Kot und Corona

Der anale Charakter, revisited

Freud Portraät WolkenDie Corona-Krise hat bekanntlich zu intensiven Hamsterkaufräuschen und einer zügellosen Lust am Horten von Dingen geführt. Besonders begehrt: Klopapier. Dies alles trägt erkennbar irrationale Züge. Das legt die Frage nahe: Was hätte Sigmund Freud wohl dazu gesagt?

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INHALT:
Klopapier und Zigaretten
Die Phasen der kindlichen Sexualentwicklung nach Freud
Mögliche Störungen der Sexualentwicklung
Grundzüge des analen Charakters
Primäre Einflussfaktoren
Sekundäre Einflussfaktoren
Analerotik, Sadomasochismus und autoritärer Charakter
Sky-Skypen mit Siggie
Literatur

Klopapier und Zigaretten

Nein, die Krise ist noch nicht eskaliert. Noch sind wir nicht mit Mangelwirtschaft und Lebensmittelkarten konfrontiert. Noch ist unser Tisch reich gedeckt.
Gut, hier und da müssen wir vielleicht auf manches verzichten. Dass der Überflussmotor unserer Wohlstandsgesellschaft ins Stottern geraten ist, liegt vorerst aber vor allem an uns selbst: an unserer Angst davor, dass der Wohlstandsmotor irgendwann ganz aussetzen könnte. Ohne unsere Hamsterkäufe wäre noch alles wie zuvor.
Klar ist aber auch: Die Talsohle ist noch nicht erreicht. Wenn der Stillstand des öffentlichen Lebens längere Zeit anhält, wird das nicht ohne Auswirkungen auf das Warenangebot bleiben. Und selbst wenn die Krise irgendwann vorbei ist, wird das viele Geld, das die Notenbanken derzeit in die Märkte pumpen, eine schwere Hypothek darstellen. Eine schwere Inflation ist dann ganz und gar nicht ausgeschlossen.
So kann es durchaus sein, dass sich demnächst wieder Schwarzmärkte bilden werden. Schwarzmärkte aber haben ihre eigene Währung. Sie scheren sich nicht um das Phantasiegeld der Notenbanken. Nach dem Zweiten Weltkrieg rechnete man in Zigaretten ab, von manchen wurden auch Kaugummis als Zahlungsmittel akzeptiert. Der Corona-Schwarzmarkt wird aber vermutlich eine ganz andere Währung kennen: Klopapier.
Wie viele Klopapierblätter wohl für ein Pfund Butter fällig sein werden? Wie viel müsste man für ein Kilo Nudeln „hinblättern“? Oder gar für ein Pfund Mehl? Würden sich Feuchttücher überhaupt noch mit Toilettenpapier aufwiegen lassen?
So schauen wir nun mit einigem Befremden auf uns selbst. Nie hätten wir gedacht, dass unser Spiegelbild uns einmal als klopapiersüchtige Hamsterer zeigen würde. Ja, wir haben immer darauf geachtet, genügend Toilettenpapier im Haus zu haben. Aber dass wir uns erst sicher fühlen würden, wenn wir ganze Schränke damit gefüllt haben? Nein, das entspricht doch nicht dem Bild, das wir von uns hatten.
Es gibt allerdings jemanden, der sich ganz und gar nicht über ein solches Verhaltensmuster gewundert hätte. Jemanden, der genau das prognostiziert hätte, was nun eingetreten ist. Dieser Jemand heißt: Sigmund Freud.
Vielleicht, habe ich mir daher gedacht, wäre es keine schlechte Idee, sich vor dem Hintergrund der aktuellen Situation noch einmal mit Freuds Theorie des analen Charakters zu beschäftigen. Womöglich führt die Krise so ja wenigstens dazu, dass wir uns etwas besser kennenlernen.

