Eine Reise nach Tschechien
Die musikalische Sommerreise auf rotherbaron führt uns in diesem Jahr jeden Mittwoch nach Tschechien. Den Anfang machen zwei philosophische Lieder über das Reisen.
Kafka meets Schwejk
Tschechien war schon häufiger Ziel der musikalischen Sommerreisen auf rotherbaron. Gleich die erste Musikreise im Jahr 2016 enthielt einen Abstecher in unser Nachbarland.
Was mich an der tschechischen Musikkultur besonders angezogen hat, war und ist eine besondere Mischung aus Humor und Poesie, durchzogen von einer oft sehr originellen Musik. Der Humor basiert dabei seinerseits wieder auf zwei scheinbar unvereinbaren Komponenten. In gewisser Weise verbinden sich dabei Kafkas Parabeln über das Labyrinth der menschlichen Existenz mit Jaroslav Hašeks Schwejkiaden, den Geschichten von dem „braven Soldaten Schwejk“, der dem Schicksal immer wieder ein Schnippchen schlägt.
Viele tschechische Lieder strahlen ein besonderes Gespür für die Absurdität des Lebens aus, dafür, dass alles menschliche Streben notgedrungen im Nichts enden muss. Die Reaktion darauf ist jedoch nicht Verzweiflung, sondern im Gegenteil eine trotzige Hinnahme des Unabänderlichen.
Vielleicht könnte man darin sogar eine lebenspraktische Umsetzung jener Auflehnung sehen, die Albert Camus als adäquate Reaktion des Menschen auf die Absurdität seines Schicksals ansah. Zwar können wir, von Geburt zum Tode verurteilt, das letztendliche Scheitern all unserer Träume nicht verhindern. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir dieses Faktum auch zur Grundlage unseres alltäglichen Handelns machen müssen.
Humorvolle Auflehnung gegen die Absurdität des Daseins
Die absurde Auflehnung gegen das Unabwendbare bedeutet im Alltag, dass wir so handeln, als wäre unser Tun nicht zum Scheitern verurteilt; dass wir also wie Sisyphos den Stein immer wieder den Berg hinaufrollen, obwohl wir wissen, dass er danach doch wieder ins Tal hinabrollen wird.
Das Heroische, das mit dieser Einstellung bei Camus verbunden ist, wird in der tschechischen Musik und Literatur oft durch den Humor ersetzt – oder zumindest kräftig damit gewürzt. Das Carpe diem erhält dabei ein deutlich stärkeres Gewicht als das Memento mori. Nach dem Motto: Kann sein, dass mir morgen der Himmel auf den Kopf fällt. Bis dahin möchte ich mein Leben aber noch so richtig genießen.
Die Eintagsfliege genießt den Augenblick
Einen schlüssigen Ausdruck findet diese Lebenseinstellung in einer spezifischen Bezugnahme auf das Motiv der Lebensreise. Der Gedanke, dass wir von einem Nichts in das andere reisen, wird dabei augenzwinkernd hingenommen. Die Eintagsfliegenrealität des menschlichen Daseins wird relativiert, indem der Akzent auf den gelebten Moment gelegt wird.
Auch dies ist eine Form der Auflehnung gegen die Absurdität der menschlichen Existenz. Im Kern beruht die Revolte hier schlicht auf einem Perspektivenwechsel, bei dem nicht mehr die gesamte Lebensspanne, sondern der einzelne Augenblick in den Mittelpunkt gerückt wird. Wer ihn richtig genießt, kann damit das Fallbeil der Zeit austricksen und ein Gefühl für die uns verschlossene Ewigkeit gewinnen.
Zwei tschechische Reiselieder
Nach dieser Vorrede kann ich kaum anders, als diese musikalische Sommerreise mit den beiden Reiseliedern zu beginnen, die als erste Boten der tschechischen Musikkultur in meinen Musikreisen aufgetaucht sind. Der Einfachheit halber führe ich Begleit- und Liedtexte im Folgenden noch einmal auf.
Traband: Ein blinder Passagier als Straßenmusiker
In dem 2004 herausgebrachten Lied Černej pasažér (Der blinde Passagier) der Band Traband geht es um einen Menschen, der „ohne Ziel und Richtung“ durchs Leben reist. Er fühlt sich entwurzelt und heimatlos, sein Zuhause existiert nur noch in der Erinnerung. Es ist so weit entfernt, dass er es nur noch in verzerrter Form (als „Fratze“) wahrnehmen kann, wenn er daran zurückdenkt. Obwohl er das Gefühl hat, „in die verkehrte Richtung“ zu reisen, folgt er doch weiter seinem Weg, der ihn von „nirgendwoher (…) nirgendwohin“ führt.
