Scharnierblick 2021/22: 2. Gendergerechte Sprache

Wer heute nach einem längeren Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkehrt, wird denken, dass die Deutschen von einer seltenen Sprachstörung befallen sind: der Genderolalie.

Irgendwann in den vergangenen Monaten hat irgendwer in irgendeiner Hinterstube beschlossen, dass fortan jede Personenbezeichnung strengstens genderpolizeilich überwacht zu werden hat.

Seitdem haben wir alle einen Knoten in der Zunge. Seitdem steht jedes Gespräch in der Gefahr, ins Stocken zu geraten, weil die Sprechenden Angst haben, sich einer sprachlichen Verfehlung schuldig zu machen. Seitdem sind all unsere Gespräche von einem grundsätzlichen Misstrauen unterlegt. Seitdem belauern wir uns gegenseitig in unseren Versuchen, die sprachlichen Klippen der neuen Neutrumssprache zu umschiffen.

Wer genau entschieden hat, dass jede Personenbezeichnung ab sofort zu einem Wortungetüm werden soll, das absolute Gendergerechtigkeit verheißt, ist unbekannt. Demokratisch legitimiert war die Entscheidung jedenfalls nicht. Oder habe ich den Allgemeinen Deutschen Sprachkonvent, auf dem wir alle zu einem offenen Diskurs und Entscheidungsprozess über die künftigen Konturen unserer Sprache eingeladen waren, nur verpasst?

Es gibt unzählige Argumente gegen diesen Generalangriff auf die deutsche Sprache. Das wichtigste ist vielleicht, dass die haarspalterische Art der Bezugnahme auf den Gender-Diskurs diesen am Ende selbst diskreditiert. Das wichtige und hochkomplexe Projekt einer Überwindung der alten Geschlechterrollen-Stereotypien auf die Korrektheit des sprachlichen Ausdrucks zu reduzieren, kann zudem eine Entlastung von gesellschaftlichem Handlungsdruck zur Folge haben und so das Gegenteil des Erhofften bewirken.

Für mich als jemanden, dessen wichtigstes Werkzeug die Sprache ist, ist das Entscheidende allerdings der Verlust an Spontaneität und Kreativität, den die Reglementierung der Sprache zur Folge hat. Es ist, als hätte die Bürokratie die Macht über  die Sprache übernommen.

So empfinde ich die Eingriffe der Gender-Bürokratie in den alltäglichen sprachlichen Ausdruck als einen Angriff auf meine geistige Unversehrtheit. Und weil eine solche Grundrechtsverletzung ohne jeden demokratischen Diskurs oder gar Entscheidungsprozess erfolgt, lässt mich dies auch an der Lebendigkeit der Demokratie in unserem Land zweifeln.

Beiträge zum Gender-Diskurs und zu gendergerechter Sprache 2021:

Exklusive Inklusivität. Zur Kritik am gesprochenen Gendersternchen. 17. Januar 2021.

Kleidung und Persönlichkeit. Wie wir uns durch die Kleidung formen – und wie die Kleidung uns formt. 14. Februar 2021.

Die unvollendete Emanzipation. Wie die Emanzipation die Emanzipation behindert. 7. März 2021.

Zehn Argumente gegen das gesprochene Gendersternchen. Eine Kritik der Unkritisierbaren. 23. Mai 2021.

Geschlechtergerechtigkeit als Zungenbrecher. Wie die sprachlichen Gender-Dogmen die Genderdiskussion diskreditieren. 16. Oktober 2021.

Bild: Robin Higgins: Bedeckter Mund (Pixabay)

7 Kommentare

  1. Ich gebe dir vollkommen recht. Das bereinigen von Sprache ist wie das Übertünchen von historischen Gebäuden Immer schon fiel mir in Deutschland die Fassadensucht auf: Auf die Fassade, darauf kommtes an. Nicht auf die Substanz. Sage ich „Zigeuner“ zu meinen Freunden, ist es eine Verfehlung, sage ich Roma und spucke hinter ihnen aus, ist es ok. Zum Glück scheinen sich die meisten Menschen im Alltagsgespräch nicht um die Vorgaben der Advokaten reiner Sprache zu scheren.

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  2. Darf ich noch einen Aspekt hinzufügen, dem m.E. kaum Bedeutung geschenkt wird? Wir lesen nur von Wissenschaftlerinnen, Sportlerinnen, Lehrerinnen….aber ich habe noch NIE Verbrecherinnen, Querdenkerinnen, ja nicht einmal Asylwerberinnen gelesen. Welch kranke Gesellschaft….

