Bildungspolitischer Kamikazeflug

Schulöffnungen: Drei Fragen an die ministeriellen Bruchpiloten

lost-places-2963769_1920Peter H
Antreten zur Prüfung!

In manchen deutschen Bildungsbehörden kommt gerade etwas abhanden, was dort ohnehin nur in homöopathischen Dosen vorhanden ist: der Verstand.
Noch vor vier Wochen hieß es: Ein regulärer Unterrichtsbetrieb ist in der Corona-Krise nicht möglich. Zu unsicher. Zu gefährlich. Zu unkontrollierbar. Nun drücken die hochwohlgeborenen Ministerialen auf einmal das Kreuz durch, rollen mit den Augen und rufen: „Das Abitur oder der Tod! Wer braucht schon Gesundheit, wenn er Zeugnisse haben kann? Bulimie-Lernen statt geistiger Vollwertkost!“ Und: „Was dich nicht tötet, härtet dich ab! Wenn es dich tötet, bist du zu schwach für diese Welt!“
Was ist da los? Hat etwa die Altherrenriege von der Leopoldina das Virus so beeindruckt, dass es sich vor lauter Schreck in Luft aufgelöst hat? Oder haben wir vielleicht in unserer Fixierung auf das Coronavirus andere fiese Krankheiten – wie etwa den Rinderwahnsinn, der womöglich auch andere Rindviecher befällt – aus den Augen verloren? Haben womöglich manche Wirtschaftsbosse die Lage neu bewertet und taxieren nun den Wert ihrer Aktienpakete doch höher als den eines Menschenlebens?
Am wahrscheinlichsten ist, dass in der Corona-Krise der 1. April auf den ganzen Monat ausgedehnt worden ist. Das wäre eine einleuchtende Erklärung für die mehrseitigen Wünsch-Dir-was-Pamphlete zum Infektionsschutz, die derzeit an den Schulen eintrudeln.
Ja, die Abstandsregeln, die darin eingefordert werden, lassen sich einhalten – aber nur, wenn man das Gesetz der Schwerkraft aufhebt und einige Schüler an der Decke schwebend lernen lässt. Und ja, fehlende Waschbecken lassen sich über Nacht einbauen, warmes Wasser, Flüssigseife und Desinfektionsmittel inklusive – aber nur, wenn man näher mit solchen Multitalenten wie Merlin, Catweazle oder dem Zauberer von Oz bekannt ist.
Eins ist jedenfalls klar: Was derzeit geschieht, wird nicht ohne Folgen bleiben. Deshalb hier drei Fragen an diejenigen, die ihren Verstand noch nicht vollständig an der Garderobe ihrer Ministerien abgegeben haben:

  1. Fällt euch eigentlich auf ,was für eine Anti-Werbung ihr derzeit für schulische und erzieherische Berufe macht? Habt ihr schon wieder vergessen, dass ihr gestern noch händeringend nach jungen Leuten gesucht habt, die euch dabei helfen würden, Lehrkräftemangel und KITA-Notstand zu beseitigen? Wer aber soll denn diese Berufe noch ergreifen, wenn ihr jetzt älteres Lehr- und Erziehungspersonal einfach per Dekret aus der Risikogruppe ausklammert? Wenn ihre eure Beschäftigten unzumutbaren Bedingungen aussetzt, sie wie Pappsoldaten an der Front verheizt und euch die Ohren zuhaltet, wenn sie euch vor den Folgen eures Tuns warnen?
  2. Glaubt ihr wirklich, man würde nach eurer stümperhaften Hotte-Hü-Politik einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass so die Politikverdrossenheit in offene Verachtung der politischen Klasse umschlägt? Und wird das am Ende nicht das gesamte Fundament des politischen Systems untergraben?
  3. Ist euch klar, dass die überstürzten Schulöffnungen nicht einfach ein weiteres Kapitel aus der langen Reihe von Pleiten, Pech und Pannen sind, derer ihr euch rühmen dürft? Wenn dieses Experiment schief geht, wird es Kommissionen und Tribunale geben wie sonst nur nach Kriegen und anderen menschengemachten Katastrophen. Dann wird es nicht heißen: Wieder einmal ein Jahr mit bildungspolitischem Tiefschlaf verloren. Sondern: Wer hat dies zu verantworten? Und: Wie kann er dafür zur Rechenschaft gezogen werden?

 

 

Bild. Peter H. Lost places (Pixabay)

5 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese klaren Worte! – Meine Mutter ist Lehrerin und hat gerade ihren 62. Geburtstag gefeiert. Bei meiner Tochter steht das Abitur an. Meine Tochter ist eine gute Schülerin. In anderen Zeiten hätte sie eine gute Prüfung geschrieben, aber sie hat weder irgendeine schulische Vorbereitung gehabt in den letzten Wochen noch kann sie sich überhaupt auf so etwas wie Prüfungen konzentrieren. Um meine Mutter habe ich fast schon Angst: Sie soll auch wieder in die Schule – in eine Schule, die noch nie ein Stück Seife auf den Schülerklos gesehen hat, die insgesamt einen vernachlässigten Eindruck macht. Geputzt wird dort allenfalls oberflächlich … Ich kann es nicht fassen: Im Radio wird über Mundschutz in der Öffentlichkeit geredet und die Lehrer sollen in Schulen arbeiten, wo noch nicht einmal ein Minimum an Hygiene besteht. Und: Sie haben Recht und das bestätigt auch meine Mutter, die eine engagierte Grundschullehrerin ist: Die Vorstellungen von Schule stammen in den Behörden wohl noch aus der guten alten Drillschule des vorletzten Jahrhunderts!

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    1. Hallo, lieber René, hoffentlich geht der Beitrag des NDR in die richtige Richtung. Die haben ja schon mal einen ganz guten Beitrag zum mangelhaften Rückbau gemacht. Aber oft kommen in den Beiträgen die kritischen Aspekte und dann wird mit einer Relativierung von den Befürwortern „abgerundet“.

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  2. Volltreffer! Danke! Ich bin Lehrerin an einer Gesamtschule. Um die Kinder, die es jetzt besonders schwer haben (enge Wohnungen, Streit und z.T. Gewalt in der Familie) kümmert sich keiner. Das Abitur rettet die Welt!- Und die Gesundheit der Lehrkräfte interessiert keinen. Ich bekomme noch nicht einmal einen Gesprächstermin als Personalrätin mit der Behörde. meine Gewerkschaft, die GEW,
    zeigt klare Kante, wird aber wohl auch nicht gehört.

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