Die Phasen der kindlichen Sexualentwicklung nach Freud

Bekanntlich geht Freud davon aus, dass sich die kindliche Sexualentwicklung in fünf Phasen vollzieht (vgl. Freud 1905). Diese unterscheiden sich jeweils danach, auf welche Objekte sich die von Freud als „Libido“ bezeichnete Triebenergie richtet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um

  • die bis zum zweiten Lebensjahr andauernde orale Phase, in der sich die Libido auf alles bezieht, was der Säugling mit dem Mund ertasten kann. Hauptobjekt der Baby-Lust ist natürlich die mütterliche Brustwarze bzw. deren Surrogat, also Milchfläschchen, Schnuller oder später der Daumen.
  • die von Freud für das zweite und dritte Lebensjahr postulierte anale Phase, in der sich das Lustempfinden auf die Analregion verschiebt. Lust wird nun aus den Ausscheidungsvorgängen selbst oder auch aus dem Zurückhalten des Kots gewonnen. Die Lust ist dabei allerdings nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur und kann sich auch aus dem Stolz auf das „Geleistete“ ergeben.
  • die zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr zu verortende phallisch-ödipale Phase, in der sich die Libido erstmals auf die eigenen Genitalien richtet. Laut Freud geht dies zugleich mit einer Ausrichtung der Triebenergie auf das andersgeschlechtliche Elternteil einher. Dieses zu „begehren“, geht dabei zugleich unbewusst mit dem Wunsch einher, an die Stelle des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu treten. Daraus ergibt sich, wie Freud in Anlehnung an die griechische Tragödie formuliert, der berühmte „ödipale Konflikt“. Die Schuldgefühle, die das Kind wegen des Verlangens nach einer Verdrängung des gleichgeschlechtlichen Elternteils empfindet, werden überwunden durch eine Identifikation mit diesem. Aus der verbotenen genitalen wird so die sublimierte „platonische“ Liebe zu Mutter oder Vater.
  • die bis zum Beginn der Pubertät reichende Latenzphase, in der sich die Libido stärker vom eigenen Körper ab- und der Umwelt zuwendet. Sie dient nun vor allem der Umwelterkundung und der Ausbildung des sozialen Ichs, das seinen Platz in der Gemeinschaft mit anderen findet. Zugleich lernt das Kind, souveräner mit seiner Libido umzugehen, indem es die Fähigkeit zur Aufschiebung der Triebbefriedigung sowie zu einer Sublimierung von Trieben, also einer Umwandlung körperlicher in geistige Befriedigung, erlangt. Dies geht zudem mit der Internalisierung gesellschaftlicher Werte und moralischer Gebote einher, also einer Stärkung jener psychischen Instanz, die Freud als „Über-Ich“ definiert.
  • die mit Beginn der Pubertät einsetzende genitale Phase, in der sich die Libido erneut auf den Genitalbereich richtet. Die Triebenergie ist nun allerdings, entsprechend den Lernprozessen aus der ödipalen und der Latenzphase, nicht mehr ausschließlich ichbezogen. Vielmehr ist sie nun gleich in doppelter Hinsicht sozialer Natur: Sie bezieht sich auf andere Menschen und kann zudem der Fortpflanzung dienen und so zum Erhalt der Gemeinschaft beitragen.

Mögliche Störungen der Sexualentwicklung

Kommt es in den frühen Phasen der kindlichen Sexualentwicklung zu Störungen, so kann sich dies in charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar machen. Da der Zusammenhang mit den frühkindlichen Fehlentwicklungen in der Regel unbewusst ist, bedarf es gegebenenfalls therapeutischer Hilfe, um zum Kern des Problems vorzudringen.
Am unproblematischsten sind wohl Störungen in der frühesten Phase der Sexualentwicklung. Dies gilt allerdings nur für die Ebene der Sexualität selbst: Orale Lust ist auch in späteren Phasen der Sexualentwicklung stets ein fester Bestandteil des erotischen Repertoires. Anders sieht es aus, wenn Fehlentwicklungen in der oralen Phase auch andere Verhaltensbereiche affizieren. Hieraus können dann etwa bestimmte Essstörungen oder auch ein suchtartiges Zigarettenrauchen resultieren.
Bleibt die Libido ganz oder teilweise der analen Phase verhaftet, so geht dies ebenfalls nicht unbedingt mit der Bevorzugung gewisser Sexualpraktiken einher. Die Hauptproblematik ergibt sich vielmehr gerade daraus, dass im Zuge von familiärer und gesellschaftlicher Sozialisation der Bezug zur ursprünglichen Lustquelle verloren geht.
An die Stelle der primären Lustobjekte treten dann Surrogate, die den Blick auf den Ursprung der entsprechenden psychischen Störungen verstellen. Ein typisches Beispiel dafür ist das Geld, das wie in der frühen Kindheit der Kot „zurückgehalten“ wird. So ist Geiz die typische Eigenschaft eines Menschen, dessen Libido der analen Phase verhaftet geblieben ist.
Fehlentwicklungen in der ödipalen Phase erschweren Freud zufolge einen störungsfreien Einstieg in die genitale Phase. Sind die ödipalen Schuldgefühle zu stark, so kann dies die Ausrichtung der Libido auf das andere Geschlecht erschweren. Dies kann jedoch auch passieren, wenn der ödipale Konflikt nicht durchlebt wird. Dann wird die Bindung an das andersgeschlechtliche Elternteil nicht aufgelöst, was die Umleitung der Libido auf andere Personen des anderen Geschlechts verhindert.
In beiden Fällen wären Autoerotik und Homosexualität die Folge. Denkbar ist allerdings auch, dass eine Überidentifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil das Ausleben einer homosexuellen Orientierung verhindert. Denn dann bliebe die Libido an dieses Elternteil gebunden und wäre nicht frei für die Wahl anderer gleichgeschlechtlicher Partner.