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    1. Nie gelesen? Hier eine Kostprobe! Auf dem Marktplatz gaben sich Querdenkerinnen und Querdenker, Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker, Impfverweigerinnen und Impfverweigerer, Esoterikerinnen und Esoteriker, Covidleugnerinnen und Covidleugner und weitere Kriminelle ein Stelldichein. Die Anwohnerinnen und Anwohner beschwerten sich bei den Ordnungshüterinnen und Ordnungshütern, da einige der Demonstrantinnen und Demonstranten keine Masken trugen
      Frage: Worin besteht der Unsinn? Im Gendern oder vielleicht noch mehr im Inhallt?

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  3. Danke! Vielleicht hängt meine selektive Wahrnehmung damit zusammen, dass ich als Österreicher weniger deutsche Medien lese. Bei uns gibt es keine Covidleugnerinnen und dergl. 🙂 Dafür werden bei uns an den Unis wissenschaftliche Arbeiten nicht mehr approbiert, wenn nicht richtig gegendert wurde.

    Wie Sie in Ihrem ersten Kommentar geschrieben haben, geht es ohnehin u.a, mehr um Fassade. Die tatsaechlichen Probleme, Hilfe für alleinerziehende Mütter, Lohngerechtigkeit….werden dabei – wie man in Deutschland sagt – aussen vorgelassen.

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  4. Ich bin mir tatsächlich gar nicht mehr so sicher, ob der Satz „Die Sprache prägt das Bewustsein“ stimmt. Wahrscheinlich haben Menschen, die bedenkenlos das N-Wort benutzen, ihre ganzen Vorurteile dabei im Kopf. Lehrpersonal, die von „L-Kindern“ sprechen, scheinen auch eine diskriminierende und eingeschränkte Sicht auf die Kinder zu haben. Woran ich aber ganz sicher nicht glaube – und da stimme ich dem Baron zu – ist, dass moralisch überladende Sprachdiktate irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen haben. Reflektion, Bewusstseinswandel und sprachliche Achtsamkeit müssen Hand in Hand gehen. Das geschieht aber m. E. nicht. Die neue Gendersprache ist eher ein Code, an dem sich „gebildete“ und/oder Besserverdienende gegenseitig erkennen. Mich erinnert das an ein ironisches Plakat, das ich mal an einer Bürotür gesehen habe. Darauf stand“Ab welchem Bildungsgrad muss ich denn zu Nudeln Pasta sagen?“ – Ja, welchen Bildungsgrad kann ich mit dem gesprochen Gendersternchen ausdrücken und von welchem „niederen Volk“ kann ich mich absetzen? Ja, Sprache formt das Bewusstsein, aber immer in der beabsichtigten Weise???????

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  5. So ernst nehmen Sie das alle hier? Ich bin weder sonderlich gebildet noch besserverdienend. Ich habe einen Job in der Psychiatrie und benutze da bisweilen ein Sternchen, „Liebe Bewohner*innen“, das verstehen sie auch dort. Und es ist ihnen schnuppe. Ich glaube, es ist eine Möglichkeit. Eine, die ich gut finde. Jede/r darf, niemand muss. Mal so, mal so, nach Lust und Laune und je nachdem, welcher Schwerpunkt gesetzt werden soll. Der Gedanke, dass die Sprache nicht nur ein Geschlecht ausdrücken sollte, ist doch nicht verkehrt. Und dann werden eben Wege gesucht. Im Grunde, ist es schon okay, wenn wir hier drüber schreiben. Je mehr im Bewusstsein, je besser. 🙂 Nehmen wir´´ es sportlich:). Son Sternchen ist doch auch hübsch.

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    1. Im Prinzip kann ich Ihnen Recht geben und das geschriebene Sternchen finde ich zumindest hübscher als der Doppelpunkt, der das Wort „zerhackt“. Allerdings wird das Ganze zum Problem, wenn öffentliche Einrichtungen ein „Sprachdiktat“ ohne Diskurs vornehmen. Das erinnert dann doch an die DDR und die Jahresendflügelfigur. Das ist dann Sprache aus dem staubigen Leitzordner und behindert gerade den Diskurs über Diversität. Auch der ständig moralisch erhobene Zeigefinger und die Belehrung, wenn man mal das heilige Gendern vergessen hat (Ich arbeite an einer Hochschule und spreche aus Erfahrung) nervt. Da geht es oft schon nicht mehr um Inhalte, sondern um Sprachhülsen und Konventionen. Überhaupt ist mein Eindruck, dass die Diversitätsdebatte sehr oberflächlich geführt wird. Über den Gegenpart, die Ausgrenzung von armen, psychisch kranken, geflüchteten und beinträchtigten Menschen und die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Ursachen der Exklusion wird kaum ernsthaft diskutiert. Es bleibt bei einer Fokussierung auf die geschlechtliche Orientierung und das Schwenken von bunten Fähnchen…. denn alles andere könnte meinen Lebensstil in Frage stellen. Mehr Reflexion und weniger Konvention täte der Gesellschaft gut, finde ich.
      Zum Schluss: Frohes Neues Jahr in die Runde.

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