Elf Thesen zum literarischen Realismus

Begleittext zu einem Projekt auf LiteraturPlanet

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Vor einer Woche ist auf LiteraturPlanet ein literarisches Experiment gestartet. In 41 Posts wird der erste Teil von Ilka Hoffmanns Roman Der Schattenhändler als Online-Tagebuch veröffentlicht. Der Roman ist der phantastischen Literatur zuzurechnen, die in unserer vom Realismus dominierten Zeit ein – richtig – Schattendasein führt. Als literaturtheoretischer Rahmen zu der Publikation folgen hier noch einmal – in leicht überarbeiteter Form – die zuerst 2016 veröffentlichten Thesen zum literarischen Realismus:

  1. Realistische Literatur ist prämodern. Sie fällt hinter zentrale Erkenntnisse der Moderne zurück, die sowohl den allwissenden Erzähler, diesen literarischen Demiurgen, als auch das Konstrukt des Romans, mit seiner impliziten Behauptung der Möglichkeit einer einheitlichen Weltsicht, entzaubert hatten. In Abgrenzung hierzu bemühten sich die Schreibweisen der Moderne gerade darum, die grundsätzliche Unverbürgtheit und Unverbürgbarkeit der Wirklichkeit vor Augen zu führen.
  2. Realistische Literatur ist unrealistisch. Sie zeigt immer nur einen Ausschnitt aus der prinzipiell unendlichen Vielfalt des Realen, wobei dieser Ausschnitt jedoch durch das Arrangement der dargestellten Inhalte eine bestimmte, eben diese Vielfalt negierende Deutung der Realität impliziert. Durch ihren schein-objektiven Gestus entlastet sie den Autor von einer genaueren Klärung seiner Ausgangsposition und kettet die Lesenden an das so produzierte Bild der Wirklichkeit.
    Realistische Literatur ist deshalb auch immer manipulativ. Gerade deshalb, weil sie sich als objektive Widerspiegelung der Realität inszeniert, kann sie den Lesenden die Allgemeingültigkeit eines bestimmten Weltbildes suggerieren. Aus diesem Grund ist sie auch stets das literarische Lieblingskind totalitärer Regime gewesen.
  3. Realistische Literatur ist unkritisch. Auch dort, wo realistische Literatur sich kritisch mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzt, bleibt sie im Kern affirmativ. Dies liegt daran, dass ihre Strukturen von den kritischen Inhalten unberührt bleiben. Dadurch, dass die in vorgefertigten Sprachmustern eingefrorenen Deutungsmuster der Wirklichkeit von ihr unhinterfragt reproduziert werden, bewegt sich die Gesellschaftskritik notgedrungen an der Oberfläche. Die realistische Literatur sperrt sich damit selbst in den Käfig der geistigen Ermöglichungsbedingungen des Systems, das sie kritisiert.
  4. Realistische Literatur verfolgt eine implizit kathartische Strategie. Indem sie die Lesenden in das Werk hineinzieht, anstatt ihnen eine reflektive Distanz dazu zu ermöglichen, setzt sie faktisch auf einen läuternden Effekt der Lektüre. Unausgesprochen folgt sie damit der Strategie des antiken Theaters: Das Durchleiden der thematisierten Probleme soll eine reinigende Wirkung entfalten. Hinterher legt man den Roman beiseite und fühlt sich besser, obwohl die Probleme dieselben geblieben sind.
    Im Unterschied zur griechischen Tragödie handelt es sich bei diesen Problemen allerdings nicht um die ewigen, in der Tat unlösbaren Menschheitsprobleme. Vielmehr geht es oft um sehr reale Alltagsprobleme, die einem eingreifenden Handeln sehr wohl zugänglich wären. Dieses würde allerdings eben jenes komplex-analytische Denken voraussetzen, das durch die emotionale Sogwirkung realistischer Literatur gerade unterminiert wird.
  5. Realistische Literatur ist überflüssig. Im Zeitalter des Films kann auch der beste realistische Roman nur eine unvollkommene Kopie oder die Vorstufe eines Films sein. Zwar mag das Lesen für die Phantasie anregender sein und so ein größeres geistiges Stimulationspotenzial besitzen. Es handelt sich dabei jedoch lediglich um graduelle Unterschiede, an deren Aufrechterhaltung vor allem ein wirtschaftliches Interesse besteht: Buch und Film sind schlicht verschiedene Stufen einer Verwertungskette, durch die eine Idee vermarktet wird.
  6. Realistische Literatur ist anti-individualistisch. Dies gilt zum einen auf der Ebene des literarischen Werkes selbst, wo die handelnden Figuren nur Marionetten auf der vom Autor gestalteten Bühne sind und entsprechend holzschnittartig agieren. Es betrifft zum anderen aber auch die Ebene der Lesenden, die nicht als kritisch denkende Individuen, sondern als Konsumenten vorgefertigter Deutungsmuster gefragt sind.
