Ein Weihnachtsgruß von Bruder Norabus
Hörfassung:
An Weihnachten können wir einander nahekommen, ohne einander nahe zu sein. Das liegt am Wesen des Weihnachtswunders.
Winter im Kloster
Ich weiß ja nicht, wie es draußen in der Welt aussieht – aber hier in unserem Bergkloster ist der Winter wirklich sehr hart dieses Jahr. Schon Anfang November hat es den ersten Schnee gegeben, und seitdem schütteln die Wolken fast jeden zweiten Tag ihre weiße Fracht über unseren Mauern aus. Jetzt türmen sich die Schneeberge vor den Fenstern zu bizarren Gebilden auf, die sich im Geisterlicht des Mondes zu bedrohlichen Fratzen auswachsen.
So verbringen wir alle lange, einsame Stunden in unseren Klosterzellen. An sich ist das nichts Besonderes für mich. Auch in normalen Zeiten ist die stille Meditation ja ein fester Bestandteil des Alltags im Kloster.
Und doch ist bei diesen undurchdringlichen Schneemassen alles anders. Es ist eben ein Unterschied, ob man sich stundenweise in selbst gewählte Einsamkeit begibt, um in stiller Versenkung Zwiesprache mit dem Unfassbaren zu halten – oder ob es sich um eine erzwungene Einsamkeit handelt. Dann wird aus Abgeschiedenheit unmerklich Isolation.
Erstaunlicherweise geht dann selbst bei der von Natur aus einsamen Kontemplation eine Dimension verloren. Erst jetzt wird mir bewusst, wie selbstverständlich ich dabei die Gemeinschaft auch mit jenen, die außerhalb dieser Klostermauern leben, mitgedacht und mitempfunden habe.
Die Vergangenheit hinter dem weißen Vorhang
So verliert sich mein Blick, wenn ich hinausschaue in die endlose weiße Weite vor meinem Fenster, derzeit oft in der Ferne – in einer Ferne, die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich bestimmt ist. Es ist, als würde der weiße Vorhang sich öffnen in eine lange zurückliegende Vergangenheit, in eine Kammer tief in meinem Innern, die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten habe.
Ich sehe mich wieder als jungen Suchenden, der seine geistige Heimat noch nicht gefunden hat. Was war es eigentlich, dass mir damals den Weg wies, der mich schließlich in dieses Kloster geführt hat?
Ich denke, den entscheidenden Anstoß hat die Jugendgruppe gegeben, in der ich damals Mitglied war. Natürlich war das eine religiöse Gruppe. Dennoch frage ich mich im Rückblick, ob ich seinerzeit wirklich schon religiös war.
Selbstfindung in der Gemeinschaft
Was mich an der Gruppe angezogen hat, war wohl eher dieses Gefühl eines unbedingten Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft. Kaum etwas macht eben die geistige Verbindung zu anderen so unmittelbar erfahrbar wie das gemeinsame Sich-Versenken in den Urgrund des Seins. Die Gemeinschaft wird dann zu einer Arche, die der haltlosen Seele Zuflucht bietet vor den Stürmen des Daseins – und sie dabei zugleich über sich selbst hinaushebt.
Mir hat das damals zu einem tieferen Bewusstsein meiner selbst verholfen. Denn mein Ich hatte sich ja keinesfalls aufgelöst in der Gemeinschaft. Ich wurde mir darin nur meiner Wurzeln und ihrer geheimen Verzweigungen mit anderem Seienden bewusst.
Besonders intensiv ließ sich die Gemeinschaft natürlich im gemeinsamen Gebet erfahren. Gerade die rituellen Gebete, bei denen der Sinn des Gesprochenen durch die immer gleiche Abfolge der Worte verblasst, haben das unsichtbare Band zwischen mir und den anderen immer wieder neu geknüpft. Es war, als würde unser gemeinschaftliches Murmeln einen geistigen Windhauch erzeugen, in den sich unmerklich der Atem eines höheren, allumfassenden Geistes mischte.
