Literarische Miniatur zur Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland
Wie sich wohl die aus der Ukraine nach Russland verschleppten Kinder fühlen? Wie kommen sie damit zurecht, von jedem Kontakt zu ihren leiblichen Eltern abgeschnitten zu sein?
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Als man dir erzählt hatte, dass deine Eltern nichts mehr von dir wissen wollten, ja, dass sie dich regelrecht verstoßen hätten, war dir das gleich merkwürdig vorgekommen.
Natürlich litten sie – wie alle anderen um euch herum – unter der ungeheuren Last des Krieges;
darunter, dass sie sich in den Fängen eines unsichtbaren Feindes befanden, der jederzeit ihr Leben auslöschen konnte, ohne dass sie wussten, wann und warum er angreifen würde;
darunter, dass sie abends nicht wussten, ob sie am nächsten Morgen noch leben würden oder unter dem Trümmerhagel des Granatenbeschusses begraben wären;
darunter, dass sie nicht wussten, ob und wie sie ihrer Arbeit nachgehen und auf welcher Grundlage sie weiterleben sollten, wenn ihnen selbst für das Nötigste das Geld fehlte;
darunter, dass ihnen die Fluchtwege versperrt waren, weil diese entweder – für deinen Vater – nur noch tiefer in die Hölle des Krieges hineinführten oder euch der Willkür des unsichtbaren, unberechenbaren Feindes auslieferten.
Gerade deshalb war es dir aber ganz und gar nicht herzlos erschienen, dass deine Eltern dich in ein Ferienlager geschickt hatten. Keineswegs hattest du das Gefühl gehabt, dass sie dich damit abschieben oder gar für immer loswerden wollten.
In ihren Gesichtern hattest du keinerlei Andeutung von Erleichterung gelesen. Es war eher eine Mischung aus Fürsorge und Besorgnis gewesen, der Wunsch, dir etwas Abwechslung zu verschaffen, Urlaub vom Krieg, auch wenn die Trennung von dir ihnen in diesen ungewissen Zeiten alles andere als leicht fiel.
Und nun hast du schon seit einem halben Jahr keinen Kontakt mehr zu ihnen. Eines Tages war ein Bus in das Ferienlager gekommen, eine Frau mit der Maske eines Lächelns auf ihrem Gesicht war ausgestiegen und hatte die Namen von Kindern verlesen, die in die Obhut neuer Eltern gebracht werden sollten.
Eine Stunde später hattest du in dem Bus gesessen. Wie Traumbilder waren Bäume, Flussläufe und die weiten Ebenen an dir vorbeigezogen. Und wie in einem Traum hattest du dich auch in dem Heim gefühlt, in dem du am Abend ankamst. Wie schlafwandelnd hattest du dich durch die dunklen Korridore bewegt und mit den anderen Kindern, die dich aus ebenso weiter Ferne ansahen wie du sie, an der langen Tafel in deiner Suppe gelöffelt.
Auch als du nach ein paar Tagen von deinen neuen Eltern abgeholt wurdest, hattest du dich selbst neben ihnen wie eine Traumgestalt gesehen, wie etwas Unwirkliches, das zerplatzen würde, sobald du die Augen aufmachen würdest.
Zugegeben, deine neuen Eltern waren sehr um dich bemüht. Sie, die selbst keine Kinder hatten, gaben dir von Anfang an das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und lasen dir jeden Wunsch von den Lippen ab. Gleichzeitig sahen sie dich jedoch immer mit diesem seltsam besorgten Blick an – so, wie man einen Menschen ansieht, der unter einer schweren Krankheit leidet und von dem man nicht weiß, ob er je wieder ganz gesund werden wird.
Auch durftest du mit deinen neuen Eltern nicht in deiner Sprache sprechen. So blieben sie für dich letztlich doch Fremde. Ein wenig erinnerten sie dich an die Geschichten von den freundlichen Unbekannten, vor denen deine Eltern dich immer gewarnt hatten: „Steig bloß nicht zu ihnen ins Auto – ganz egal, wie hell die Lollis in ihren Händen dich anfunkeln!“
Und nun hast du ein Gespräch belauscht, das mit einem Mal den Vorhang aus Freundlichkeit und Entgegenkommen zerrissen hat.
