage geprägt, wie sie sich trotz der unterdrückerischen Strukturen ein Mindestmaß an Freiheit bewahren könnten. Ihre tatsächliche Lebenspraxis ging folglich keineswegs in diesen Strukturen auf. Hinter der realsozialistischen Fassade entfaltete sich ein ganzes Kaleidoskop von unkonventionellen Lebensformen, die in ihrem Freiheitswillen teilweise weit über den konformistischen Alltag in der westdeutschen Erwerbsgesellschaft hinausgingen.

Das positive geistige Erbe, das die DDR ihren Bürgern hinterlassen hat, hat sich demnach gerade aus deren Widerstandswillen gegen ein System ergeben, das die Freiheit der Persönlichkeit in der Uniformität des realsozialistischen Menschen aufgehen lassen wollte. Um das einseitige Bild vom „AfD-Ossi“ zurechtzurücken, möchte ich deshalb hier ein paar Elemente dieser Alltagskultur, die sich aus dem Kampf um die verbotenen Früchte der Freiheit entwickelt hat, herausstellen.

Mangelwirtschaft und Improvisationskunst

Die materialistischen westlichen Gesellschaften legen nahe, dass das Individuum sich über Statussymbole definiert. Beruflicher Erfolg und gesellschaftlicher Einfluss spiegeln sich in teuren Autos, überdimensionierten Villen und Markenkleidung wider.

In der DDR haben viele Menschen sich zwar durchaus auch nach derartigen Luxusgütern gesehnt. In der systemimmanenten Mangelwirtschaft waren die entsprechenden Bedürfnisse jedoch nur für die Wenigsten zu befriedigen. Der Alltag der allermeisten Menschen war von der Notwendigkeit geprägt, mit der aufgezwungenen Luxus-Diät zurechtzukommen.

trabi-Zelt www.trabant-dachzelt.deDaraus hat sich zunächst ein ausgesprochenes Improvisationstalent entwickelt. Dies bezieht sich zum einen auf die Fähigkeit, aus Wenigem viel zu machen, also etwa aus Datscha-Gemüse und Johannisbeernektar mit Quellwasser ein schmackhaftes Gastmahl zu zaubern oder den chronisch reparaturbedürftigen Trabbi durch phantasievolle Verwendung autofremder Ersatzteile wieder in Gang zu bringen.

Zum anderen hat die Gabe der Improvisation aber auch allgemein auf den zwischenmenschlichen Bereich abgefärbt. Besuche mussten nicht unbedingt angekündigt oder gar Wochen zuvor im Terminkalender vermerkt werden. Auch hier ist aus dem Schlechten etwas Gutes entstanden. Denn wer immer fürchten muss, dass irgendwo ein Stasi-Spitzel mithört, wird das Telefon lieber meiden und den Denunzianten durch eine größere Spontaneität weniger Gelegenheit geben, unerwünschte Zusammenkünfte zu melden.

Materielle Unfreiheit und Freiheit vom Materiellen

Die Mangelwirtschaft hat im Alltag darüber hinaus auch zu einer größeren Bereitschaft geführt, Dinge miteinander zu teilen. Da nicht jeder alles besaß, war es für alle von Vorteil, Geräte untereinander zu verleihen – eine Haltung, die heute unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit gezielt gefördert wird. Und wer in eine andere Stadt reiste, konnte eben nicht ohne weiteres davon ausgehen, dort eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Vielfach war man darauf angewiesen, bei Freunden oder Bekannten übernachten zu können.

In der Summe hat das zu einer größeren Nähe untereinander geführt. Wer seine Freiheit gegen den übermächtigen Staat behaupten wollte, konnte dies nur gemeinsam mit anderen erreichen. Anstatt materielle Güter als Ich-Panzer zu verwenden und sich mit ihnen gegen andere abzugrenzen, wurden diese ganz selbstverständlich mit anderen geteilt.

Bei westlich sozialisierten Menschen löst die Aufhebung solcher Besitzgrenzen in der Regel Unruhe aus. Ein entsprechendes Verhalten wird von manchen fast schon als beleidigend empfunden, als Angriff auf die Macht des Ichs, sich seine Welt selbst zusammenzukaufen. Zumindest wird dadurch der Wunsch nach Kompensation und „Revanche“ ausgelöst. Allzu fest ist das kapitalistische Denken in den Köpfen verankert, das für alles Gegebene auch eine Gegengabe verlangt, im Sinne eines Ausgleichs der zwischenmenschlichen Konten.

