Das Rot(h)e Ohr

Die Radiofeature-Awards auf rotherbaron/1

Auch in diesem Jahr werden auf rotherbaron wieder die Radiofeature-Awards vergeben. Zu Beginn werfen wir einen Blick auf die diesjährigen Produktionen der im vergangenen Jahr Ausgezeichneten.

1. Ukraine-Features von Christine Hamel und Inga Lizengevic

Auszeichnungskriterien und Aufbau der Reihe

Zum dritten Mal wird in diesem Jahr auf rotherbaron das „Rothe Ohr“ vergeben. Mit der Auszeichnung soll der Blick auf Radiofeatures gelenkt werden, die durch besondere Originalität, ein besonderes persönliches Engagement und durch hohe Qualität in der Umsetzung der Thematik herausstechen. Eine genauere Beschreibung der Kriterien findet sich im Anhang an diesen Beitrag. 

Wie im vergangenen Jahr soll auch dieses Mal zunächst wieder ein Blick auf die neuen Produktionen der im Vorjahr Ausgezeichneten geworfen werden. Sowohl Christine Hamel und Inga Lizengevic als auch Raul Zelik, dem der nächste Beitrag in dieser Reihe gewidmet sein wird, haben gemeinsam mit den Teams der jeweiligen Rundfunkanstalten auch in diesem Jahr wieder äußerst hörenswerte Features kreiert.

Die drei folgenden Beiträge werden dann den neu Ausgezeichneten gewidmet sein. Die Hör-Tipps gibt es ab nächster Woche jeweils mittwochs, bis Ende November.

Innenansichten des Krieges

Christine Hamel und Inga Lizengevic haben jeweils Features über die Ukraine herausgebracht. In beiden Fällen werden die kriegerischen Ereignisse aus der Sicht der Betroffenen geschildert. Dennoch unterscheiden sich die gewählten Perspektiven voneinander.

Inga Lizengevic kontrastiert den Vorkriegsalltag mit dem Ausbruch des Krieges, den viele trotz unverkennbarer Anzeichen für den bevorstehenden russischen Angriff für unvorstellbar hielten. Als roter Faden dient dabei die von ihr organisierte Flucht ihrer Eltern aus Kiew. Das Feature macht das namenlose Entsetzen der Menschen greifbar, ihre Fassungslosigkeit darüber, sich auf einmal in einer alptraumhaften Realität wiederzufinden, die ihnen auch dann noch surreal erscheint, als sie gezwungen sind, in ihr zu leben.

Das Feature von Christine Hamel ist dagegen eine Collage von Stimmen aus Butscha, jenem Vorort von Kiew, der wie kein anderer für das Grauen der russischen Besatzung steht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Berichte eines Mannes, der im Hauptberuf Journalist ist, aufgrund seines familiären Hintergrunds aber lange in der Pathologie gearbeitet hat.  Deshalb hat er sich bereitgefunden, die in Butscha in Massengräbern beerdigten, teilweise aber auch einfach auf der Straße zurückgelassenen Toten einzusammeln, zu bestimmen und würdig zu bestatten.

Die Realität des Surrealen

Natürlich haben wir alle schon von den Geschehnissen gehört, über die in den beiden Features berichtet wird. Es ist aber etwas anderes, darüber nur Bescheid zu wissen oder die Ereignisse von den Betroffenen selbst geschildert zu bekommen. Das Grauen erhält dadurch einen Namen, ein Gesicht, es wird greifbar – und tritt eben dadurch in seinem unfassbaren Charakter vor Augen.

Beide Features enthalten Passagen, die für Menschen in der kuscheligen Wohlstandswelt eine emotionale Herausforderung darstellen. In dem Feature von Christine Hamel sind dies etwa

  • der durch nichts zu stillende Schmerz einer Mutter, deren Sohn vor ihrer Haustür erschossen worden ist;
  • die Fassungslosigkeit einer alten Frau, in deren Haus die fremden Soldaten die Fenster zerschießen, obwohl ihr Mann mit einem Herzinfarkt im Bett liegt;
  • die Schilderungen der Gewaltorgien der russischen Besatzer, die Menschen wie bei einem Videospiel auf der Straße erschießen, weil sie Wasser holen oder einen nach draußen gelaufenen Hund ins Haus zurücklotsen wollen.

Im Feature von Inga Lizengevic leidet man

  • mit dem jungen Mann, der das Trauma der Kriegsereignisse von 2014/15 mühsam durch ein Psychologiestudium bewältigt hat und nun erleben muss, wie die seelischen Wunden durch den russischen Angriff erneut aufbrechen und seine Zukunft erneut ein einziges Trümmerfeld ist;
  • mit der jungen Frau, die nach der ersten russischen Angriffswelle bei jedem ungewohnten Geräusch zusammenzuckt;
  • mit dem Soldaten, der von dem elenden Sterben an der Front erzählt und sich dabei gleichermaßen gegen das Heldenpathos der staatlichen Kriegsberichterstattung verwahrt wie gegen den Gedanken, ein ukrainischer Soldat sei ein legitimes Kriegsziel, nur weil er sein Land verteidigt.