Grundzüge des analen Charakters

Störungen der Sexualentwicklung können sich zum einen lediglich in bestimmten Neigungen und Verhaltenstendenzen bemerkbar machen, die sich von ähnlichen Einstellungen bei anderen nur durch die stärkere Ausprägung unterscheiden. Komplexere Fehlentwicklungen können jedoch auch die gesamte Persönlichkeit affizieren und sie in charakteristischer Weise prägen.
Von der analen Phase beeinflusste Charakterzüge hat Freud bereits 1908 in seinem Artikel Charakter und Analerotik beschrieben. Im Anschluss hieran haben andere psychoanalytische Forscher (wie Karl Abraham, Ernest Jones und Isidor Sadger) und Forscherinnen (wie Lou Andreas-Salomé) die Studien Freuds vertieft und um weitere Erkenntnisse ergänzt.
Grundsätzlich ist bei einem von der analen Phase der kindlichen Sexualentwicklung in Teilen oder in Gänze bestimmten Charakter zwischen primären und sekundären Einflussfaktoren zu unterscheiden. Unter den primären Einflussfaktoren sind dabei all jene Aspekte der Lustgewinnung zu verstehen, die unmittelbar mit den Ausscheidungsvorgängen zusammenhängen. Sekundäre Einflussfaktoren resultieren gerade umgekehrt aus einer Überidentifikation mit den erzieherischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Primärlust angewandt worden sind.

Primäre Einflussfaktoren

Der zentrale Gefühlskomplex, der aus einer fortgesetzten Beeinflussung durch die anale Phase der Lustgewinnung resultiert, ist der eines Eindrucks von „Allmacht“ und „Einzigartigkeit“ (Abraham 1923: 31; vgl. Jones 1918). Grundlage ist hier der Eindruck des Kleinkinds, über seinen Exkretionsvorgang aus eigener Kraft etwas „erschaffen“ zu können.
Übertragen auf das soziale Leben des Erwachsenen, entwickelt sich aus der kindlichen Selbstherrlichkeit eine ausgeprägte „Unzugänglichkeit und Halsstarrigkeit“ (Abraham 1923: 34). Personen mit entsprechenden Charakterzügen sind bestenfalls der Überzeugung, „alles selbst tun zu müssen, weil kein anderer es so gut machen könne wie sie selbst“ (ebd.: 32; vgl. Sadger 1910). Unangenehmer dürfte es werden, wenn das Gefühl der Gottgleichheit sich nicht nur in einer mangelnden Teamfähigkeit, sondern in diktatorischen Zügen niederschlägt, durch die jemand unbedingt und auch auf Kosten anderer seinen eigenen Willen durchzusetzen versucht.
Primäre Einflussfaktoren ergeben sich darüber hinaus auch aus der Lust, die aus dem Zurückhalten des Kots gewonnen werden kann. Hieraus wird im späteren Leben eine allgemeine Lust am „Haben“, also am Besitz im weitesten Sinne des Wortes sowie an dessen „Festhalten“ (Abraham 1923: 38).
Konkret führt eine solche Charaktereigenschaft ganz allgemein zu Problemen beim Loslassen. Dies kann sich durchaus auch negativ auf Beziehungen auswirken, in denen entsprechende Personen vermehrt zu Eifersucht und Kontrolle des anderen neigen. Häufiger sind aber wohl Auswirkungen auf die Welt der Dinge, die selbst dann nicht weggeworfen werden, wenn sie funktionsuntüchtig oder aus anderen Gründen unbrauchbar für die Betreffenden sind (vgl. ebd.: 41).
Der Geiz, der logischerweise mit einer solchen Haltung dem Leben gegenüber zusammenhängt, wurde oben bereits erwähnt. Abraham weist allerdings darauf hin, dass generalisierter Geiz nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass die Betreffenden anderen überhaupt kein Geld zukommen lassen. Entscheidend ist für sie vielmehr, dass sie den Prozess des „Ausscheidens“ des Geldes vollständig unter Kontrolle haben. Sie können also durchaus großzügig sein, sind aber niemals freigiebig: „Das Zuteilen des Geldes in Portionen, die sie selbst bestimmen, ist ihnen eine Quelle der Lust“ (ebd.: 34; vgl. zu dem Problemkomplex auch Ferenczi 1914).
Schließlich folgen Menschen mit entsprechenden Charakterzügen auch stärker als andere der Devise: „Zeit ist Geld“. Auch mit der Zeit versuchen sie stets ökonomisch umzugehen. Typisch ist dabei „das gleichzeitige Vornehmen zweier Beschäftigungen“ (ebd.: 40), also das, was wir heute als „Multitasking“ bezeichnen würden. Der Versuch, das kostbare Gut der Zeit quasi „horten“ oder vermehren zu können, führt dabei im Endeffekt nicht selten zu Zeitverlusten, weil die Betreffenden sich in der Vielzahl der selbst gesetzten Aufgaben verzetteln: Sie „sparen oft Zeit im kleinen und verlieren sie im großen“ (ebd.).