Solche Probleme konnte man sich in der DDR schlicht nicht leisten. Wer sich sein Minimum an individueller Freiheit bewahren wollte, musste dafür weitgehend darauf verzichten, diese Freiheit über den persönlichen Besitz zu definieren. In der Folge waren viele innerlich vielleicht sogar freier als die beneideten Luxusbrüder im Westen, die sich ihre Freiheit durch die stete Sorge um den materiellen Besitz selbst beschnitten.

Zensur und geistiger Hunger

Das beste Mittel, Menschen dazu zu bewegen, sich mit bestimmten geistigen Inhalten zu beschäftigen, ist – das Verbot dieser Inhalte. Genau dieser Mechanismus war in der DDR – wie auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks – zu beobachten. Die allgegenwärtige Zensur bewirkte das Gegenteil dessen, was eigentlich mit ihr bezweckt war. Die Menschen steckten sich die Bücher unter dem Ladentisch zu, tauschten sie insgeheim aus und diskutierten sie nachts am Küchentisch. Verbotene Früchte haben eben schon immer besonders gut geschmeckt.

Aber auch in dem, was nicht verboten war, wurde stets nach versteckten BotschaftenBuchhandlung am Alexanderplatz in Berlin gesucht, die sich als Kritik am Regime interpretieren ließen. Dies hat dazu geführt, dass auch die Werke der offiziell zugelassenen Autoren viel genauer gelesen wurden, als das unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Die Zumutung, von anderen vorgegeben zu bekommen, was gedacht und was nicht gedacht werden durfte, hatte einen ungeheuren geistigen Hunger und eine gesteigerte Lust am gemeinsamen Philosophieren zur Folge.

Im Westen dagegen war das Gegenteil der Fall. Die Gewissheit, alles lesen und denken zu können, wenn man es nur wollte, führte dazu, dass man sich im Endeffekt lieber von den abendlichen Quiz-Shows berieseln ließ. Gerade die Kultur einer völligen Permissivität spielte einer Bewusstseins-Industrie in die Hände, die die Menschen auf viel wirksamere Weise kontrollierte als der Verbotsstaat der DDR.

Die Tutti-Frutti-Kultur des Privatfernsehens kommt zwar als totales Amüsement daher. Gerade das lustvolle Sich-Einlullen-Lassen von der nichtssagenden Bilderflut ist jedoch der Garant dafür, dass das Bewusstsein auch dann ausgeschaltet bleibt, wenn es darum geht, als entfremdete Arbeitskraft zu funktionieren und diese Entfremdung durch die narzisstische Befriedigung beim samstäglichen Konsumrauch zu kompensieren.

Karl-Eduard-von-Schnitzler-im-Sechserpack_big_teaser_articleIn der DDR dagegen gab es gar keine Möglichkeit, abends im Entertainment-Nebel der Fernsehanimateure zu versinken. Da lockte allabendlich nur die Indoktrinierungsmaschinerie des „Schwarzen Kanals“. Vielen erschien deshalb die geistige Welt der Bücher als reizvollere Alternative. Die Verbotstafeln der Zensurbehörde wirkten dabei wie eine Empfehlungsliste für die geistig Interessierten. In der Summe las man so in der DDR viel gehaltvollere Bücher als im Westen, wo das Publikum sich an den von der Unterhaltungsliteratur bestimmten Bestsellerlisten orientierte.

Äußere Uniformität und private Offenheit

In der westlichen Erwerbsgesellschaft wurde und wird der Beruf stets auch als ein Attribut der Persönlichkeit wahrgenommen. Die Frage danach, was jemand beruflich macht, steht am Anfang der meisten Smalltalks und dient einer ersten Einordnung des Gegenübers. Die Identifizierung mit dem Beruf strahlt zudem auch auf das Privatleben aus, wo der mit dem Beruf verbundene Status gerne ostentativ nach außen gekehrt wird. So bleibt die berufliche Uniform auch abseits der Erwerbstätigkeit unsichtbar am Körper haften.

In der DDR wiesen die Kombinate und Kollektive, denen man zugeteilt wurde, dagegen ein weit geringeres Identifikationspotenzial auf. In der Folge begegnete man sich im Privatleben weit eher von Mensch zu Mensch anstatt auf der Basis der jeweiligen beruflichen Tätigkeiten. Die Gespräche waren dadurch oft persönlicher und auch ehrlicher, unverstellter. Das Ich verschwand nicht hinter der Maske des Status, den ihm sein Beruf verlieh.

