Der Erste Mai als Impfung für die Demokratie

Maifeierlichkeiten in Corona-Zeiten

Crane_Proletarier_1888Am Ersten Mai feiert die Arbeiterbewegung sich selbst. Indem sie sich selbst feiert, feiert und stärkt sie aber zugleich die Demokratie. Das hätte uns gerade in diesem Jahr sehr gutgetan

Arbeiterbewegung und demokratische Freiheiten
Die Demokratie: Intensiv-Patientin oder Dauer-Pflegefall?
Tod durch das Virus – und durch den Anti-Virus-Kampf
Das Virus als Verbündeter der Politik

Arbeiterbewegung und demokratische Freiheiten

Immer noch Corona-Koller? Gut, dann sagen wir heute mal was Positives über die Corona-Krise: Sie zeigt uns, was wir der Arbeiterbewegung zu verdanken haben.
Hä? Doch-doch, ihr habt schon richtig gehört. Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, offene Grenzen – all das ist ebenso eine Voraussetzung für die Arbeiterbewegung, wie es andererseits durch diese auch befördert worden ist.
Bei der Versammlungsfreiheit leuchtet das unmittelbar ein. Hier zeigt uns die aktuelle Krise am deutlichsten, wie essenziell gerade diese Freiheit für die Arbeiterbewegung ist. Wer sich nicht physisch miteinander treffen kann, kann auch nicht als Bewegung agieren. Virtuelle Treffen bieten dafür keinen adäquaten Ersatz.
Offene Grenzen sind deshalb ein Grundbaustein der Arbeiterbewegung, weil diese undenkbar wäre ohne internationale Solidarität. Die Solidarität ist das Herzstück der Arbeiterbewegung. Sie ist aber wertlos, wenn sie nicht global gedacht und gehandhabt wird. Denn nur dann ist sie ein wirksames Gegenmittel gegen die Freiheit des Kapitals, die ihrem Wesen nach immer größer ist als die der stärker ortsgebundenen Arbeitskraft.
Die derzeit geschürte Angst vor Menschen aus anderen Ländern oder auch nur aus anderen Regionen ist daher nicht nur ein Mittel gegen die Ausbreitung des Virus. Sie dient auch ganz hervorragend dazu, die internationale Solidarität zu schwächen.
Die Bewegungsfreiheit ist, so betrachtet, ein Unteraspekt der internationalen Solidarität. Sie ermöglicht Treffen von ArbeiterInnen aus unterschiedlichen Ländern. Gleichzeitig ist auch sie eine, wenn auch schwache, Waffe gegen die Tendenzen des Kapitals, sich für seine Vermehrung immer den Ort mit den billigsten Arbeitskräften zu suchen. Wird der Druck auf die Arbeitskraft zu stark, erlaubt es die Bewegungsfreiheit den Arbeitskräften, sich in Menschen zu verwandeln und ebenfalls an Orte überzusiedeln, wo sie günstigere Existenzbedingungen vorfinden.
Es versteht sich von selbst, dass auch die Meinungsfreiheit eine Grundvoraussetzung der Arbeiterbewegung ist. Das Kapital hätte natürlich am liebsten meinungs- oder gar sprachlose Arbeitskräfte – weshalb jede Möglichkeit zur Automatisierung von Produktionsprozessen auch sofort dankbar ergriffen wird.
Nur ein Arbeiter, der bereit und fähig ist, sich kritisch zu den ihm aufgezwungenen Arbeitsbedingungen zu äußern, hält den Motor der Arbeiterbewegung in Schwung. Eben für diese Bereitschaft und diese Fähigkeit, kritisch zu denken und zu handeln, ist die Arbeiterbewegung der geeignete Nährboden. Sie stärkt die Einzelnen in ihrer Kritikbereitschaft und -fähigkeit, wie umgekehrt die aktions- und kritikbereiten Einzelnen die Arbeiterbewegung stärken und wirksam werden lassen.

Die Demokratie: Intensiv-Patientin oder Dauer-Pflegefall?