Sekundäre Einflussfaktoren

Außer von der Lust an den Ausscheidungsvorgängen selbst können sich Elemente des analen Charakters auch aus einer Überidentifikation mit der Reinlichkeitserziehung entwickeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Letztere zu abrupt oder zu rigide erfolgt ist. Die erzwungene Abkehr von der ursprünglichen Lustquelle führt dann, auf dem Wege der Verschiebung, zu einer paradoxen Ausrichtung der Libido auf das, was den primären Lustgewinn verhindern sollte.
Das Gefühl der Selbstgefälligkeit kann sich auch in diesem Fall einstellen. Es resultiert dann jedoch nicht aus dem Eindruck, selbst etwas „erschaffen“ zu können, sondern bezieht sich, als eine Art Musterschüler-Syndrom, auf das Lob anderer für vorbildliches Verhalten (vgl. Abraham 1923: 30).
Der zentrale Charakterzug, der sich hieraus ergibt, ist eine übertriebene Ausrichtung an der Meinung anderer. Dies kann bedeuten, dass die Betreffenden es immer „allen recht machen“ wollen, aber auch, dass sie sich grundsätzlich Mehrheitsmeinungen anschließen und Autoritäten nicht in Frage stellen.
Natürlich neigen Personen, die von einer sekundären Anallust geprägt sind, auch zu einer zwanghaft ausgelebten Sauberkeit. Die Reinlichkeitsdressur der Kindheit geht hier in einen „Reinlichkeitsfimmel“ über. Das Sauberkeitsbedürfnis kann sich jedoch auch im übertragenen Sinne äußern. Es führt dann zu einer an Pedanterie grenzenden Ordnungsliebe und zu einer allgemeinen Rubrizierungs- und Klassifizierungssucht. Charakteristisch ist dabei, „daß die Vorlust am Ausarbeiten eines Planes stärker hervortritt als die Befriedigung an seiner Ausführung“, so dass es zu dieser oft gar nicht mehr kommt (ebd.: 44). Die immer neue Einteilung und Untergliederung der Dinge erfolgt also nur, um einer generalisierten Regulierungswut Genüge zu tun, nicht aber, um damit ein planvolleres Handeln oder besseres Verstehen der Welt zu ermöglichen.
Wie bei einem von primärer Anallust geprägten Charakter können sich auch auf dem Wege der sekundären Anallust diktatorische Persönlichkeitsmerkmale herausbilden. Diese beruhen dabei allerdings nicht auf den Allmachtgefühlen, die das Kind aus seinem „Schöpfertum“ ableitet. Sie ergeben sich vielmehr aus dem Bedürfnis, die gesamte Umwelt in derselben Weise unter Kontrolle zu halten wie das eigene Leben (vgl. ebd.: 33).
In milderen Fällen resultiert hieraus schlicht das Bedürfnis nach sauberen und geordneten Verhältnissen. Sind die entsprechenden Charakterzüge stärker ausgeprägt, so führen sie jedoch zu einer ausgesprochenen Kontroll- und Herrschsucht. Die Betreffenden neigen dazu, ein in seiner Detailversessenheit oft absurdes Regelwerk aufzustellen, dessen lückenlose Befolgung sie penibel überwachen.
Das Trauma der frühkindlichen Reinlichkeitsdressur wird hier demnach dadurch zu verarbeiten versucht, dass wieder und wieder die Rolle des Reinlichkeitsdompteurs übernommen wird. Da eine solche Überidentifikation mit dem Angstobjekt sich unbewusst vollzieht, kann die Reinszenierung des Traumas freilich nie zu dessen Bewältigung führen. Sie verstärkt vielmehr den Zwang, dieses wieder und wieder zu durchleben – mit der Folge, dass die Betreffenden immer verbissener an ihrer selbst gesetzten Ordnung festhalten und Verstöße gegen sie immer unerbittlicher ahnden.