  7. Realistische Literatur ist undemokratisch. Ein zentrales Anliegen der Moderne – und erst recht der Postmoderne – war es, die Lesenden aus ihrer Rolle als unbeteiligte Zuschauer herauszuholen und sie in die Entfaltung der literarischen Welt miteinzubeziehen. Geistesgeschichtlich betrachtet, entsprach dies der Übertragung des emanzipatorischen Projekts der Aufklärung auf den Bereich der Literatur. Indem die realistische Literatur die Lesenden stattdessen wieder am Händchen des Erzähler-Demiurgen durch die von diesem gestaltete literarische Landschaft führt, untergräbt sie dieses Projekt.
  8. Realistische Literatur ist eskapistisch. Gerade das, was die realistische Literatur ihren Gegnern vorwirft – dass sie sich der Realität nicht stellen –, trifft auf sie selbst zu. Sie ist eskapistisch in dem Sinne, dass sie die Lesenden über die Brüchigkeit der dargestellten Strukturen hinwegtäuscht und ihnen stattdessen die Unauflösbarkeit der bestehenden Ordnung vorgaukelt – und zwar sowohl in sozialer als auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht.
  9. Realistische Literatur ist strukturell mit der Fantasy-Literatur identisch. Diese darf nicht mit der phantastischen Literatur verwechselt werden.
    Die Fantasy-Literatur ist insofern realistisch, als sie die überkommenen Deutungsmuster der Wirklichkeit ebenso unhinterfragt übernimmt wie andere Formen realistischer Literatur. Die Welt, die sie zeichnet, ist zwar äußerlich eine andere als die, in der wir uns tagtäglich bewegen. Strukturell ist sie jedoch mit dieser identisch. Der Alltag ist hier zwar ein anderer als der, den wir kennen, bildet jedoch ein ebenso in sich geschlossenes System, dessen Wertesystem dem außerhalb der Romanwelt entspricht.
    Im Unterschied hierzu fußt die phantastische Literatur auf der bekannten Realität, verfremdet diese aber so, dass der schwankende Boden spürbar wird, auf dem die menschliche Wirklichkeit ruht. Damit verliert die Wirklichkeit hier ihre vertrauten Züge. Es wird deutlich, dass sie nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die prinzipiell chaotische Komplexität des Lebens in eine sinngebende Gestalt zu überführen. Unsicherheiten in der Realitätswahrnehmung, unerwartete, das gewohnte Weltbild erschütternde Entwicklungen sowie gleitende Übergänge zwischen Traum- und Alltagswelt sind deshalb für diese Art von Literatur konstitutiv.
  10. Realistische Literatur ist zynisch. Indem die realistische Literatur die handelnden Figuren als Marionetten in der Hand des Erzählers vorführt, hemmt sie den Mut der Lesenden, die Welt handelnd zu verändern. Stattdessen unterstützt sie – als Äquivalent zu der Überheblichkeit des Erzählergottes – eine besserwisserische Haltung gegenüber anderen. Diese ist insofern zynisch, als die angenommene geistige Überlegenheit und die daraus folgende Einsicht in soziale Missstände nicht für substanzielle Veränderungen genutzt wird, sondern lediglich der Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls dient.
  11. Realistische Literatur ist eitel. Sie ähnelt einer gleichermaßen selbstunsicheren wie selbstverliebten Person, die sich bei jeder Gelegenheit im Spiegel betrachtet. Wie diese Person nie über die Grenzen ihres Ichs hinausgelangen wird, ist auch eine Literatur, die sich dem Selbstbespiegelungsanspruch ihrer Zeit unterwirft, dazu verdammt, von ihrem eigenen Spiegelbild geblendet zu werden.
    Dabei ist nicht nur an die ausufernde autobiographische Literatur und an die um sich selbst kreisende Beziehungsliteratur zu denken. Vielmehr ist damit auch und gerade die allzu direkte Bespiegelung der Zeitprobleme gemeint.
    Der Klimawandel etwa ist fraglos ein ernsthaftes Problem, das man immer wieder in all seinen Facetten und Konsequenzen beleuchten muss. Behandelt man ihn jedoch als literarisches Sujet, so dient er Schreibenden wie Lesenden lediglich als wichtigtuerische Begleitmusik zu ihrem Unterhaltungsinteresse. Die adäquate Antwort der Literatur wäre dagegen vielleicht eher ein Naturgedicht, in dem der Klimawandel gar nicht vorkommt. So ließe sich womöglich viel anschaulicher vor Augen führen, dass eine unzerstörte Natur vor allem auch ein unzerstörtes Verhältnis zur Natur und damit eine radikale Abkehr von unserer naturzerstörerischen Lebensweise voraussetzt.

 

Bild: Jahidul islam jahi jj: Mädchen (Pixabay)

5 Kommentare

    1. Ich habe hier natürlich eine bestimmte Art von „plattem“ Realismus im Blick. Meine Kritik richtet sich gegen Konzepte, die von einer Realität, die bestimmbar ist, ausgehen. Die Realitäten sind aber je nach Lebensweise, Milieu, Ethik und Wahrnehmung verschieden. Menschen sehen jeweils nur ihre Realität. Man muss einer gesetzten „Realität“oder wahrgenommenen Realität immer auch misstrauen. Und hier die Gewissheiten zu erschüttern, zum Nach- und Umdenken anzuregen, ist aus meiner Sicht die Aufgabe von Kunst und Literatur.