So sehen wir gerade an den leeren Versammlungsplätzen am diesjährigen Ersten Mai: Die Demokratie verdankt der Arbeiterbewegung viel, sehr viel. Wahrscheinlich können wir, ohne zu übertreiben, sogar sagen: Ohne Arbeiterbewegung hätte es unsere moderne Demokratie in ihrer heutigen Form nicht gegeben.
Eben deshalb meine ich auch, dass der Erste Mai eine gute Gelegenheit ist, sich noch einmal all der Dinge zu vergewissern, die derzeit verloren zu gehen drohen. Schon seit mehreren Wochen sind die demokratischen Grundrechte stark eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Je länger dieser Zustand andauert, je mehr unsere Sicherheits- gegen die Freiheitsbedürfnisse ausgespielt werden, desto größer wird die Gefahr, dass aus dem Ausnahme- ein Dauerzustand wird.
Deshalb sollte man sich auch noch einmal klar vor Augen halten: Es ist kein Naturgesetz, auf die Krise so zu reagieren, wie das derzeit in Deutschland geschieht. Andere Länder haben bei den ersten Anzeichen der Epidemie umgehend einen radikalen Lockdown beschlossen, dann aber, als die Infektionszahlen zurückgegangen sind, auch ebenso schnell wieder eine weitgehende Normalisierung des Alltagslebens eingeleitet.
Diese Länder haben die Demokratie gewissermaßen auf die Intensivstation geschickt und sie so bald wie möglich wieder in die Freiheit entlassen. Wir aber machen die Demokratie derzeit zum Pflegefall. Macht sich da etwa unser Großbaustellen-Gen bemerkbar? Müssen wir unbedingt an allem herumdoktern wie an einem Großflughafen, auf dem die Flugzeuge flügellahm werden?

Tod durch das Virus – und durch den Anti-Virus-Kampf

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass der schwedische Weg auch für uns der richtige gewesen wäre. In Schweden waren und sind die Voraussetzungen ganz andere als bei uns. Die Bevölkerungszahl ist viel niedriger, die Menschen leben weiter auseinander, das Präventionssystem ist viel effektiver als in Deutschland und der Gemeinsinn stärker entwickelt. Deshalb war es eher vertretbar, vermehrt auf die Eigenverantwortung der Menschen zu setzen und weniger Beschränkungen zu verfügen.
Will man so viele Menschenleben wie möglich schützen, ist ein kurzzeitiger radikaler Lockdown und ein anschließender besonderer Schutz der Risikogruppen allerdings sicher die bessere Wahl. Aber wie gesagt: Kurz und schmerzlos muss es sein, nicht lang und quälend.
Letztere Variante ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht fatal. Sie führt vielmehr auch den Gesundheitsschutz ad absurdum. Schon jetzt ist aus den Krankenhäusern zu hören, dass die Zahl der Herzinfarktpatienten paradoxerweise abnimmt – obwohl das Coronavirus, nicht anders als die Influenza, sowohl direkt als auch indirekt zu vermehrten Herzerkrankungen führt.
Die Erklärung ist einfach: Wer Herzprobleme hat, geht aus Angst vor einer Infektion in der Arztpraxis oder im Krankenhaus nur dann zum Arzt, wenn es gar nicht mehr anders geht. Herzinfarkte mit schweren oder gar tödlichen Verläufen werden in den Kliniken derzeit folglich auch häufiger beobachtet als vor der Corona-Krise.
Indirekt fördert das Virus Herzerkrankungen zudem auch durch den erhöhten Stress, dem wir alle durch die zu seiner Eindämmung ergriffenen Maßnahmen ausgesetzt sind. Ich denke dabei an die Folgen der Einsamkeit, die die Kontaktsperren bewirken, aber auch an den Dichtestress in den engen Wohnungen – und nicht zuletzt an den Lärmstress durch all die gelangweilten Heimwerker, die ihren Corona-Koller mit Dauerlärm zu betäuben versuchen.
Das Virus tötet hier also nicht direkt, sondern indirekt – durch seine bloße Existenz, durch die Angst, die es auslöst, und durch die Umstände, die es begünstigt. Es schwächt das Herz auch dann, wenn keine Infektion vorliegt – während gleichzeitig die Möglichkeiten und die Bereitschaft, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, geringer sind als sonst. Stressverstärkend wirkt zudem die Tatsache, dass es durch die Ausgangs- und Reisebeschränkungen keine Fluchtmöglichkeit gibt.
Hinzu kommen noch der Wegfall der Vorsorge- und Routineuntersuchungen sowie der „nicht lebensnotwendigen“ Operationen. Man muss kein Spezialist sein, um vorauszusagen. Manch aufgeschobener Eingriff wird womöglich in ein paar Monaten lebensbedrohliche Komplikationen nach sich ziehen.

