Ein Song über die schwierige Treue zu sich selbst

Die Belgrader Band Virvel und ihr Song Poslednji Svedok (Der letzte Zeuge)

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Der Song Poslednji Svedok (Der letzte Zeuge) der Belgrader Band Virvel handelt von der Schwierigkeit, sich dem allgemeinen Konformitätsdruck zu widersetzen und sich selbst treu zu bleiben. Dies lässt sich auch auf die Band selbst beziehen.

Der letzte Zeuge

Folge mir und sei du selbst!
Denn wie soll ich ich selbst sein,
wenn ich nicht weiß, bei wem ich bin?
Noch weiß ich ja nicht, wer ich bin.

Um uns erstreckt sich eine leere Wüste.
Wie alle anderen sehe auch ich mich oft
im Spiegel alter Geschichten. Doch ich weiß:
Das bin nicht ich, nicht ich!

Im Labyrinth der Stadt verirren manche
sich auf der Suche nach dem wahren Traum,
dem Traum, der sich zu Wahrheit häutet.
Das aber bin nicht ich, nicht ich!

Über die Traumlabyrinthe lachend,
verirre ich mich doch in der Lüge,
mich wie die anderen darin zu verlieren.
Lügend aber verleugne ich, was ich bin.

Nein, das bin nicht ich, nicht ich …

Virvel: Poslednji Svedok (2016) aus:  Žena sa bradom, patuljak, idiot (Eine bärtige Frau, ein hinterlistiger Zwerg und ein Idiot; 2019)

Freiheiten und Probleme der alternativen Musikszene

Die zur Jahrtausendwende in Belgrad von Tijana Drobac (Bassgitarre, Gesang), Dejan Drobac (Gitarre) und Zoran Stojicic (Gitarre) gegründete Band Virvel hat sich nach dem schwedisch-norwegischen Wort für „Wirbel“ benannt. Für Schlagzeug und Keyboard kam später noch Dušan Mančić Golmajer hinzu.

Anders als der Name der Band vermuten lässt, ist ihr Repertoire eher von ruhigen Klängen geprägt. Soweit der Name eine programmatische Bedeutung hat, scheint diese sich eher auf den traditionellen Musikbetrieb zu beziehen. Hier hat die Band in der Tat den Anspruch, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und in diesem Sinne „Staub aufzuwirbeln“.

Wie Tijana und Dejan Drobac – das Ehepaar, das für die Texte der Band verantwortlich zeichnet – in einem Interview aus dem Jahr 2022 ausführen, haben sie sich in den über zwei Jahrzehnten des Bestehens von Virvel nie auf Kompromisse mit dem Mainstream eingelassen. Damit hätten sie zwar insofern immer wieder „Eigentore“ produziert, als sie ihre Musik selbst vertreiben müssten und von den Big Playern des Medienbetriebs weitgehend ignoriert würden. Dies erschwere es auch, Konzerte und neue Alben zu promoten.

Auf der anderen Seite sehen Tijana und Dejan Drobac ihre kreative Freiheit gerade dadurch gewährleistet, dass die Musik ihrer Band sich keinem festen Genre zuordnen und damit auch schlechter vermarkten lässt. Jede Etikettierung gehe mit einem Verlust an Freiheit einher.

Diktaturen und das Diktat der Algorithmen

Eben diesen Freiheitsverlust erleiden nach Auffassung von Tijana und Dejan Drobac jene, die sich nur in der Blase des Mainstream-Marktes bewegen. Sie hätten „trotz der Möglichkeiten, die das Internet bietet, nicht das Wissen, das wir vor Google hatten“.

Gemeint ist damit offenbar die oft unmerkliche Lenkungsfunktion, welche die Algorithmen der Suchmaschinen ausüben. Alternative künstlerische Projekte sind dadurch weniger leicht auffindbar.

In einem ehemals realsozialistischen Land, wo die zur Veröffentlichung freigegebene Kunst stets bestimmten Reglementierungen unterworfen war, provoziert dies auch den Vergleich mit der Vergangenheit: In den autoritären Zeiten von Tito und Slobodan Milošević hegten die Menschen ein natürliches Misstrauen gegenüber der offiziell anerkannten Kunst und sahen ihre Freiheit gerade dadurch garantiert, dass sie sich über Underground-Projekte informierten. Die Algorithmen sind dagegen eine anonyme, scheinbar neutrale Instanz, die schwerer in ihrer entmündigenden Auswirkung zu durchschauen ist.

So ist es auch schwerer, dem zu misstrauen, was das Internet als Spiegel der Wirklichkeit präsentiert. Dies gilt nicht nur, aber eben auch für alternative Musik, die so viel vollkommener hinter dem Vorhang des Mainstreams verschwindet, als es in einem von Unterdrückung und Ausschluss geprägten Kunstmarkt geschehen könnte. Denn hier wirkt für freiheitsliebende Menschen gerade die Zensur wie ein Gütesiegel, das die Neugier nach dem vom großen Staats-Papa Verbotenen weckt.

Dialogische Selbstsuche im Labyrinth des Lebens

Um die Treue sich selbst gegenüber, das Festhalten an dem eigenen Weg, geht es auch in dem Song Poslednji Svedok (Der letzte Zeuge).

Das Lied thematisiert zum einen die Hindernisse auf dem Weg der Selbstfindung: die Vergangenheit, die einen an bestimmte Fremd- und Selbstbilder kettet, und das Labyrinth der Gesellschaft, in dem man auf bestimmte Rollen, Denk- und Verhaltensmuster festgelegt wird. Die Träume vom befreiten Leben, die hier feilgeboten werden, sind Träume von der Stange, Traumuniformen, die einem nur vorgaukeln, die Alltagsuniformen abstreifen zu können.

Diese Träume – Urlaubsträume, Träume von Lottogewinnen oder die Verheißungen der Werbung, mit dem Kauf bestimmter Produkte alles zum Positiven wenden zu können – sind jedoch im Alltag so präsent, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Sie sind selbst wie ein Labyrinth, in dem man sich verstrickt, ohne es zu merken. Eben dadurch aber wird man sich selbst untreu.

Das Ich in dem Song appelliert daher an ein imaginäres Gegenüber, ihm als Spiegel zu dienen. Auf diese Weise können sich beide gegenseitig die Aufrichtigkeit ihrer Selbstsuche bezeugen und sich in dieser bestärken – auch wenn der Ausgang dieser Suche, ihrem Wesen gemäß, offen bleiben muss.

Zitate und Infos über die Band entnommen aus einem Interview mit den Gründungsmitgliedern Tijana und Dejan Drobac:

Nikolić, Bratislav: Virvel: Imamo milion TV i nijednu emisiju gde bismo mogli da najavimo koncert (Wir haben eine Million Fernsehsender und keinen einzigen, auf dem wir ein Konzert ankündigen könnten). Nova.rs, 25. April 2022.

Bild: Peter H. (Tama66): Spiegelbild (Pixabay)

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