Analerotik, Sadomasochismus und autoritärer Charakter

Der Prozess der kindlichen Sexualentwicklung ist grundsätzlich fragil. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass einzelne Phasen womöglich nicht angemessen durchlaufen und überwunden werden. Auch die postulierte Entwicklung der Libido von einer ich- zu einer stärker objektbezogenen Ausrichtung ist eher eine idealtypische Setzung.
Eine solche Umorientierung ist im Sinne der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität zwar notwendig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass am Ende der infantilen Sexualentwicklung die Triebenergie immer so auf andere ausgerichtet ist, dass mit dem eigenen Lustgewinn auch der Lustgewinn der PartnerInnen mitbedacht wird. Wäre es anders, so bräuchten wir kein Kamasutra und auch keine SexualtherapeutInnen. Erst recht gäbe es dann keine Bordelle, in denen Frauen nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte für die männliche Triebbefriedigung fungieren.
Eine solche Degradierung anderer Menschen zu lebendigen Sex-Spielzeugen entkleidet die anderen ihrer Würde, indem sie sie zu bloßen Gegenständen herabwürdigt. Damit ist die Libido hier zwar objektbezogen, aber dennoch nicht sozial, da die Objekte des Begehrens nicht in ihrer Individualität geachtet werden. Eine so ausgelebte Sexualität ist damit tendenziell immer gewalttätig. Die Missachtung der Subjektnatur des anderen ist der erste Schritt zur Vergewaltigung.
Solange wir es nicht mit einer offenen Vergewaltigung zu tun haben, beruht die Aggressivität einer entsprechenden Sexualität allerdings lediglich auf Gedankenlosigkeit. Dies darf nicht verharmlost werden, doch wird Gewalt hier eben nicht gezielt als Mittel der Triebbefriedigung eingesetzt. Damit unterscheidet sich diese Art von Sexualität grundsätzlich von jenen Sexualpraktiken, bei denen Gewalt explizit zur Stimulierung des Sexualtriebs angewandt wird.
Im psychoanalytischen Koordinatensystem Freuds lassen sich diese Formen von Sexualität nur dann angemessen einordnen, wenn man ihm auf seinen geistigen Pfaden „jenseits des Lustprinzips“ folgt (vgl. Freud 1920). Freud trug dabei der Tatsache Rechnung, dass es neben dem auf Erhalt und ‚Verkomplizierung‘, also Erweiterung der „lebenden Substanz“ ausgerichteten Sexualtrieb (Eros) auch einen Trieb gibt, der darauf ausgerichtet ist, „das organische Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen“ (vgl. Freud 1923: 237 ff.).
Diesen Trieb bezeichnete Freud als Todestrieb oder „Thanatos“. Während der Eros wesensmäßig objektbezogen ist – da das Ich für Wachstum und Vermehrung auf den Kontakt mit der außer ihm selbst liegenden Welt angewiesen ist –, ist der Thanatos primär subjektbezogen. Er bezeichnet gewissermaßen die allem Lebendigen eingeschriebene Gesetzmäßigkeit des Verfalls.
Angesichts der grundsätzlichen „Polarität von Liebe und Hass“ und der Ambivalenz, die allen sozialen Beziehungen innewohnt (vgl. ebd.), können sich Eros und Thanatos allerdings auch in vielfältiger Weise miteinander verbinden. So wird im Sadismus Lust aus der Beschädigung und Zerstörung anderen Lebens gewonnen. Im Masochismus richtet sich die Verbindung von Eros und Thanatos dagegen auf das eigene Ich, indem Lust aus dem Schmerz gezogen wird, der dem eigenen Körper zugefügt wird.
Auch Sadismus und Masochismus müssen wiederum nicht notwendigerweise getrennt voneinander auftreten. „Sadomasochistische“ Sexualpraktiken sind vielmehr gerade dadurch gekennzeichnet, dass Lust ebenso aus der Beschädigung anderen Lebens wie aus den selbst erlittenen Qualen gewonnen wird.
Eine solche sadomasochistische Haltung ist nun gerade bei Personen, die der analen Phase verhaftet sind, häufiger zu beobachten. Dies gilt insbesondere für die Variante der sekundären Anallust. Denn hier wird Lust sowohl aus einer – tendenziell masochistischen – übertriebenen Unterordnung unter bestimmte Regeln und Gebote als auch aus einer – tendenziell sadistischen – Unerbittlichkeit beim Kampf um die Einhaltung einer selbst gesetzten Ordnung gezogen.
Als generalisierte Haltung gegenüber dem sozialen Umfeld resultiert hieraus der typische „Radfahrer-Charakter“, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Erich Fromm sah den Sadomasochismus deshalb als psychischen Mechanismus an, durch den eine objektive – familiäre, berufliche oder allgemein-gesellschaftliche – Forderung nach Unterordnung im Subjekt verankert werden kann. Ein sadomasochistisch geprägter Charakter sei, so Fromm, stets durch seine „Einstellung zur Autorität“ gekennzeichnet: „Er bewundert die Autorität und strebt danach, sich ihr zu unterwerfen; gleichzeitig aber will er selbst Autorität sein und andere sich gefügig machen“ (Fromm 1941: 163).
Damit führt eine direkte Linie von der unüberwundenen oder überkompensierten Anallust über den Sadomasochismus zum autoritären Charakter, wie er aufbauend auf den Studien Fromms (vgl. Fromm 1936), 1950 von Adorno und anderen in The Authoritarian Personality analysiert worden ist. Das darin beschriebene Eigenschaftenbündel aus extremem Konformismus, masochistischer Unterordnung und religiöser Verklärung eines Führer-Vaters einerseits sowie unerbittlicher Verfolgung alles Andersartigen, das sich nicht in das enge Raster der eigenen Ordnung fügt, andererseits, bezog sich natürlich in erster Linie auf das nationalsozialistische Deutschland. Vor dem Hintergrund des weltweit wiedererstarkenden Autoritarismus, Nationalismus und Fundamentalismus erhalten die Analysen jedoch auch eine neue Aktualität.