Das Virus als Verbündeter der Politik

Der Erste Mai dient Jahr für Jahr der Feier der Solidarität und der Demokratie. Er ist ein sichtbares Zeichen gegen die angemaßte Allmacht des Kapitals und die weltweit zunehmenden autoritären Tendenzen. Dass einige nichts dagegen haben, wenn diese Feierlichkeiten dieses Jahr ausfallen, liegt auf der Hand.
Vielleicht ist das sogar der eigentliche Grund dafür, dass die pauschale Mundschutzpflicht in Nahverkehr und Geschäften ausgerechnet jetzt, in einer Zeit abnehmender Infektionsgefahr und gegen den Rat sogar des Weltärztepräsidenten, eingeführt worden ist. Der Mundschutz hält das Gefühl der Bedrohung wach. Er leistet etwas, das manch ein Politiker sich schon immer gewünscht hat. Er vermittelt die Botschaft: Wenn du nicht tust, was ich dir sage, trifft dich der Tod.
So entsteht der Eindruck: Die Politik hat Gefallen gefunden an der Bedrohung. Sie hat sich mit dem Virus angefreundet.
Zu Beginn der Epidemie war das noch anders. Da sah es so aus, als würde sich die Politiker-Riege das Heft aus der Hand nehmen lassen; als würden wir auf einmal vom Robert-Bosch-Institut regiert. Jetzt aber sind all die Virologen und Epidemiologen und Infektiologen nur noch Stichwortgeber, die virtuos gegeneinander ausgespielt werden. Wie, Virologe A empfiehlt, an den Geschäftsschließungen festzuhalten? Macht nichts, Virologe B versichert, die Geschäftsöffnungen seien völlig unbedenklich, wenn man die Läden auf einem Bein hüpfend betritt.
Auch Wissenschaftler sind eben nicht gegen Eitelkeit gefeit. Auch sie stehen gerne im Mittelpunkt. Notfalls werden dafür die Studien eben auch mal etwas abenteuerlicher interpretiert.
Nachdem die Politik das entdeckt hat, sitzen unsere Westentaschenkönige und -königinnen wieder sehr gerne auf ihren selbst gezimmerten Thronen. Ernst blicken sie in die Kameras der Hoffotografen und versichern, dass alles sich zum Guten wenden werde, wenn man ihnen nur gehorche.
Erster Mai? Demokratie? Solidarität? Grundrechte? Reisefreiheit? Alles maßlos überschätzt! Wie angenehm ist das Regieren doch, seit die Regierten nicht mehr aufmucken. Und seit wir ihnen den Mundschutz verpasst haben, sind sie sogar gesichtslos: eine anonyme Masse, die sich perfekt lenken lässt. Politikerherz, was willst du mehr!

 

Bild: Walter Crane: 1. Mai 1888, Holzschnitt (Postkarte); Quelle: Wikimedia

5 Kommentare

  1. „Das Virus als Verbündeter der Macht“ – diese Formulierung bringt es auf den Punkt. Selbst wenn man die Drucksache 12/17051 des Deutschen Bundestags aus dem Jahre 2013 nicht als Projektskizze für das, was sich sieben Jahre später ereignet, liest, kommt man nach der Lektüre dieses Papiers zu dem Schluss, dass die Macht diesen Verbündeten vorsätzlich eingelassen hat, denn es wurden keine Vorsichtsmaßnahmen (z.B. Bereitstellung medizinischer Masken statt selbstgebastelter Faschingsmasken) ergriffen und der Schutz der Bevölkerung durch Kontrolle aller Einreisenden, so lange es nur ging, hinausgeschoben. Die Macht probiert mithilfe ihres Verbündeten an den Bürgern aus, was man mit der Bevölkerung so alles machen kann.

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  2. Wenn der Arbeiter aus Frankreich, aus Peru, die Arbeiterin aus Deuschland, aus Polen, Usbekistan, China, Bolivien, Argentinien, Italien, der Schweiz merken, dass sie mehr gemeinsam haben als mit den Politeliten des eigenen Landes, dann wird es für sich richtig ungemütlich. Deshalb sind die Politeliten sehr bemüht Nationalismus zu stärken, Feindbilder zu schaffen, Solidarität unter Brüdern und Schwestern auf der Welt zu stören. Divide et impera!

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