Scharnierblick 2021/22: 5. Kriegerische Auseinandersetzungen

Die Kriege der Gegenwart spielen sich so weit entfernt von uns ab, dass wir den Eindruck haben, sie gingen uns nichts an. Gerade dadurch aber rücken sie uns näher.

Das Grauen hinter unseren Wohlstandsburgen

Hat es nicht etwas Obszönes, wie wir es uns hier in unseren Wohlstandsburgen gut gehen lassen, während andernorts Kriege brutalsten Ausmaßes toben?

Wenn ich an das vergangene Jahr zurückdenke, fallen mir spontan das Waterloo des Westens in Afghanistan ein und der immer weiter ausufernde Bürgerkrieg in Äthiopien. Hinzu kommen all die Dauerkonflikte, die wir längst in die Schublade der „frozen conflicts“ gepackt und so als Teil unseres Alltags akzeptiert haben. Hierunter fallen etwa der Krieg im Jemen oder in der Ostukraine, der Konflikt um Bergkarabach oder auch die andauernden Repressionsmaßnahmen gegen die Uiguren und Tibeter in China, die Rohingya in Birma (Myanmar) oder die Kurden in der Türkei.

Afghanistan: Waterloo des Westens

Natürlich kann man in all diesen Fällen sagen: Was bringt es den Not leidenden Menschen, wenn wir hier in Sack und Asche gehen? Das stimmt natürlich. Richtig ist aber auch: Die scheinbar so fernen Kriege sind in Wahrheit enger mit unserem Alltag verbunden, als es auf den ersten Blick aussieht.

Beim Afghanistankrieg ist das offensichtlich. Hier haben wir uns benommen wie Zwerge, die einem anderen Zwerg beim Kampf gegen einen böswilligen Riesen helfen wollten. Als wir aber gesehen haben, dass das für uns selbst mit Verlusten verbunden ist, anstatt uns die erhofften Vorteile einzubringen, haben wir unseren fernen Freund einfach im Stich gelassen und es uns wieder bei uns zu Hause gemütlich gemacht.

Bergkarabach: Gas ist wichtiger als Menschenrechte

Auch dass im Bergkarabachkonflikt Aserbaidschan beim Angriff gegen Armenien so freie Hand gelassen wurde, hängt unmittelbar mit unserem hedonistischen Egoismus zusammen – konkret mit dem Interesse an den aserbaidschanischen Erdgasvorkommen. Unser wirtschaftliches Wohlergehen hat uns hier unmittelbar davon abgehalten, unzweideutig Partei gegen den Aggressor zu ergreifen.

Türkei: Als Torwächter gegen Flüchtlinge immun gegen Kritik

Ähnlich sieht es im Fall der Uiguren und Tibeter aus, deren Interessen ebenfalls auf dem Altar der guten Wirtschaftsbeziehungen zu China geopfert werden. Die Türkei wiederum wird als Torwächter gegen Flüchtlinge benötigt und darf deshalb in den Kurdengebieten nach Belieben schalten und walten. So können etwa gewählte Bürgermeister – um ein eher harmloses Repressionsinstrument zu nennen – abgesetzt werden, wenn sie der türkischen Regierung nicht genehm sind.

All das spielt sich weit von uns entfernt ab. Allerdings: Je mehr wir dies zum Anlass nehmen, die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen zu verschließen, desto näher kommen uns diese.

Dies ist zunächst ganz konkret zu verstehen. Die Türkei etwa ist Weltmeister im Entführen Oppositioneller, die im Ausland buchstäblich gekidnappt werden, um daheim vor Gericht gestellt zu werden. Anders als der russische Kreml mit seinen Giftanschlägen oder der weißrussische Diktator Lukaschenko, der dafür ein Flugzeug zur Landung in Minsk gezwungen hat, verlegt die Türkei ihr Vorgehen dabei gewissermaßen unter den Radar. Für die breite Öffentlichkeit ist es daher kaum sichtbar.