Diese melancholisch klingende Beschreibung der eigenen Lebenssituation wird in dem Videoclip zu dem Song auf humorvolle Weise kommentiert. Der Reisende ist hier ein Mann mit abgetragenem Anzug und einem viel zu großen Koffer, der am Ende im Nirgendwo der tschechischen Provinz strandet.
Parallel dazu betätigen sich die Bandmitglieder als Straßenmusiker. Dabei gruppieren sie sich erst allmählich, einer nach dem anderen, um den anfangs einsamen Sänger. Ein Bandmitglied wird gerade aus der Wohnung geworfen und stößt in Unterwäsche zu der Band, ein anderes muss sich erst aus seinem Pappkarton-Bett schälen und benutzt dann die Mülltonnen als Drums.
Daraus ergibt sich eine Situationskomik, die eine ironische Distanz zu dem schwermütigen Text aufbaut. Auch die Musik – insbesondere das wie ein Refrain eingesetzte Trompetensolo – wirkt eher heiter-lakonisch als melancholisch.
Circus Cermaque: Poetische Reise in ein Kellergewölbe
Im Unterschied zu dem Lied Černej pasažér gibt es in dem 2011 erschienenen Song Krkavec (Der Rabe) der Gruppe Circus Cermaque durchaus ein klar identifizierbares Reiseziel – nämlich die Stadt Ostrava. Diese steht hier jedoch eher stellvertretend für einen fiktiven Sehnsuchtsort, als dass ihr eine konkrete Bedeutung zukäme.
Wie die Reise bei Traband von „nirgendwoher (…) nirgendwohin“ führt, heißt es daher auch in Krkavec explizit, man bewege sich „von einem Irgendwo zum andern“. Dies verdeutlicht auch der Videoclip, in dem die Reisenden am Ende die Stadt zwar erreichen, dabei jedoch in einem x-beliebigen Kellergewölbe landen, das die Anstrengungen ihrer Reise kaum zu rechtfertigen scheint.
Wichtiger sind denn wohl auch die metaphorischen Verweise, die sich in dem Text finden. So scheint das Lied auf den Topos des Sünders anzuspielen, der nach seinem Tod einem in Not geratenen Menschen zu Hilfe eilt und so die eigenen Verfehlungen sühnt.
In Krkavec handelt es sich bei dem Hilfsbedürftigen um einen verirrten Wanderer bzw. Vagabunden, dem durch einen – als schwarzer Rabe in Erscheinung tretenden – „gefallenen Heiligen“ der Weg gewiesen wird. In einer Art Traumreise sieht sich der Verirrte auf „Flügeln aus Rauch“ durch die Lüfte schweben, während der kolibriblaue Schatten des Raben ihn behütet.
Das Video zu dem Lied setzt die Traumreise in poetischen Bildern um, ironisiert diese aber zugleich, indem es den gefallenen Heiligen als selbst gemalten Pappkameraden in Erscheinung treten lässt. Dieser Mehrdimensionalität entspricht auch die Musik, in der sich drangvolle, das Vorwärtsstreben der Reisenden widerspiegelnde Gesangspassagen mit verträumten Klavier- und Violine-Intermezzi abwechseln.
Lieder und Texte
Traband: Černej pasažér (Der blinde Passagier)
Ich habe einen Koffer voll überflüssigem Krempel
und eine in Leinen gebundene Landkarte.
Mein Zug fährt jedoch in die verkehrte Richtung,
und meine Fahrkarte ist schon lange ungültig.
Irgendwo in meiner Erinnerung gibt es ein Haus,
aus dem Schornstein steigt Rauch in die Luft.
In diesem Haus ist der Tisch für mich gedeckt,
dort ist meine Heimat.
Zur Grimasse erstarrt, ist das Gestern
ein schleichendes Gift für mein Herz.
Der Baum, der sich zum Himmel streckte,
liegt nun wurzellos am Boden.
Ich bin ein blinder Passagier,
ich reise ohne Ziel und Richtung,
ich fahre schwarz und weiß nicht, wohin.
