Wenn der ESC nicht der ESC wäre …

Ein musikalischer Griff nach den Sternen (des Eurovision Song Contests)

Jedes Jahr hoffe ich aufs Neue, dass die bonbonbunte ESC-Verpackung hält, was sie verspricht. Leider ist der Eurovision Song Contest sich aber auch in diesem Jahr wieder treu geblieben.

Kurze Anleitung zum Gewinnen beim ESC

Der diesjährige Eurovision Song Contest hat mal wieder vor Augen geführt, worauf es ankommt, wenn man beim Sangeswettstreich erfolgreich sein  möchte. Für alle, die mit dem Gedanken spielen, selbst einmal an dem postmodernen Troubadix-Festival teilzunehmen, seien hier in aller Kürze die wichtigsten Gewinnerregeln aufgeführt. Sie können, müssen aber nicht miteinander kombiniert werden:

  1. Mach dich nackicht!
  2. Scheue dich nicht, in deinen Liedern darauf hinzuweisen, warum du dich nackicht machst!
  3. Schrei, so laut du kannst! In der Jury sitzen bestimmt ein paar Tarzan-Fans, die dir das als exquisiten Gesang auslegen werden.
  4. Plapper nach, was alle plappern! Wer den Leuten am besten nach dem Munde singt, wird auch am meisten von ihnen geliebt.
  5. Verlass dich nicht auf dich selbst! Kauf deinen Song bei denen ein, die das beste Computerprogramm dafür haben, und bastle dir ein Alter Ego, in dem sich möglichst viele wiederfinden können.

Meine ESC-Favoritin – und warum sie nicht gewonnen hat

Warum ich mir den ESC angesichts dieser Kriterien trotzdem angetan habe? – Ehrlich gesagt, das weiß ich selbst nicht so genau. Wahrscheinlich hoffe ich jedes Jahr aufs Neue auf ein Wunder: darauf, dass sich zwischen all der stromlinienförmigen Massenware doch die eine Perle findet, die dann auch noch alle überzeugt.

Leider ist dieses Wunder auch in diesem Jahr wieder nicht eingetreten. Meine Favoritin ist mal wieder im Halbfinale rausgekickt worden. Warum? – Siehe oben: Sie hat sich nicht nackicht gemacht, sie hat ihren Song selbst – zusammen mit einer irischen Musikerkollegin – in einem Songwriting-Camp entwickelt, und sie hat ein Thema gewählt, das nicht als besonders sexy gilt: unseren oft wenig humanen Umgang mit Tieren.

Für diejenigen, die einen Bogen um den ESC gemacht haben oder nicht erraten, von welchem Song die Rede ist: Ich spreche von der für Irland angetretenen norwegischen Singer-Songwriterin Emmy (vollständiger Name: Emmy Kristine Guttulsrud Kristiansen). Im Mittelpunkt ihres Songs stand die Hündin Laika, die 1957 mit einer Sputnik-Rakete in die Erdumlaufbahn katapultiert worden und wenige Stunden nach dem Start verstorben ist.

Ich fand es nicht nur sympathisch, dass bei einem solchen Mega-Event auf das Schicksal der Weltraum-Märtyrerin wider Willen hingewiesen worden ist. Mir hat auch die Art gefallen, in der das in dem Lied geschehen ist. Denn der Song basiert auf der Utopie, dass die Hündin im All zu ewigem Leben erwacht ist und nun bis in alle Ewigkeit eine kosmische Party feiert.

Diesen Inhalt verbindet der Song mit einem passenden Party-Sound. Mit seiner tanzbaren Botschaft hätte er sicher eine bessere Platzierung verdient gehabt. Zudem bietet der Videoclip zu dem Song eine sehr charmante Rahmenhandlung. Hören wir uns den Song also noch einmal an:

Ausschluss Russlands vom ESC – und auch alles Russischsprachigen?

Apropos russische Hündin: Auch der Ausschluss Russlands aus dem ESC ist ein Thema, das mich beim Blick auf den ESC umtreibt, ist der Ausschluss Russlands. Einerseits ist das sicher nachvollziehbar. Schließlich ist davon auszugehen, dass bei der Vorauswahl nur kremltreue Beiträge antreten dürften. Diese würde man zudem wohl nach den oben aufgeführten Kriterien stylen, um ganz vorne zu landen und das dann propagandistisch auszuschlachten. Und eine russische ESC-Siegerparade mit anschließender Propaganda-Show in Moskau oder Sankt Petersburg ist ohnehin eine unerträgliche Vorstellung.

Andererseits bedaure ich, dass durch den Ausschluss Russlands auch die reiche Musikszene des Landes aus dem Blickfeld gerät. Schließlich gibt es darin auch einige kremlkritische Stimmen, wie etwa die von jeher für ihre gesellschaftskritischen Songs bekannte Zemfira.

Wie die unerschrockene Singer-Songwriterin haben sich auch mehrere Musiker-Ikonen des Landes – wie Boris Grebenschtschikow oder Andrej Makarewitsch und Jurij Schewtschuk (von den legendären Rock-Bands DDT und Maschina Wremjeni) offen gegen den Angriffskrieg gegen die Ukraine positioniert (mehr dazu in der PDF Russische Antikriegslieder). Einige haben sich damit angesichts des allgemeinen Verbots von Kritik an dem Krieg in Russland  – der dort ja noch immer nicht als solcher bezeichnet werden darf – praktisch selbst aus ihrer Heimat ausgeschlossen.

