Das Rothe Ohr 2024
Die Radiofeature-Awards auf rotherbaron/4
In ihrem Feature über die Eingeschlossenen von Jahidne lässt Christine Hamel Menschen zu Wort kommen, die zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vier Wochen lang im Keller der örtlichen Schule eingesperrt waren.
Der Krieg als Zahlenspiel
Über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erhalten wir gleichzeitig zu viele und zu wenige Informationen.
Einerseits werden wir mit Zahlen überfüttert: Wer ist an welchen Stellen wie viele Meter vorgerückt, wie viele Gefallene und tote oder verletzte Zivilpersonen gibt es, wie viel Schuss Munition stehen den beiden Seiten zur Verfügung, wie hoch ist die Anzahl der eingesetzten und abgefangenen Raketen, wie viele Gebäude sind zerstört worden …
Andererseits erfahren wir viel zu selten etwas über das Leid, das der Krieg für die Menschen konkret bedeutet. Manchmal scheint es sogar, als würden die Menschen hinter den Zahlen verschwinden; als wäre der Krieg nur ein Rechenspiel, das gar nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat.
Das Leid hinter den Zahlen
Der Grund dafür mag zunächst ein ganz normaler psychischer Abwehrmechanismus sein: Indem wir das Leid hinter Statistiken und Strategieüberlegungen verbergen, schaffen wir uns gewissermaßen eine Schutzbarriere, durch die wir die Welle des Schmerzes von uns fernhalten.
Dies ist im Grunde ein verständlicher und zuweilen auch funktionaler Mechanismus. Medizinischem Personal etwa hilft die Konzentration auf die „technische“ Seite einer Krankheit – wie bildgebende Verfahren und Prognoseverläufe – dabei, sich bei der Behandlung einen klaren Kopf zu bewahren. Auch hierbei darf professionelle Distanz aber natürlich nicht in Gleichgültigkeit übergehen.
Im Falle des Leids in der Ukraine entspringt das Bedürfnis nach einer emotionalen Schutzbarriere nicht zuletzt unserer Hilflosigkeit: Selbst wenn wir all unseren Besitz oder gar unser Leben opfern würden, könnten wir damit den Krieg nicht stoppen. Dies ist nur durch entsprechende Entscheidungen auf politischer Ebene möglich.
Journalistisches Fingerspitzengefühl
Hinzu kommt, dass in Kriegsgebieten nicht unbedingt jemand vor Ort ist, um das Leid der Menschen zu dokumentieren. Zu nahe am Kriegsgeschehen zu sein, ist schlicht zu gefährlich. Und wenn eine wildgewordene Soldateska ihren Blutrausch auslebt, verschickt sie vorher erst recht keine Einladungen an die Medien.
Natürlich können Menschen, die zwischen die Räder der Kriegsmaschinerie geraten sind, auch hinterher zu ihren Erlebnissen befragt werden. Auch dies ist jedoch nicht problemlos möglich.
Zum einen sind nicht alle dazu bereit, sich ihren Schmerz „von der Seele zu reden“. Einigen verschließt die Trauer auch den Mund. Wer den Schleier vor dem konkreten Leid, das der Krieg den Menschen zufügt, lüften möchte, benötigt deshalb nicht nur journalistischen Spürsinn, sondern auch ein gewisses psychologisches Geschick und Einfühlungsvermögen.
Die Bedeutung von Kriegsberichten, in denen die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund rückt, liegt darin, dass sie dem Krieg ein Gesicht geben. Er erscheint dann eben nicht mehr als ein abstraktes Schaubild mit Ziffern und Pfeilen für die Truppenbewegungen, sondern als das, was er ist: als Anschlag auf die Menschlichkeit und auf eine friedliche Weltordnung.