„Ich habe dir ja gleich gesagt, dass das keine gute Idee ist!“ hatte der Mann, den du als „Papa“ anreden sollst, zu der Frau gesagt, die du als „Mama“ anreden sollst. „Wir hätten besser auf ein normales Kind aus unseren Heimen warten sollen.“
„Es war doch nur ein einmaliger Ausrutscher“, widersprach ihm die Frau. „Mit der Zeit wird sich das sicher wieder legen.“
Der Mann lachte höhnisch auf. „Das glaubst du doch selbst nicht! Jeden Tag haben wir es mit einer anderen Macke zu tun! Und dann erst dieser verstockte Blick! Das ewige Gestottere! Diese lädierte Sprache! Nein, ich denke, das hat einfach etwas mit der Herkunft zu tun. Mit einem Kind von hier wäre das alles nicht passiert.“
Dir war natürlich sofort klar gewesen, was der Anlass für das Gespräch war. Am Morgen hattest du beim Aufwachen eine seltsame warme Nässe unter dir gespürt. Dazu war dir ein unangenehm süßlicher Geruch in die Nase gestiegen.
Erst allmählich war dir bewusst geworden, was das bedeutete: Du hattest, wie man so sagt, „ins Bett gemacht“.
Die Frau, die du „Mama“ nennen sollst, hatte dir keine Vorwürfe gemacht. Der besorgte Blick, mit dem sie dich die ganze Zeit über ansah, wirkte aber noch etwas beunruhigter als sonst. Vorwürfe wären dir lieber gewesen.
„Meinst du, wir sollen beim Fürsorgeamt eine Rückgabe beantragen?“ hatte die Frau schließlich gefragt. „Oder vielleicht einen Umtausch? Es kann ja sein, dass andere Kinder weniger gestört sind.“
„Ach was!“ winkte der Mann ab. „Die Kinder von da drüben sind doch alle nur zweite Wahl. Wie ein Trostpreis in der Lotterie. Auf so etwas lasse ich mich nicht mehr ein.“
Als du abends im Bett die Augen zumachtest, verfolgte dich das Gespräch in deine Träume. „Vielleicht sollten wir den Wechselbalg auf dem Markt verkaufen“, hörtest du da den Mann sagen. „Wer sich aufs Ausstopfen versteht, kann womöglich noch eine passable Puppe daraus basteln.“
„Oder einen fetten Braten damit zubereiten“, ergänzte die Frau, mit der Zunge schnalzend. „Mit Salbei und Thymian müsste sich der fade Beigeschmack doch übertünchen lassen.“
Die Gesichter der beiden sahen auf einmal gar nicht mehr freundlich aus. Ihr Lächeln weitete sich zu einem hämischen Grinsen, und hinter ihren gespreizten Lippen blitzten die spitzen Zähne von Raubtieren auf.
Mit pochendem Herzen schrecktest du aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang hattest du gedacht, das Pochen käme von deiner Mutter, deiner wirklichen Mutter, die verzweifelt an deine Tür klopfte, um dich vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Was sie jetzt wohl gerade tat? Und dachte sie von dir dasselbe, was du von ihr denken solltest – dass du sie böswillig verlassen hattest, weil dir das Leben mit ihr zu unbequem war? War dein Vater noch bei ihr? Oder hatte ihn längst der Schlund des Krieges in sich aufgesogen?
Dir wurde schwindlig. Du fühltest dich wie auf einem sich immer schneller drehenden, unaufhaltsamen Karussell, das dich die Welt nur noch als eine Ansammlung unzusammenhängender Scherben wahrnehmen ließ.
Wie solltest du nur je wieder aus dem Labyrinth dieser vergifteten Wirklichkeit herausfinden?
Bild: Alf-Marthy: Junge am Fenster (Pixabay)
https://ukraineadoption.de/
https://dlf.ua/de/adoption-von-kindern-in-der-ukraine-vorschriften-und-verfahren/
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