Die gefährliche Leugnung der Gefahr

Okean Elzys Song Ne twoja wijna (Nicht dein Krieg)

Musikalische Sommerreise 2024/10

Der Song Ne twoja wijna (Nicht dein Krieg) von Okean Elzy handelt von dem der Ukraine aufgezwungenen Krieg. Er wirft aber auch die Frage auf, inwieweit der allzu sorglose Umgang mit der Bedrohung den Ausbruch des Krieges begünstigt haben könnte.

Nicht dein Krieg

Der Morgen ist voller Schlachtengetöse,
das Sonnenlicht ertrinkt im Rauch.
Wird es ein Morgen geben?
Wie werden Angst und Hoffnung
miteinander ringen in den jungen Köpfen!

Verdorrt sind die Knospen des Schneeballstrauchs.
Mutter, wen haben wir nur angebetet?
Wie viele Kinder wird er dir noch nehmen,
dieser Krieg, der nicht der deine ist?

Erwachsen geworden sind deine Kinder.
In allen Farben leuchteten einst ihre Träume.
Und doch haben sie die Hände der Lüge geküsst
und ihre Tage für ruhige Nächte geopfert.

Verdorrt sind die Knospen …

Wie schön war unser Leben einst,
ohne Schweiß und ohne Tränen!
Und doch war es ein Leben ohne Sinn und Ziel –
wie konnten wir so leben, Mutter?

// Verdorrt sind die Knospen des Schneeballstrauchs.
Mutter, wir haben die Falschen angebetet!
Wie viele Kinder wird er dir noch nehmen,
dieser Krieg, der nicht der deine ist? //

Океан Ельзи (Okean Elzy): Не твоя війна (Ne twoja wijna) aus: Без меж (Bez mezh / Ohne Grenzen, Grenzenlos; 2016)

Videoclip (erschienen 26. April 2015):

Doppelte Trauer von „Mutter Ukraine“

Der Song Не твоя війна (Ne twoja wijna / Nicht dein Krieg) ist kurz nach der Krim-Annexion und den von Russland geschürten Kämpfen im Donbas entstanden. Er thematisiert die Trauer von „Mutter Ukraine“, die gegen ihren Willen in einen Krieg gezwungen worden ist, der sie ihrer Zukunft beraubt und ihre Kinder verschlingt.

Der Song wirft eben diesen Kindern aber auch eine gewisse Sorglosigkeit vor. Zwar – so lässt sich der Text verstehen – tragen sie keine Schuld an dem Krieg, haben ihn aber doch mit ermöglicht, indem sie die Augen vor der Gefahr verschlossen haben. Anstatt sich dieser zu stellen, hätten sie in den Tag hineingelebt und in diesem Sinne „der Lüge die Hände geküsst“ und „die Falschen angebetet“. Die Formel „Nicht dein Krieg“ bezeichnet daher auch die Weigerung, sich aktiv am Kampf gegen die Bedrohung der Freiheit – von innen wie von außen – zu beteiligen.

Ein Plädoyer für die aktive Beteiligung an der gesellschaftlichen Entwicklung

Ähnlich äußert sich auch Swjatoslaw Wakartschuk in einem Kommentar zu dem am 26. April 2015 auf YouTube veröffentlichten Videoclip. Um den Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde zu gewinnen, müssten alle auch den Kampf mit sich selbst aufnehmen. Für ein Leben in Freiheit sei es unerlässlich, die eigenen Ängste vor Veränderung zu überwinden und sich aktiv für gesellschaftlichen Wandel zu engagieren. Anstatt die Schuld auf andere zu schieben, müsse man die Dinge

„selbst in die Hand nehmen. Das ist extrem schwierig, aber ohne das gibt es keine erfolgreiche Zukunft für eine Person, eine Gesellschaft oder ein Land.“ [4]

Im Videoclip zu dem Song wird dies durch eine Münze mit einer hellen und einer dunklen Seite symbolisiert. Dies deutet auf eine – durch die Passivität der Menge in dem Video veranschaulichte – Einstellung hin, bei der das Schicksal wie ein Münzwurf hingenommen wird, anstatt die gesellschaftliche Entwicklung aktiv zu beeinflussen.

Aktuelle Bedeutung des Songs

Der Song bezog sich allerdings auf die Situation vor 2014. In der Zeit vor dem russischen Großangriff im Frühjahr 2022 gab es dagegen kaum jemanden in der Ukraine, der nicht begriff, was auf dem Spiel stand. Hier eignet sich der Text folglich eher zur Charakterisierung der westlichen Staaten, die zu lange die von Russland ausgehende Gefahr geleugnet und es versäumt haben, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen in die Wege zu leiten.

In der aktuellen Situation lässt sich der Song am ehesten auf Russland beziehen. Dort scheint es in der Tat noch viele Menschen zu geben, die trotz der in ihrem Namen von der russischen Regierung begangenen Verbrechen noch immer nach der alten sowjetischen Devise handeln:

Ich bin klein,
mein Herz ist rein,
lass meine Führer schrein,
es wird schon richtig sein.

 Zitat von Swjatoslaw Wakartschuk übersetzt aus der YouTube-Premiere zum Videoclip für Не твоя війна (Ne twoja wijna / Nicht dein Krieg); 26. April 2015.

Infos zur Band im Beitrag zu dem Song Misto Marii (Die Stadt Marias): Die Wunde Mariupol

Bild: Käthe Kollwitz (1867 – 1945): „Saatfrüchte sollen nicht  vermahlen werden“ (1941; Kreidelithographie mit Kollwitz-typischer Schutzmantelmadonna, im Original schwarz-weiß; Titel entlehnt aus Goethes Wilhelm Meister; vgl. Käthe Kollwitz Museum Köln); Kunstpostkarte von Brück & Sohn (Wikimedia commons)

2 Kommentare

  1. Dieser Beitrag und vor allem dieser Song haben mich aufgewühlt. So beeindruckend!- Die Art wie Swjatoslaw Wakartschuk dieses Stück „performed“, das ist pure Emotion!

    Was Sie über die Haltung in Russland sagen, so muss ich Ihnen leider zustimmen. Sie kennen das Land als zeitweiliger Bewohner. Ich bin dort aufgewachsen und komme „von dort“. Ich liebe mein Land mit ganzer Seele und jeder Faser. Umso größer ist der Schmerz darüber, dass die Muster, die vielleicht noch in der Sowjetzeit halbwegs funktional für das mentale und physische Überleben der Einzelnen waren und auch ihre „gemütlichen“ und netten Seiten hatten, nun diese unglaublichen Grausamkeiten und dieses Ungleichgewicht in der Welt ERMÖGLICHEN. Das ist brutal, und das ist kaum zu verkraften. Und das Schlimme: Ich habe keine Hoffnung, dass sich etwas ändert. Meine Lösung war wegzugehen. Auch keine wirkliche Lösung, denn der Schmerz, die Angst, die Wut und die totale Ohnmacht sind mitgereist …

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