Das Gesicht des Krieges als Brücke zum Frieden
Im Falle des russischen Überfalls auf die Ukraine ist dies deshalb wichtig, weil so klar wird, was „Frieden“ bedeuten würde. Wer den Krieg nur in Kategorien unterschiedlich eingefärbter Landstriche sieht, wird es nicht als störend empfinden, wenn ein Landstrich eine russische statt einer ukrainischen Färbung erhält. Der „Frieden“ ist dann ein Abtretungs- und Unterwerfungsfrieden, der de facto nur eine Friedhofsruhe darstellt, ein Atemholen, das es dem Aggressor erlaubt, die Waffenarsenale für die nächste Angriffswelle auf das Nachbarland aufzustocken.
Wer dagegen erkennt, mit welchen ungeheuren Verbrechen gegen die Menschlichkeit dieser Krieg verbunden war und noch immer ist, wird es kaum als „Frieden“ bezeichnen können, wenn die Täter nicht nur straffrei ausgehen, sondern auch noch mit Territorialgewinnen belohnt werden. Berichte, die uns die Augen für die Realität des Krieges öffnen, schärfen damit auch unseren Sinn für den Frieden.
Zum Feature von Christine Hamel
Christine Hamel ist dies schon mit mehreren Features gelungen. In diesem Jahr hat sie ein Feature herausgebracht, das vom „Überleben im Keller von Jahidne“ handelt.
Das Feature führt uns in das 140 Kilometer nördlich von Kiew gelegene Dorf Jahidne. Dessen Bevölkerung war zu Beginn des russischen Angriffskriegs im März 2022 vier Wochen lang in den Keller der örtlichen Schule gesperrt worden.
In Gesprächen mit den Betroffenen enthüllt sich nach und nach das Grauen, das die Menschen durchleiden mussten. Auf 192 Quadratmetern wurden 386 Personen zusammengepfercht. Für eine Person stand also nur ein halber Quadratmeter zur Verfügung. Schlafen konnte man nur im Sitzen, durch die angewinkelten und eingezwängten Gliedmaßen kam es zu Venenstau und Geschwüren.
In der drangvollen Enge entwickelte sich eine unerträgliche Hitze. Die Luft war so durchtränkt von den Ausdünstungen der Menschen, dass der Raum von einem dichten Dunst erfüllt war. Das Essen bestand aus einer dünnen Wassersuppe.
Für die Notdurft gab es lediglich Eimer, und dies auch nicht in ausreichender Zahl. Die außerhalb des Kellers gelegene Toilette durfte nur mit Zustimmung der Besatzer benutzt werden. Auch sonst waren die Eingeschlossenen der Willkür der Invasoren ausgeliefert. Ob sie an die frische Luft oder sich Medikamente aus ihren Häusern holen durften, unterlag der Entscheidungshoheit der neuen Herren im Ort.
Vor allem für alte und kranke Menschen waren diese Lebensbedingungen kaum zu ertragen. So kam es auch zu mehreren Todesfällen. Die Verstorbenen mussten in den Heizungsraum gebracht werden und durften erst bestattet werden, wenn drei Tote zusammengekommen waren.
Selbst bei den Beerdigungen waren die Menschen allerdings nicht vor gewalttätigen Übergriffen sicher. So wurden sie einmal von einer betrunkenen Soldatengruppe wahllos beschossen.
Das Feature stellt die Menschen und ihre Erlebnisse in den Mittelpunkt. Der Autorin ist es offenbar gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihnen so den Eindruck eines echten, mitfühlenden Interesses zu vermitteln. Dadurch wirkt das Feature besonders authentisch und vermittelt einen lebendigen Eindruck von dem, was die Menschen unter der russischen Besatzung durchmachen mussten.
Links zum Feature und zur Autorin
Christine Hamel: 27 Tage. Vom Überleben im Keller von Jahidne. Bayerischer Rundfunk, 25. Februar 2024.
Infos zu Christine Hamel mit Links zu weiteren Beiträgen der Autorin
Bild: Peter H. (Tama66): Dunkler Keller (Pixabay) – Detail