Sky-Skypen mit Siggie

Die Psychoanalyse ist viel und oft kritisiert worden: zu einseitig, zu pauschal, zu wenig mit empirischen Belegen unterfüttert. Das gilt auch und erst recht für die Studien zum analen Charakter. Oft war bei den Kritikern allerdings sehr deutlich ein Stoßseufzer der Erleichterung herauszuhören. Offenbar war da jemand froh, wissenschaftliche Argumente für die Ablehnung einer Theorie zu haben, die ihm ein spontanes Unbehagen bereitet hatte. Auch das hätte Freud natürlich psychoanalytisch zu hinterfragen gewusst.
Jetzt aber ist ihm das alles herzlich egal. Ich weiß das, weil ich via Sky-Skype Kontakt zu ihm aufgenommen habe. Einfach nur in den Spiegel zu schauen, erschien mir nicht ausreichend. Ich wollte auch wissen, wie ich das Bild zu deuten hatte, das der Spiegel mir zeigte.
Als es mir endlich gelungen war, über die Himmelsleitungen – die noch gestörter sind als unsere chronisch überlasteten irdischen Leitungen – einen Draht zu Freud zu finden, lag er ganz entspannt auf einem Sofa. Übrigens handelte es sich dabei keineswegs um die berühmt-berüchtigte Analyse-Couch, sondern um ein rotes Plüsch-Sofa, das von einer schaumwellenweichen Wolke geschaukelt wurde.
Freud räkelte sich in fast schon unanständiger Weise auf seinen Kissen. Er schien überhaupt viel relaxter zu sein als früher. Sein weißer Bart war voller und nicht mehr so akkurat gestutzt wie früher, und statt eines Jacketts trug er eine Weste aus Wolkenflaum.
„Verehrter Herr Dr. Freud“, begann ich, „ich hätte da ein paar Fragen wegen …“
„Du kannst ruhig ‚Siggie‘ zu mir sagen“, unterbrach er mich. „Das machen hier ja alle.“
„Gut“, stotterte ich, verunsichert über die himmlische Nähe des Unnahbaren. „Also, Siggie, wegen des analen Charakters: Ich wollte fragen, ob Sie … ob du mir da vielleicht mit einer kleinen Diagnose aushelfen könntest.“
Freud richtete sich halb auf. „Du hast also Bock auf ’ne Trauma-Therapie?“
„Nein“, wehrte ich ab. „Es ging mir eher um die allgemeine Situation bei uns hier unten. Für eine echte Therapie fehlt da wohl die Zeit.“
Freud schmunzelte vielsagend. Ich meinte fast, ihn das Wort „Schisser“ sagen zu hören – aber da musste ich mich wohl verhört haben. „Ist ja auch besser so“, bekundete er. „In Kürze beginnt meine Engelshaar-Massage. Die möchte ich auf keinen Fall versäumen.“
Freud ließ sich genüsslich in sein Plüsch-Sofa zurückfallen. Die Augen in die Tiefen des Himmels gerichtet, redete er einfach ins Blaue hinein: „Also dann – hier meine Kurzdiagnose für die Eiligen und Ungeduldigen: Eure plötzliche Lust am Horten verstehe ich als regressive Reaktion auf die psychische Überforderung durch eine Jahrhundertkrise. Der Versuch, sich an irgendetwas festzuhalten, trifft auf die frühkindliche Anallust, etwas zurückzuhalten, sich etwas für später aufzusparen. Dies bezieht sich übrigens ganz allgemein auf das Horten von Dingen, und nicht nur auf eure plötzliche Gier nach Klopapier – auch wenn hier die Zusammenhänge natürlich besonders augenfällig sind.“
Damit verstummte Freud. Den Blick starr in die kosmische Unendlichkeit gerichtet, scherte er sich nicht weiter um mich. Sollte das etwa schon alles sein? Aber nein, er hatte nur einem Sternschnuppenschwarm zugeschaut, der gerade am Himmelszelt vorbeihuschte. War es denkbar, dass er sich etwas gewünscht hatte? War er am Ende doch nicht wunschlos glücklich auf seinem Plüschsofa?