Ich bin ein blinder Passagier,
ich reise ohne Ziel und Richtung,
von nirgendwoher fahre ich nirgendwohin,
und ich weiß nicht, wo es enden wird.
Mein Leben ist ein verblasstes Farbfoto
aus einem vergangenen Jahrhundert.
Dies und meine Heimatlosigkeit
sind alles, was mir geblieben ist.
Ich bin ein blinder Passagier …
Traband: Černej pasažér aus: Hyjé! (Hü!; 2004)
Videoclip:
Circus Cermaque: Krkavec (Der Rabe)
Auf einem schwarzen Draht
sah ich einen schwarzen Raben,
einen gefallenen Heiligen,
der sich meines Vagabundenlebens
angenommen hat.
Die ganze Zeit über hörte ich sein Krächzen
auf dem schwarzen Draht.
// Schwarzer Engel, //
// Schwarzer Engel //
Ich taste mich durch den aschgrauen Himmel,
es ist noch weit bis Ostrava,
es ist noch weit bis Ostrava.
Ich taste mich durch den aschgrauen Himmel,
mit nichts als dem schimmernden Mond
als Wegweiser.
Es ist noch weit bis Ostrava,
es ist noch weit bis Ostrava.
Ich habe Flügel aus Rauch,
und obwohl ich ohne Gegenwind
meinem Ziel entgegenfliege,
ist es weit bis Ostrava.
Wie ein blauer Kolibri
ist der Schatten des Raben.
Ich fliege an einem Fluss entlang,
den ich überquere auf den Schwingen
einer flüchtigen Berührung,
einer lebendigen Brücke
von einem Irgendwo zum andern.
Den Schlaf hebe ich mir für übermorgen auf,
ich lebe in meinen Träumen.
Die Wolken erzittern,
während der Kolibri
seine Liebe bewacht.
Ich komme voran,
ich komme voran …
Circus Cermaque: Krkavec aus: Divozemí (2011)
Videoclip:
https://www.karaoketexty.cz/texty-pisni/cermaque/krkavec-628669
Über Traband und Circus Cermaque

Die bis 2016 aktive Band Traband ist Mitte der 1990er Jahre von dem 1966 in Kolín geborenen Songschreiber und Sänger Jarda (Jaroslav) Svoboda, der sich auch als bildender Künstler betätigt, gegründet worden. Der Name „Traband“ leitet sich ab aus der Anfangszeit der Band, als diese als Trio auftrat. Aus „Trio-Band“ wurde später, in Anlehnung an den ostdeutschen „Trabi“, „Traband“. Die Bandmitglieder bezeichneten sich auch selbst als „Trabanditen“.
Die in dem Video zu dem Song Černej pasažér dargebotene Straßenmusik hat eine reale Entsprechung in den Straßenbahnkonzerten, welche die Band zwischen 1997 und 2002 im Rahmen des regulären Prager Tram-Betriebs gab.
Circus Cermaque ist ein Musikprojekt von Jakub Čermák, das dieser zusammen mit einer Anzahl von Bekannten umgesetzt hat. Der 1986 als Sohn des Musikers Miroslav Wanek geborene Čermák schreibt Gedichte, die er teilweise selbst vertont und unter dem Künstlernamen Cermaque herausbringt.

Čermák ist auch an diversen anderen künstlerischen Projekten beteiligt. So gründete er bereits 2007 zusammen mit Martin Kučera und Anna Sypěnová die GruppeŠácholan (Magnolie). An der Technischen Universität Brno (Brünn) hat er sich mit Film- und Videokunst beschäftigt, was sich auch in der künstlerischen Qualität der Videoclips zu seinen Liedern niederschlägt.
Zu Albert Camus vgl. dessen Essay Le Mythe de Sisyphe (1942; PDF); dt. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1950). Neuausgabe 2000 u.d.T. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek: Rowohlt.
Bilder: Julius Silver: Blick über die Moldau auf Veitsdom und Prager Burg (Pixabay); Vladislav Steinbauer: Die Band Traband (links Jarda Svoboda) bei einem Auftritt im südtschechischen Tábor, Juli 2004 (Wikimedia commons); Jan Makura: Jakub Čermák bei einem Auftritt auf dem Festival Živá ulice (Lebendige Straße) in Plzeň (Pilsen), August 2018 (Wikimedia commons; Ausschnitt)
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