Zunehmende Neigung zu gewalttätigen Konfliktlösungen

Darüber hinaus rücken uns die scheinbar so fernen Kriege aber noch in einem anderen Sinn näher. Dadurch, dass wir sie als Teil unseres Alltags akzeptieren oder ihnen zumindest nicht entschlossen Einhalt gebieten, werden auch bei uns Verhaltensweisen hoffähig, die Konflikte nicht im Dialog, sondern durch die Anwendung von Gewalt zu lösen versuchen.

Wie schnell eine scheinbar dialogorientierte Demokratie zu gewalttätigen Konfliktlösungsmustern überwechseln kann, hat zuletzt wieder der Katalonienkonflikt gezeigt. Während sich hier durch die neue spanische Regierung eine leichte Entspannung abzeichnet, spitzen sich andernorts – etwa in Bosnien-Herzegowina – die Konflikte wieder zu.

Notwendigkeit klarer Reaktionen auf Menschenrechtsverletzungen

Dies zeigt: Es liegt in unserem ureigensten Interesse, die Formel von den universellen, unteilbaren Menschenrechten nicht nur am Tag der Menschenrechte aus der Schublade zu holen. Nicht nur Kriege, sondern auch Ansätze zu gewalttätigen Konfliktlösungen müssen ohne Wenn und Aber geächtet werden. Die Urheber müssen umgehend benannt und entsprechend sanktioniert werden.

Denn wenn der Funke der Gewalt erst einmal auf das Stroh der grundsätzlichen menschlichen Aggressionsneigung trifft, wird der Krieg schneller zum Flächenbrand, als wir es uns in unseren vermeintlich sicheren Wohlstandsburgen vorstellen können.

Beiträge zum Themenkomplex 2021

Demokratieverständnis: Ungenügend. Zur Entscheidung des EU-Parlaments, die Immunität katalanischer Politiker aufzuheben. 10. März 2021.

Tödliche Ignoranz. Zum Scheitern der westlichen Afghanistan-Politik. 21. August 2021.

Palmweinphilosophie. Ein Sammelband mit Essays zu den Gesprächen mit Paula. 13. Mai 2021; enthält u.a. das Essay Todessehnsucht und Tötungsauftrag. Über einige Besonderheiten des Tötens im Krieg (S. 98 – 105).

Entfesselte Gewalt. Der Konflikt um die äthiopische Region Tigray. 8. September 2021.

Beitrag zum Bergbarabach-Konflikt (2020):

Armeniens Niederlage, Europas Schmach. Zum Konflikt um Bergkarabach. 18. November 2020.

Beitrag zum Thema auf LiteraturPlanet:

Die Gleichgültigkeit als Feindin des Friedens. León Giecos argentinisches Friedenslied Solo le pido a Dios (Das Einzige, worum ich Gott bitte)

Zum türkischen Staatskidnapping vgl:

Güsten, Susanne: Der lange Arm Ankaras. Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland. Deutschlandfunk, 22. Juni 2021.

Bild: Arnold Böcklin (1827 – 1901): Der Krieg (1896); Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister

2 Kommentare

  1. Ich empfinde das „wir“ in diesem Text als sehr problematisch. Was hier mit „wir“ bezeichnet wird, sind ja diejenigen, mit denen wir (= Du und ich und noch ein paar mehr) sich nicht identifizieren. Und dennoch sind gehören auch wir dazu, da wir dieses schäbige Parlament gewählt haben, das so etwas tut. Ob nun kriegerische Auseinandersetzung oder Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln, gerade mit denjenigen, die „wir“ am schärfsten verurteilen, machen „wir“ am liebsten Geschäfte. Vgl auch https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2020/01/23/mein-name-ist-innogy-ich-weis-von-nichts/

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    1. „Wir“ gehören dazu, da wir Bürger eines Staates und auch einer Lebensweise sind, die diese Entwicklungen mit begünstigen. Die Frage ist, was für Möglichkeiten wir dagegen als Einzelpersonen haben und wenn es sie gibt, ob wir bereit und in der Lage sind sie zu ergreifen. In diesem Sinne, ist das „Wir“ zu verstehen.

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