Brotlose Beifallsrituale

Von eingeforderter und verweigerter Solidarität

Bei den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zeigt sich, dass die Lobeshymnen für die „Corona-Helden“ nichts als leere Worte waren. Von einer echten Wertschätzung für engagierte Arbeitsleistungen sind wir weit entfernt.

Verblassende Heldentaten

Kein Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen

Humanisierung der Arbeitsverhältnisse statt Corona-Trinkgeld!

Solidarität als Einbahnstraße?

Opferideologie: repressiv …

… und frauenfeindlich

Das Gespenst der Volksgemeinschaft

Infos zu den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst

Verblassende Heldentaten

Zahltag! Die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst böten eine gute Gelegenheit, die Beifallsbekundungen für das besondere Engagement, das manchen Berufsgruppen durch die Corona-Pandemie abverlangt wird, in klingende Münze umzusetzen.
Nur leider: Die Bilder sind verblasst! Die Krankenschwester, die aufopferungsvoll um das Leben der Corona-Kranken kämpft? Das erscheint heute wie ein vergilbtes Foto aus einem Poesiealbum.
Wie kann das sein? Die Realität in den Krankenhäusern sieht doch vielerorts nach wie vor genau so aus!
Meine Vermutung: Schuld ist „die Maske“. Denn Maskenpflicht bedeutet, dass die Erkrankten selbst schuld sind an ihrem Schicksal: zu viel gereist, zu viel gelacht, zu viel gefeiert, zu viel gesungen, zu wenig Maske getragen! Solch leichtsinnigen Zeitgenossen wieder auf die Beine zu helfen, wirkt weit weniger heroisch als der todesmutige Einsatz für unschuldig von feindlichen Mächten Bedrohte, als welcher der Kampf gegen das Virus anfangs dargestellt wurde.

Kein Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen

So herrscht bei den Tarifverhandlungen auch dieses Mal wieder „business as usual“. Wie jedes Mal pokert und schachert die Arbeitgeberseite wie auf einem orientalischen Basar, um die Arbeitskraft möglichst billig einkaufen zu können. Keine Spur von einer neuen Wertschätzung für die Beschäftigten.
Ja, hier und da sind Zulagen und Sonderzahlungen vorgesehen. Diese werden teilweise jedoch mit anderen Zahlungen verrechnet. Bedenkt man dann noch, dass die Gehaltserhöhungen teilweise von der Steuerprogression aufgefressen werden, bleibt von den Zusatzprozenten kaum mehr als ein Taschengeld übrig. – eine symbolische Anerkennung, von der man sich kaum mehr kaufen kann als von den Applausritualen aus dem Frühjahr.
Vor allem aber ist überhaupt keine Rede davon, die neue Sicht auf viele Arbeitsleistungen, die durch den Ausbruch der Corona-Pandemie bewirkt worden ist, auch in den Arbeitsverträgen abzubilden. Dies wäre gerade beim medizinischen Personal dringend notwendig. Nicht nur, weil es hier oft wortwörtlich um Leben und Tod geht. Vielmehr sind im Gesundheitsbereich Überstunden, Wechsel- und Doppelschichten nicht nur üblich, sondern ein fester Bestandteil des Systems.
Hier geht es also nicht nur um mehr Geld, sondern um eine bessere Ausstattung der Kliniken, ein Ende der Auslagerung medizinischer Dienstleistungen in die Hände gewinnorientierter Unternehmen sowie, eng damit verbunden, humanere Arbeitsverhältnisse – die letztlich uns allen zugutekommen würden. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Teilweise sind sogar Verschlechterungen angedacht – etwa, wenn für Rettungsdienste künftig 24-Stunden-Einsätze ermöglicht werden sollen.

Humanisierung der Arbeitsverhältnisse statt Corona-Trinkgeld!

Das medizinische Personal ist allerdings nicht das einzige, dessen besondere Bedeutung uns durch die Corona-Pandemie verstärkt vor Augen geführt worden ist. Ob Bus- und Lastwagenfahrer, Reinigungspersonal oder Beschäftigte in Supermärkten – überall wurde plötzlich die Unverzichtbarkeit des persönlichen Engagements und Verantwortungsgefühls für ein funktionierendes Gemeinwesen deutlich.
Die logische Folge daraus hätte eine konsequente Humanisierung der Arbeitsverhältnisse sein müssen, verbunden mit einer neuen, auch finanziell ausgedrückten Wertschätzung der Arbeitsleistungen. Der Mindestlohn allein hilft da nicht weiter – zumal er in zahlreichen Branchen nach wie vor durch ein in sich verschachteltes, undurchschaubares System von Subunternehmen unterlaufen werden kann. Dass diesen kriminellen Machenschaften jetzt in der Fleischindustrie ein Riegel vorgeschoben werden soll, erfolgt ja nicht aufgrund einer besonderen Wertschätzung für die Beschäftigten, sondern schlicht aus hygienischen Gründen.

Solidarität als Einbahnstraße?