Die Fähigkeit, einander offen zu begegnen, statt sich hinter einer sozialen Rolle zu verstecken, war auch mit ein Grund für die Unkompliziertheit, mit der man in der DDR die FKK-Kultur gepflegt hat. Denn diese zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass mit dem Wegfall aller Kleiderhüllen die durch diese markierten sozialTappen Sommervergnügen in Calau DDR 196037990245961_08396bf53b_o.jpgen Unterschiede unsichtbar werden.

Beliebt war die FKK-Kultur daneben wohl vor allem deshalb, weil auch sie zumindest eine Illusion von Freiheit bot. Das freie, unverfälschte Leben, das das Regime seinen Bürgern verweigerte, war hier wenigstens auf der rein körperlichen Ebene möglich. Auf einer Linie hiermit liegt auch die unverkrampftere Einstellung zur Sexualität, die ebenfalls einen willkommenen Ausgleich zu dem Verhaltenskorsett des öffentlichen Lebens darstellte.

Reiseunfreiheit und die Freiheit des Reisenden

Für viele Menschen im ehemaligen Ostblock waren die Datschengärten ein notwendiges Übel. Dort konnte oder musste man das anbauen, was es im Laden nicht oder nicht in ausreichender Menge zu kaufen gab.

Dies galt in der DDR nicht im selben Maße wie in den realsozialistischen Bruderstaaten. Dennoch gab es auch dort eine lebendige Datschenkultur. Schließlich hatte diese neben ihrer Versorgungsfunktion auch eine kompensatorische Bedeutung. Zum einen konnte man in der Datscha jene Individualität ausleben, die einem in den gleichförmigen Plattenbauten verwehrt blieb. Zum anderen war das Datschenleben aber auch unbeschwerter als das Leben in der Stadt. Durch die geringere soziale Kontrolle eröffneten sich hier Freiräume, die es in dieser Form im sozialen Alltag ansonsten nicht gab.

Das allsommerliche Robinson-Spiel „auf der Datsche“ stärkte aber auch den lebendigen Bezug zur Natur. Diese erhielt die Qualität eines Zufluchtsraums, eines Ortes, an dem man sich frei bewegen und seine Träume ausleben konnte.

Daraus ergab sich auch eine Einstellung zum Reisen, die deutlich von der westlicher Menschen abwich. Entscheidend war nicht, durch den Urlaub den eigenen Status unter Beweis zu stellen und an Orte zu reisen, die für andere unerreichbar waren. Auch die Ballermann-Betäubung war nicht das, was man in den Ferien suchte. Das, worum es ging, war vielmehr das Reisen an sich, die Freiheit und Ungebundenheit, die es einen – unabhängig von den faktisch bestehenden Reisebeschränkungen – empfinden ließ.

227Der Camping-Urlaub mochte zwar für viele auch aus pekuniären Gründen alternativlos sein. Zugleich bot er aber auch die Möglichkeit, mit einem „Zurück zur Natur“ wenigstens zeitweilig aus dem Gefängnis des Staates auszubrechen. Damals von den reichen Brüdern und Schwestern im Westen nur müde belächelt, erscheinen die freiheitshungrigen Naturfreunde heute als frühe Trendsetter einer nachhaltigen Form des Reisens, die die Umwelt schont und gleichzeitig für eine lebendige Beziehung zur Natur sorgt.

Heutige Bedeutung der „Ost-Sozialisation“

Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit all diese Elemente einer ostdeutschen Sozialisation heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, noch von Bedeutung sind. Dieselbe Frage stellt sich dann allerdings auch in Bezug auf die faschistoiden Tendenzen in Teilen des heutigen Ostdeutschlands, die immer wieder mit der DDR-Vergangenheit in Verbindung gebracht werden.

Richtig ist: Es lässt sich heute nicht mehr jedes Verhalten eines in Ostdeutschland aufgewachsenen Menschen mit Spezifika der DDR-Gesellschaft erklären. Richtig ist aber auch: Die Sozialisation, die wir einmal durchlaufen haben, steckt uns ein Leben lang im Blut. Insofern ist das geistige Erbe der DDR auch heute noch in vielen Menschen lebendig. Dies gilt selbst dann, wenn sie nur einen Teil ihrer Kindheit unter den Bedingungen einer realsozialistischen Erziehung verbracht haben. Denn ihre Eltern haben ja nicht vom einen auf den anderen Tag ein westdeutsches Denken und Verhalten an den Tag gelegt, nur weil der Anschluss an die Bundesrepublik vollzogen worden war.