Aufklärerische Funktion der beiden Features

Die Features machen auf je eigene Weise die Brutalität nachvollziehbar, mit der hier aus purer Eroberungslust Menschen getötet und gefoltert, ihrer Zukunftsperspektiven und ihrer Lebensfreude beraubt werden. Dies mag schwer zu ertragen sein. Dennoch ist es wichtig, sich dem zu stellen, weil eben dies leider die Realität ist.

Seit geraumer Zeit scheint sich die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine vielerorts abzuschwächen. Es ist ein bisschen wie bei einem Menschen, der die Diagnose einer tödlichen Krankheit erhält. Anfangs reagieren alle mitfühlend und bieten ihm ihre Hilfe an. Mit der Zeit überwiegen jedoch Tendenzen der Abwehr und Verdrängung: Man gibt dem Kranken selbst die Schuld an seinem Schicksal und zieht sich sukzessive zurück, weil man ja schließlich ohnehin nichts an seinem Los ändern könne.

Nichts wäre jedoch gefährlicher als die Übertragung einer solchen Reaktion auf den Fall der Ukraine. Der Terrorpate im Kreml hat mehrfach deutlich gemacht, dass es ihm nicht um einzelne Gebietsansprüche, sondern um die Unterwerfung der gesamten Ukraine geht. Sein Fernziel ist ein neues Großreich, das alle einst von der Sowjetunion und dem Zarenreich beherrschten Gebiete umfasst und letztlich die Herrschaft über ganz Europa bedeuten würde.

Wer also heute den Kopf in den Sand steckt, wird morgen vielleicht ganz unter der Erde liegen.

Link zum Feature von Christine Hamel:

Der Totengräber von Butscha – Stimmen aus einer geschundenen Stadt. Bayerischer Rundfunk, Erstausstrahlung am 13. Mai 2023.

Sprecherinnen und Sprecher, Tontechniker, Regisseur und verantwortlicher Redakteur werden am Ende des Features namentlich erwähnt.

Infos zu Christine Hamel finden sich auf der Website des Picus-Verlags, wo die Autorin ein Buch über Sankt Petersburg veröffentlicht hat.

Link zum Feature von Inga Lizengevic:

Und am Donnerstag war dann Krieg. Russlands Angriff auf die Ukraine; Deutschlandfunk/ORF, Erstausstrahlung am 21. Februar 2023.

Regie: Inga Lizengevic

Sprecherinnen und Sprecher: Meriam Abbas, Alexander Khuon, Imogen Kogge, Ole Lagerpusch, Inga Lizengevic und  Martin Seifert

Ton und Technik: Alexander Brennecke

Redaktion: Wolfgang Schiller

Auswahlkriterien für die Radiofeature-Awards

Die ausgewählten Features zeichnet jeweils eine besondere Verbindung von persönlichem Engagement und künstlerischer Gestaltung aus. Engagiert zu sein, bedeutet dabei stets auch: präsent sein; sich einmischen; die eigenen Recherchen reflektierend begleiten.

Die ausgezeichneten Features weisen oft auch eine hohe künstlerische Qualität auf. Dies ist allerdings keineswegs gleichbedeutend mit Fiktionalität. Der künstlerische Charakter beruht vielmehr – außer auf der hohen Qualität bei der Umsetzung des Projekts – darauf, dass die Ausstellungshalle der Fakten sich hier organisch mit dem Wandelgang der Reflexionen verbindet.

Die Fakten werden also nicht einfach als solche hingenommen und „nackt“ präsentiert. Stattdessen wird immer wieder vor Augen geführt, dass es eine rein objektive Bedeutung streng genommen gar nicht geben kann, da Bedeutung sich stets erst über die Reflexionsprozesse der beteiligten Personen herstellt, welche die Fakten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Erfahrungen analysieren und einordnen. Dem entspricht eine bewusste Gestaltung des Geschehens, die subjektives Erleben und objektive Ereignisstränge in Einklang zu bringen versucht.

Gerade durch diese offene Einmischung des wahrnehmenden und erzählenden Subjekts wird die Veränderbarkeit der Wirklichkeit betont: Die Fakten, von denen berichtet wird, sind überprüfbare Realität. Was wir mit diesen Fakten machen – ob wir sie achselzuckend hinnehmen oder sie hinterfragen und zu verändern suchen –, liegt jedoch in unserer Hand.

Eben hierauf bezieht sich auch der Titel dieses Feature-Awards. Das Rothe Ohr steht für die Intensität des Hörens, für das leidenschaftliche, engagierte Zuhören, als Entsprechung zu dem Engagement, das die preiswürdigen Beiträge auszeichnet.

Bild: Norbert Utz: Bäume mit Ohren im Straßburger Park Robertsau (Wikimedia commons; 2006)

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