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      1. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt kompetent genug bin, um ich dazu zu äußern, da ich Bücher wie die, die hier gemeint sind, kaum lese. Ich habe mir, da ich jedoch eine so gründliche Arbeit nicht einfach übergehen wollte, nur kurz die ersten Nummern von „Le Réalisme“ von 1856 angesehen. Da positioniert sich der Realismus gegen konventionelle poetische Ausdrucks- und Darstellungsformen und gegen die Romantik, die ihren Objektbereich auf das Psychische beschränke. Es geht dem Realismus um eine Erweiterung des Bereichs des Darstellbaren und um eine neue Form des Ausdrucks, die in einem genauen, direkten und konkreten Bezeichnen bestehe. Das Subjektive einer solchen Darstellung wird dabei durchaus gesehen und Champfleury etwa mit Courbet, den ich sehr mag, auf eine Ebene gestellt. Das Allgemeinverständliche einer solchen Darstellungsweise (das Demokratische?) wird dabei als Vorzug ins Spiel gebracht. Man kann so etwas ohne literarische Vorbildung lesen. Die Merkmale aus dem obigen Kriterienkatalog lassen sich auf diesen frühen Realismus, der ungefähr gleichzeitig mit der Moderne entsteht, durchaus anwenden. Wenn ich solche Sachen lese, verliere ich dabei die Distanz zur Erzählinstanz, zur Sprache und zur Konstruktion nicht, sondern reflektiere das, was ich lese, durchaus noch, obwohl die Eskapation vielleicht auch zum Lesen dazugehört und daher nicht ganz und gar verdammt werden sollte. Recht schnell ist diese damals innovative Darstellungsweise ihrerseits konventionalisiert worden. Die neueren Texte, die in dieser Art geschrieben sind, finde ich natürlich auch uninteressant und es ist mir, wenn ich nur an mein eigenes Vergnügen denke, rätselhaft, wie man nach dem Nouveau Roman in solche Schreibweisen zurückfallen konnte. Aber da spielt vielleicht das Demokratische eine wichtige Rolle, denn der Nouveau Roman ist niemals so richtig populär gewesen.

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  1. Für mich war vor allen der Abschnitt zu Fantasy/Phantastische Literatur sehr erhellend. Mich hat es schon immer gestört, dass bspw. Poe mit Saga, Mystery und Elfengeschichten in einen Topf geworfen wird. Hinzu kommt, dass der Fantasy-Markt boomt und die Storys z. T. ohne Sinn und Verstand am Fließband fabriziert werden. Literarische Qualität? Fehlanzeige! Habe ich nichts dagegen, wenn es Leuten Freude macht. Aber der Unterschied zu phantastischer Literatur muss bewusst sein. Werde mir daraufhin das „ Tagebuch“ durchlesen.

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  2. In dem schönen Beitrag „Das versunkene Dorf“ heißt es: „Auch die Bewohner eines solchen Dorfes werden dem Fiebertraum der Moderne geopfert, die elektrisiert ist von ihren eigenen, scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten.“- Im obigen Text aber wird die Moderne als etwas Positives gefasst.
    Dieses Problem beschäftigt mich sehr. Wie kann man eine Ästhetik begründen, die den Menschen als Maß aller Dinge zum Ausgangspunkt wählt, die aber nicht gleichzeitig antimodern und unzeitgemäß ist? In folgendem Text habe ich das Problem angesprochen: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/07/18/sommerreise-durch-die-windfelder-oder-mensch-und-natur-im-einklang-mit-der-windkraft/
    Ich habe das Problem 2016 mit dem Energieminister von Mecklenburg-Vorpommern und Windkraftlobbyisten Christian Pegel diskutiert. Er hat einen ästhetischen Relativismus vertreten, der auf der These beruht, dass die Wahrnehmung der Menschen sich an die Veränderungen ihrer Umwelt nach und nach anpasst. Wird das, was heute hässlich ist, morgen schön sein?
    Ich finde, dass es sehr schwer ist, dem ästhetischen Relativismus theoretisch entgegenzutreten.
    In der Auseinandersetzung um die Windkraft ist die hier angesprochene Frage insofern wichtig, als die Ablehnung der Windkraftanlagen aufgrund ihrer Hässlichkeit für viele Menschen (auch für mich) eine ebenso große Rolle spielt wie eigentlich schwerwiegendere Gründe wie die Aurottung der Arten und der Ruin der Gesundheit der Anwohner. Die Académie Nationale de Médecine sieht darin einen Grund, Windkraftanlagen nicht zuzulassen, wenn die Akzeptanz nicht gegeben ist, da die Ablehnung der Hässlichkeit psychosomatische Erkrankungen hervorruft (daher jetzt immer: Geld als Gegengift).
    Kann man das ästhetische Argument gegen die Windräder theoretisch begründen?

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