Ilona Lay: Freiheit und Form

Über die Wechselwirkungen von Form und Ausdruckswillen in der Dichtung

Reichensteiner Poetik-Vorlesungen

English Version

In ihren Reichensteiner Poetik-Vorlesungen aus dem Jahr 2019 beschäftigt sich Ilona Lay mit den Wechselwirkungen von lyrischer Form und dichterischem Ausdruckswillen. Die sechsteilige Vorlesungsreihe wird in den kommenden Wochen (jeweils sonntags und mittwochs) auf rotherbaron.com dokumentiert.

Stärkt die dichterische Form den Ausdruckswillen, indem sie ihm eine Gestalt gibt, ihn wahrnehmbar macht und ihm damit quasi zu einer höheren Bewusstheit seiner selbst verhilft?
Oder verfälscht sie die Aussage, indem sie die Dichtenden zwingt, ihre Energie auf inhaltsfremde Aspekte zu konzentrieren?
Nimmt die dichterische Form dem Ausdruckswillen die Originalität, indem sie dem kreativen Akt formale Fesseln auferlegt?
Oder ergeben sich künstlerische Qualität und besondere Wirkung des Lyrischen gerade aus der Befähigung der Dichtenden, Form und Aussage, objektive Gestalt und subjektives Empfinden, äußere und innere Wirklichkeit miteinander zu versöhnen?

Dies sind die Fragen, um welche die hier angekündigte Vorlesungsreihe kreisen wird. Die sechs Teile sind den folgenden Themen und Dichtern gewidmet:

  1. Arno Holz‘ Plädoyer für eine „Revolution der Lyrik“
  2. Paul Verlaines Art poétique
  3. Form und Offenbarung: Rilkes Buch vom mönchischen Leben
  4. Lyrische Formen in postmodernen Zeiten
  5. Die Revolution und die Oden: Friedrich Hölderlins Diotima-Dichtung
  6. Zur Passung von Inhalt und Form in der Lyrik

Als kleinen Appetizer gibt es heute erst einmal ein neueres Gedicht von Ilona Lay:

Liebesgift

Eine Tigerin
ist meine Liebe. Unerbittlich
packt sie im Nacken und schüttelt mich,
bis meine Augen sich öffnen
für die Unerbittlichkeit der Welt.

Eine Bärin
ist meine Liebe. Heimtückisch
betäubt sie mit ihren Höhlenblicken mich,
bis meine Ohren sich öffnen
für die Heimtücke der Welt.

Eine Adlerin
ist meine Liebe. Schmerzhaft
hebt sie mit ihren Krallen mich auf,
bis meine Sinne sich öffnen
für den Schmerz der Welt.

Eine Kobra
ist meine Liebe. Verschwiegen
durchdringt ihr giftiger Kuss mein Herz,
bis meine Lippen sich öffnen
gegen das Schweigen der Welt.

English Version

Ilona Lay: Freedom and Form

On the Interrelation of Form and the Will of Expression in Poetry

Reichenstein Lectures on Poetics

In her 2019 Reichenstein Lectures on Poetics, Ilona Lay explores the interrelation lyrical form and the poetic will of expression. The six-part lecture series will be documented on rotherbaron.com in the coming weeks (every Sunday and Wednesday).

Does the poetic form strengthen the will of expression by giving it a form, making it perceptible and thus helping it, as it were, to a higher awareness of itself?
Or does it falsify the message by forcing the poet to use creativity for aspects unrelated to the content?
Does the poetic form take away the originality of the will of expression by imposing formal fetters on the creative act?
Or do the artistic quality and special effect of poetry result precisely from the poet’s ability to reconcile form and message, objective form and subjective feeling, outer and inner reality?
These are the questions around which the lecture series announced here will revolve. The six parts are dedicated to the following subjects and poets:

  1. Arno Holz‘ Plea for a „Revolution of Poetry“
  2. Paul Verlaine’s Art Poétique
  3. Form and Revelation: Rilke’s Book of Monkish Life
  4. Lyrical Forms in Postmodern Times
  5. Revolution and the Odes: Friedrich Hölderlin’s Diotima-Poetry
  6. On the Matching of Content and Form in Poetry

As a little appetizer, let’s start with a new poem by Ilona Lay:

Love Poison

My love
is a tiger. Relentlessly
he grabs me by the neck and shakes me,
until my eyes awaken
to the relentlessness of the world.

My love
is a grizzly bear. Insidiously
he stuns me with his cave eyes,
until my ears awaken
to the insidiousness of the world.

My love
is an eagle. Painfully
he lifts me up with his claws,
until my senses awaken
to the pain of the world.

My love
is a cobra. Silently
her poisonous kiss pierces my heart,
until my lips awaken
to break the silence of the world.

Bildnachweis /Picture credit: Jakob Emanuel Handmann (1718 – 1781): Euterpe [die Muse der lyrischen Dichtung / the muse of lyric poetry ] (1775); Schloss Jegenstorf, Kanton Bern (Wikimedia commons)

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s