„Darüber hinaus lässt sich konstatieren“, dozierte er weiter, „dass sich in der Krise bestimmte ohnehin bei euch zu beobachtende anale Charaktereigenschaften verstärkt bemerkbar machen. Dazu zählt etwa eure – sorry – penetrante Regelverliebtheit. Wenn ich recht sehe, habt ihr in eurer Krise ein ganzes Flickwerk unterschiedlicher Regeln aufgestellt, die sich teilweise auch noch gegenseitig widersprechen. Anstatt das zu ändern und zu einheitlichen, in sich logischen Regeln für den Umgang mit der Krise zu finden, versucht ihr euren Gegner durch eine besondere Regeltreue zu beeindrucken. Als würde es sich dabei um eine Art unsichtbaren Papa handeln, der euch mit seinen Schlägen verschont, wenn ihr besonders brav seid.“
Bums! Das hatte gesessen. Ob ich vielleicht doch besser die Trauma-Therapie gewählt hätte?
Freud versenkte sich derweil weiter in den vorüberzuckenden Sternenstaub. Fast schien es, als sähe er in den Tiefen des Alls einen Spiegel für die Untiefen der Seele, als würde er in den Sternen-Hieroglyphen Antworten auf Fragen finden, die selbst ein Meister Siggie auf Erden nicht hatte lösen können.
„Wenn das alles einmal vorbei ist“, raunte er schließlich, „rate ich euch dringend: Hört endlich mit diesen kindischen Versuchen auf, das Leben mit immer neuen magischen Berechnungen von euch fernzuhalten!“
Typisch Freud, dachte ich. Er war eben noch nie ein Freund der empirischen Wissenschaft gewesen. Sollte er am Ende doch noch einen geheimen Groll gegenüber seinen Kritikern hegen, die ihm eben dies stets vorgeworfen hatten? Kannte selbst dieser unerschrockene Reisende durch das Land der Seele das Ressentiment? Oder wehrte ich mit diesen Gedanken nur das ab, was Freud mir in mein Seelen-Stammbuch schrieb?
„Es geht hier nicht um statistische Analysemethoden zum Zweck der Forschung“, präzisierte Freud, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Problematisch wird es für euch immer dort, wo aus der zweckmäßigen Berechnung ein Zweck an sich wird. Dort, wo aus der Berechnung Kontroll-Lust wird und aus der Kontroll-Lust Kontroll-Wahn. Wo ihr hinter all euren schönen Diagrammen und Kurven, dem immer neuen Klassifizieren und Dokumentieren und Protokollieren, den Menschen nicht mehr seht.“
An diesem Punkt begann meine Sky-Skype-Leitung zu Freud brüchig zu werden. Immer mehr verschwamm seine Wolke vor meinen Augen, seine Worte drangen nur noch wie aus weiter Ferne an mein Ohr. „Eine Tabelle duldet keinen Widerspruch“, hörte ich ihn noch sagen. „Eine Tabelle hat immer Recht. Aber wer hat denn die Tabelle gemacht? Auf welcher Grundlage? Zu welchem Zweck? Wenn ihr diese Fragen nicht stellt, ist euer Glaube an die Aussagekraft von Tabellen nur ein Ausdruck eurer Autoritätsgläubigkeit. So trifft hier Kontroll-Lust auf Unterwerfungslust – was beides nicht gerade von einer Überwindung der analen Phase zeugt.“
Es hätte noch so vieles gegeben, was ich Freud hätte fragen wollen. Aber auf einmal war nichts mehr von ihm zu sehen.
So plötzlich, wie das Sky-Skypen begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. An der Stelle, wo eben noch King Siggie auf seinem Plüschsofa gethront hatte, war jetzt nur noch ein blaues Loch im Himmel zu sehen. Offenbar war Freud zu seiner Engelshaar-Massage weitergeschwebt.
Der Glückliche! dachte ich unwillkürlich. Aber es sei ihm gegönnt. Wer sich dem Irrgarten der irdischen Lüste entwunden hat, darf eben die himmlischen Wonnen ganz ungetrübt genießen. Im Himmel gibt es kein Daumenlutschen und keine Analerotik – und wenn doch, dann ist zumindest niemand da, der einem die Lust daran vermiest.