Vielleicht sollte man hier also zwischen russischen und russischsprachigen Beiträgen unterscheiden und – ähnlich wie in der Leichtathletik – russischsprachige, kremlferne Acts unter neutraler Flagge antreten lassen.

Ein russisches Friedenslied als ESC-Ergänzung

Vor diesem Hintergrund gibt es hier ein russisches Lied als kleine Ergänzung zum ESC. Meine Wahl ist dafür auf Boris Grebenschtschikows Song Adelaida gefallen, der unseren Blick wie Emmys Laika Party zu den Sternen lenkt. Das Lied ließe sich wahrscheinlich an die Drei-Minuten-Vorgabe für die ESC-Songs anpassen, erfüllt ansonsten allerdings kaum die eingangs aufgeführten Kriterien für einen Platz auf dem Siegertreppchen – was aber vielleicht doch eher ein Gütesiegel ist.

Der Text von Adelaida ist zwar – wie viele Songs von Grebenschtschikow – etwas kryptisch. Im Kern scheint der Stern Adelaida, um den das Lied kreist, aber wohl für die Utopie von Frieden und Versöhnung zu stehen. Hierzu passt auch die im Althochdeutschen wurzelnde Etymologie des Namens: „Adalheida“ bedeutet ursprünglich „edles“ bzw. „reines, unbeflecktes Land“. Als Personenname verweist der Begriff auf einen entsprechend reinen, arglosen Charakter.

Damit hätte der Song einen ESC-Sieg in diesen kriegsverseuchten Zeiten wohl mindestens ebenso verdient wie seinerzeit Nicole mit ihrem Träller-Traum von Ein bisschen Frieden.

Zu Adelaida gibt es eine mitreißende Live-Aufnahme. Das Highlight darin ist zweifellos der Geiger. Bemerkenswert sind jedoch auch der Keyboarder mit dem Zaubermantel, die leidenschaftliche Perkussionistin und die Hose von Grebenschtschikow mit der vielsagenden Botschaft.

Hier zunächst der Text des Songs in einer deutschen Nachdichtung:

Adelaida

Wind, Nebel und Schnee …
Wir sind allein in dieser Hütte.
Es klopft am Fenster, aber
du brauchst keine Angst zu haben!

Das ist nur mein Freund,
der Nordwind, der mit mir flüstert.
Wir ruhen in seiner Hand, denn
er ist es, der das Verborgene bewahrt.

Und er wird die Wolken vom Himmel fegen
dort, wo unser Stern erscheint:
der Stern Adelaida!

Lippen, die schweigend erzählen,
Hände, die sich ineinander verzweigen –
alles versinkt im Schlund der Zeit.
Doch an dem Diamanten meines Herzens
bricht ihre Sense entzwei.

Bald wird mich der Nordwind wecken.
Dann wird glitzernd uns umfangen
der Stern, der weder Bosheit kennt noch Leid,
weder Verbitterung noch Groll:
der Stern Adelaida!

Boris Grebenschtischikow (Борис Гребенщиков): Аделаида / Adealaida aus dem Album Равноденствие / Rawnodjenstwije (Tagundnachgleiche; 1987) von Grebenschtschikow und seiner Band Aquarium

Live-Aufnahme aus dem Jahr 2011:

Infos zu Boris Grebenschtschikow und weitere Beiträge zu Songs von ihm:

Ein Friedensgebet gegen das Hexenwerk des Krieges (zu dem Song Ворожба / Vorozhba: Zauberkräfte)

Die hungrigen Geister und der befreite Geist (zu dem Song Кладбище / Kladbischtsche: Friedhof)

Der Traum vom einfachen Leben (zu dem Song Кострома mon amour / Kostroma mon amour)

Bilder: Iasaffa: Sterntaler (Pixabay); Laika, die hündische Weltraumpionierin, mit Fluggeschirr (Wikimedia commons; Fotograf unbekannt); Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913): Frage an die Sterne (1898/1901); Wikimedia commons

3 Kommentare

  1. Wirklich ein schönes Lied von Grebenschtschikow. Danke für den Beitrag!- Mit der Zulassung eines solchen Liedes, müsste sich der ganze ESC ändern. Ich habe dieses Jahr verzichtet, da mir das letzte Jahr schon sowohl die Darbietungen als auch die Retortenmusik auf den Wecker gefallen sind. Der deutsche Beitrag war auch unterirdisch.

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  2. Lieber Baron, eines der schönsten Lieder von BG. Danke für den Post!- Ich liebe diesen Mann und seine Band!!! – Es ist so wichtig, dass die Welt von diesem „anderen Russland“ erfährt, dem Anti-Putin-Russland, dem Russland der Mitmenschlichkeit, der Poesie… Nur so kann es auch nach dem Putinismus einen Neuanfang geben.
    Und eigentlich könnte der ESC so ein Ort der Utopie sein: Alle begegnen sich friedlich in der Musik. Stattdessen: Kommerz und auch unangebrachte Botschaften und auch leider: Nationalismus.
    Der Siegertitel hat mir schon gefallen, aber wahrscheinlich nur, weil er origineller war als der sonstige Plastik-Coca-Cola-Mainstream-Mist.
    Ich glaube, dass mit der Utopie und dem ESC können wir abhaken und für den alternativen ESC fehlt uns das Geld. Also träumen wir weiter mit BG und RB! ❤

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