So erweisen sich die Lobeshymnen auf all die vielen Corona-Helden heute als das, wonach sie schon damals klangen: als hohle Phrasen. Das neue Zeitalter der Solidarität, das zu Beginn der Corona-Krise ausgerufen worden war, ist offenbar eine Einbahnstraße.
Manche hatten ja ohnehin schon leise Zweifel beschlichen, ob die allen Klopapierkriegen zum Trotz beschworene neue Solidarität Wirklichkeit wäre. Dies gilt vor allem für jene, die sich dem Generalverdacht unsolidarischen Verhaltens ausgesetzt sahen. Insbesondere Lehrkräften wurde und wird immer wieder vorgeworfen, sich nicht ausreichend in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen – obwohl Notbetreuungen und die Gleichzeitigkeit von digitalem und analogem Unterricht für sie ebenfalls eine erhebliche Mehrbelastung mit sich gebracht haben.
So wurde bald deutlich, dass bei der Feier der Solidarität ein wesentliches Detail vergessen worden war: „Solidarität“ ist ihrem Wesen nach auf Freiwilligkeit gegründet. Wird sie eingefordert, so landen wir bei einer Opferideologie, die mit einem gelebten Miteinander recht wenig zu tun hat.

Opferideologie: repressiv …

Natürlich ist die Opferideologie nicht erst in der Corona-Krise entstanden. Sie war vielmehr schon immer ein beliebter Pfeil im Repressionsköcher der Machthabenden.
Hervorragend nutzen lässt sich der Pfeil etwa für die Rechtfertigung sozialer Einschnitte: „In der Krise müssen wir alle Opfer bringen!“ „Jetzt müssen wir alle den Gürtel enger schnallen!“ Das trifft die Hungerleider natürlich mehr als die Sektgesellschaften mit den ansehnlichen Wohlstandsbäuchen.
Aber nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Einschränkungen lassen sich mit der Opferideologie trefflich durchsetzen. „Ab sofort müssen wir alle enger zusammenstehen!“ „Zusammenhalt ist jetzt die erste Bürgerpflicht – Mäkelei ist gemeinschaftszersetzend!“ Mit solchen Parolen, die jede Form von Kritik an dem Handeln der politischen Entscheidungsträger wirksam unterdrücken, sind schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs der Burgfrieden und der sinnlose Opfertod Tausender junger Männer in den Schützengräben von Verdun erzwungen worden.

… und frauenfeindlich

Wird, wie aktuell in der Corona-Krise, speziell in Bereichen wie Bildung und Erziehung sowie Pflege und Medizin Opferbereitschaft eingefordert, so kommt noch etwas anderes hinzu. Denn dann bezieht sich die Opferideologie auf Berufsfelder, in denen Frauen von jeher überrepräsentiert sind. Sie bedient damit auch veraltete Geschlechterrollenklischees, denen zufolge die Frau sich für das Wohl des Mannes und der Kinder aufzuopfern und ihre eigenen Bedürfnisse dem großen Ganzen unterzuordnen habe.
Dies gilt auch für zahlreiche andere Berufsfelder, in denen in der Corona-Krise eine besondere Einsatzbereitschaft gefordert ist. So finden sich etwa auch unter den Kassiererinnen, die sich Tag für Tag wie Kriegerinnen für die Supermarktkämpfe rüsten und den alptraumhaften Reigen maskierter Gesichter an sich vorüberziehen lassen müssen, überdurchschnittlich viele Frauen.

Das Gespenst der Volksgemeinschaft

Die Opferideologie hat demnach mit Solidarität rein gar nichts zu tun. Was durch sie aktiviert wird, ist vielmehr das Gespenst der Volksgemeinschaft, in welcher der Einzelne mit seinen Wünschen und Problemen hinter dem Wohl der Gruppe zurückzustehen hat. In der Konsequenz wird Einzelnen dadurch gerade die Solidarität der Gemeinschaft verweigert, indem sie durch den Verweis auf höhere Interessen subtil dazu gedrängt werden, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.

Infos zu den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst

Haufe Online: Warnstreiks nach Arbeitgeberangebot für TVöD-Tarifrunde 2020; 21. Oktober 2020.

Interview von Philipp Jaklin mit Ver.di-Chef Frank Werneke: „Bittere Enttäuschung für Klinik-Personal“; tagesschau.de, 20. Oktober 2020.

Bild: Efes Kitap: Warnstreik (Pixabay)

4 Kommentare

  1. Die sozialen und ökonomischen Prozesse sind meines Erachtens zutreffend beschrieben. Was die Analyse der Ideologie angeht, so fehlen die Belege. Zuvor hat die ziemlich weit rechte Bewegung von dem zunehmenden Verlust des sozialen Zusammenhalts und dem Mangel an Solidarität in der Gesellschaft stark profitiert und das nationale Thema für sich ge- oder missbraucht (mit dem Refrain: Die Migranten kriegen alles und ihr nichts). Jetzt aber wird nicht von Volksgemeinschaft gesprochen. Es sind eher Linke, die trotz Hamsterkäufen, Denunziationen von Bürgern, die ihren Erstwohnsitz nicht in Schwesigland haben, usw. von Solidarität schwafeln. Es ist nicht anzuzweifeln, dass Frauen sowohl durch die Pandemie selbst als auch durch die autoritären Maßnahmen dagegen stärker belastet werden als Männer. Aber kehrt damit ein konservatives Frauenbild zurück? Ich habe eher den Eindruck, dass eine rechte Politik mit linker Ideologie ganz gut und sogar noch besser funktioniert.

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