Literatur

Abraham, Karl: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse (IZP) 9 (1923), H. 1, S. 27 – 47.

Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, hg., von Ludwig von Friedeburg. Frankfurt/Main 1973: Suhrkamp.

Ders. / Frenkel-Brunswik, Else / Levinson, Daniel J. / Sanford, R. Nevitt: The Authoritarian Personality. New York 1950: Harper and Brothers.

Andreas-Salomé, Lou: „Anal“ und „Sexual“. In: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 4 (1915/16), S. 249 – 273.

Ferenczi, Sándor: Zur Ontogenese des Geldinteresses (1914). In: Ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1. Theorie (1927), S. 109 – 119. Bern 1964: Huber.

Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Gesammelte Werke, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte herausgegeben von Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris und Otto Isakower, Bd. 5, S. 27 – 145. Frankfurt/Main 1942: Fischer.

Ders.: Charakter und Analerotik (1908). In: Ebd., Bd. 7 (1941), , S. 203 – 209.

Ders.: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ebd., Bd. 13 (1940), S. 1 – 69.

Ders.: Das Ich und das Es (1923). In: Ebd., S. 237 – 289.

Fromm, Erich: Sozialpsychologischer Teil. In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, S. 77 – 135. Paris 1936: Alcan; auch in Ders.: Gesamtausgabe (Stuttgart 1980/81: DVA), hg. von Rainer Funk, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, S. 141 ff. München 1989: dtv.

Ders.: Die Furcht vor der Freiheit (engl. zuerst 1941, dt. 1945). Frankfurt/Main 1983: Ullstein.

Jones, Ernest: Anal-Erotic Character Traits. In: Journal of Abnormal Psychology 13 (1918), S. 261 – 284.

Sadger, Isidor: Analerotik und Analcharakter. In: Die Heilkunde 2 (1910), S. 43 – 46.

5 Kommentare

  1. Klug und überaus nachdenkenswert! – Frappierend wie Freuds Theorien auf das momentane Geschehen anwendbar sind. Ich habe so manchen aus meinem eigenen sozialen Umfeld wiedererkannt. Das „Sky-Skypen“ mit Siggi ist ein wirklich origineller Kunstgriff. Hat mir sehr gefallen.

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