Mindestens ebenso wichtig für die Festigung unserer Gemeinschaft waren jedoch die Austeilung der Hostien und der Friedensgruß. Noch nie hatte ich bis dahin die Verbindung mit anderen so intensiv erlebt wie in jenen ganz besonderen Augenblicken, in denen wir uns beim Gottesdienst die Hände reichten.
Geistige Erotik
Die Nähe, die ich dabei empfand, war allerdings rein geistiger Natur. Die körperliche Berührung war nur die Brücke, durch die die geistige Berührung ermöglicht wurde.
Wenn es eine geistige Erotik gibt, so habe ich sie damals empfunden. Und eben diese Erotik ist es, die ich jetzt vermisse. Diese Brücke des Körpers, die mir den Weg geebnet hat in die Gewissheit einer geistigen Gemeinschaft, die mich trägt und umfängt.
Jetzt, wo ein unbarmherziger Winter die Tür zur Welt da draußen auf unabsehbare Zeit verschlossen hat, hat sich, so scheint mir, auch für meinen Geist eine Tür geschlossen. Aus dem Dialog mit dem Ewigen ist ein Monolog geworden, ein Kreisen im Kerker meines eigenen Ichs.
Eben deshalb ist meine Vorfreude auf das Weihnachtsfest in diesem Jahr noch größer als sonst. Denn ist uns nicht sogar die Fähigkeit gegeben, ganz ohne körperliche Aktivität, allein mit der Kraft unseres Geistes, Buchstabenfolgen auf einem Computerbildschirm erscheinen zu lassen? Und müsste dann bei der Erfahrung geistiger Nähe zu anderen nicht auch der umgekehrte Weg möglich sein – ein Weg, bei dem der Geist die Brücke ist, der die körperliche Dimension menschlicher Nähe erfahrbar macht?
Der Kern des Weihnachtswunders
Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Manche Wunder ereignen sich einfach so, aus heiterem Himmel. Es gibt aber auch Wunder, die eintreten, weil wir fest daran glauben und uns mit all unserer geistigen Kraft darauf konzentrieren, dass sie sich ereignen.
Das soll nicht heißen, dass wir die Kraft hätten, ganz allein Wunder zu wirken. Wir sind keine Zauberer und erst recht keine Demiurgen. Unser Geist aber ist selbst etwas Wunderbares. Und deshalb ist es uns durch ihn möglich, uns in Einklang zu bringen mit dem Wunder, aus dem das Universum entsprungen ist.
Dieses Wunder ist aber weder etwas Einsames noch etwas rein Geistiges. Sein Wesen besteht vielmehr gerade darin, dass aus dem Geist Materie hervorgegangen ist und dass diese sich in eine unendliche Vielfalt von Gestalten geteilt hat. Und eben dies – die Materialisation des Geistes – ist ja auch der Kern des Weihnachtswunders.
Da aber alle Materie durch den gemeinsamen Ursprung miteinander verwurzelt bleibt, kann, wer das Weihnachtswunder erlebt, nicht einsam sein. Er wird dann zwangsläufig die Gemeinschaft mit anderen erfahren, selbst wenn diese ihm körperlich nicht nahekommen können.
Die meisten von euch werden sicherlich das Weihnachtsfest im Kreise ihrer Lieben begehen. Dafür wünsche ich euch inneren Frieden und gutes Durchhaltevermögen beim Marathonmampfen.
Wer aber an Weihnachten allein sein sollte, kann durch die stille Meditation eine Brücke zu anderen schlagen. So wird er dennoch nicht einsam sein, sondern geborgen in einer geistigen Gemeinschaft mit allem anderen Seienden – unter anderem mit Bruder Norabus, der euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest wünscht!
Bild: Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Winterlandschaft mit Kirche (1811). Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Wikimedia commons)