Das geistige Erbe der DDR hat jedoch, wie gesagt, viele verschiedene Gesichter. So kann sich auch die Ostalgie gleichermaßen auf den Unrechtsstaat selbst beziehen wie auf die kreativen Formen, mit denen der eigene Freiheitswille gegen das repressive Regime behauptet worden ist. Sich auf diesen phantasievoll ausgelebten Freiheitshunger zu besinnen, kann manchen ostdeutschen AfD-Anhängern vielleicht zu etwas mehr Verständnis für jene verhelfen, die heute aus anderen Unrechtsstaaten zu ihnen fliehen.

Umgekehrt können diejenigen, die den ostdeutschen AfD-Hype zum Anlass nehmen, die Ossi-Verachtung wieder aus der Mottenkiste zu holen, durch den Gedanken an die einstigen Freiheitskünstler womöglich zu einem differenzierteren Blick auf die Verhältnisse in der untergegangenen DDR gelangen. Dies könnte auch den Boden bereiten für eine Überwindung der geistigen Kluft, die ost- und west-sozialisierte Deutsche 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer zu trennen scheint.

Bildnachweise. Titelbild: Hans Michael Tappen: Datsche in der Nähe von Berlin, 1960er Jahre; 1. Bild aus: Heike Zappe: Vergnügen in der DDR: Herausgegeben von Ulrike Häußer und Marcus Merkel, Panama Verlag 2009.; 2. entnommen aus: www. trabant-dachzelt.de;  3.  Buchhandlung in der DDR. © ddrbildarchiv.de/Heinz Schönfeld;  4.Karl-Eduard von Schnitzler-Der schwarze Kanal; 5. Hans Michael Tappen: Sommervergnügen in Calau/DDR, 1960; 6. http://www.trabant-dachzelt.de

 

11 Kommentare

  1. Die Identifikation mit der DDR und einer ihr eigentümlichen Kultur war vor 1989 in wesentlich schwächerem Maße gegeben, als man heute unterstellt. Die DDR-Bürger erwarteten in der Wendezeit, dass ihr Leben so weitergehen würde wie bisher und dass sich nur ihr Lebensstandard erhöhen würde. Die Mehrzahl erlebte dann einen biographischen Bruch sowie starke Zurücksetzungen, Ausgrenzungen und Persönlichkeitsentwertungen. Bis jetzt sind Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, sieht man von prominenten Ausnahmen ab, auf Bundesebene und in den Ostbundesländern vorwiegend mit Westlern besetzt. Die erfahrene Demütigung wirkt in großen Teilen der Bevölkerung heute noch selbst in nachfolgenden Generationen nach, die die DDR überhaupt nicht mehr erlebt haben. Eine Ostidentität, die eine starke Identifikation mit dem Osten umfasst, hat sich erst nach 1989 herausgebildet. Viele Ostler, die die DDR abgelehnt haben, identifizieren sich heute mit dem Osten. Der Rechtsradikalismus beruht auf Ohnmachtserfahrungen. Dabei wird die Aggression Schwacher, die durch dieses Zaubermittel zu Starken werden, gegen noch Schwächere kanalisiert. Man kann das anhand des Ortes Wollin in Brandenburg beobachten, wo weit über 50% der Wähler bei den letzten Kreistagswahlen AfD oder NPD gewählt hat. Die Menschen leben in einem riesigen Cluster von Windfeldern. Sie begründen ihre Wahl jedoch nicht mit der Entwertung ihres Lebensumfeldes, sondern mit der Privilegierung der Migranten, die in diesem Umfeld nicht vorkommen. Ich habe das in einem Blogbeitrag thematisiert: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/08/06/wer-windkraftanlagen-sat-wird-sturmstaffeln-ernten/
    Dieser Beitrag hat mir großen Ärger aus den eigenen Reihen, d. h. der Anti-Windkraft-Bewegung, eingebracht, weil ich „die Menschen in ihrem Zuhause verächtlich und bedauernswert“ gemacht hätte: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/08/06/darf-man-eine-bereits-vollzogene-entwertung-des-landlichen-raums-als-lebensraum-beim-namen-nennen-und-bildet-sie-die-ursache-des-gegenwartigen-rechtsrucks/
    Die Entwertung der Lebensverhältnisse und die Hilf- und Wehrlosigkeit der Menschen im Osten (aber nicht nur da) dürfen nicht thematisiert und dargestellt werden. Es kontrakariert auch den Versuch der Selbstaufwertung durch Rechtsradikalität. Die AfD spricht daher auch taktvoll von dem „kleinen beschaulichen Ort Wollin“, in welchem sie nicht von ungefähr ihren Brandenburger Landtagswahlkampf begonnen hat. Meine These ist, dass der Rechtsradikalismus im Osten nichts mit der DDR-Sozialisierung zu tun hat, sondern aus den Nachwendeerfahrungen und der gegenwärtigen Situation resultiert. Dabei sind die Symbole aus den Dritten Reich nach 1989 sehr schnell recycelt worden. Das Ost-Bashing und die kurzschlüssige historische Erklärung sind sehr bequem, weil sie die aktuelle Politik aus der Schusslinie nehmen.

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      1. Ich habe etwas zu dem Film „Gute Windkraft, böse Windkraft“ geschrieben, in dem der Osten und der Westen ebenfalls kontrastiert werden: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/10/07/windkraftphilosophie-auf-arte-geld-als-einziger-wert/
        Danach habe ich mich an den Beitrag „Der Ossi als Freiheitskünstler“ erinnert. In dem Film sind die Ossis tatsächlich Freiheitskünstler, aber der Filmemacher nimmt dieses Freiheitsstreben nicht ernst, sondern kontrastiert reiche, glückliche und lebenstüchtige Wessis und in jeder Hinsicht arme Ossis.

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      2. Das ist ein Grundproblem: Mit dieser arroganten Westhaltung wird ein Beitrag zur Spaltung geleistet. Es sind die Bildungsbürger in ihren gentrifizierten Stadtteilen, die auch auf die Landbevölkerung mit Verachtung blicken. Ich bin selbst (West-) Berliner, aber vor fast 40 Jahren mit Überzeugung aufs Land gezogen…Mit Abstand betrachtet ist diese selbstgefällige Haltung bestimmter Schichten fast schon unerträglich.

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      3. Ich weiß nicht, ob ich die Antwort an der richtigen Stelle verlinkt habe. Ich möchte auf die Bemerkung mit der „selbstgefälligen Grundhaltung“ antworten. Ich habe Freunde mit Westsozialisation, die zu den Bildungsbürgern in den gentifrizierten Stadtteilen gehören. Sie sind nicht selbstgefällig. Es ist vielmehr so, dass sie ein so festgefügtes Weltbild und so ein unerschütterliches Vertrauen in unsere demokratische Ordnung, in der es ihnen sehr gut geht, haben, dass sie nichts Schlechtes für möglich halten und alles Negative zu relativieren wissen. So ist es für sie kein Problem, dass Menschen auf dem Lande durch den von Windkraftanlagen ausgesandten Infraschall krank gemacht werden und dass geschützte Arten ausgerottet werden. Sie schicken ihre Kinder zu den Fridays for future, obwohl sie selbst einen großen Teil ihres Lebens im Flugzeug und im Auto zubringen und aus beruflichen Gründen auch zubringen müssen, weil sie der Meinung sind, dass die Kinder da demokratisches Verhalten einüben und etwas Aufregendes erleben. Im Gegensatz zu uns Ostmenschen, die ständig auf dem „qui vive?“ sind, sind sie vollkommen unkritisch und übernehmen die linken und grünen Diskurse unbesehen und sicher auch weil sie sich durch eine solche Denkweise in ihrer Lebensart und ihren Privilegien bestätigt fühlen, engagieren sich dabei uneigennützig für sozial Schwächere und für Migranten und denken und handeln immer so, wie es zu ihrem festgefügten Weltbild und ihrer privilegierten Lebensweise passt. Sie sind sehr liebenswürdig und kultiviert und sehr angenehm im Umgang und setzen sich mit anderen Meinungen gerade aufgrund ihrer großen Toleranz inhaltlich nicht auseinander. Den Osten erfassen sie mit sehr vereinfachten Schablonen. Sie praktizieren Lebensart in einer total kaputten Welt.

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      4. Was ich aber überhaupt nicht begreife sind die Journalisten, die gegenwärtig offenbar von selbst die Pressefreiheit abschaffen und die die Medien in Regierungsmedien verwandeln. Sie haben offenbar Lust, die Diktatur herbeizuführen, in der sie sich dann alle möglichen Tricks einfallen lassen müssen, um einmal etwas Kritisches äußern zu dürfen. Es scheint, als ob der Westen der Demokratie müde wäre.
        Die Dichterin und bildende Künstlerin Angelika Janz, die aus dem Westen in den Osten übergesiedelt ist, sieht das offenbar auch so: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/10/09/totungsabwagung/

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