Kralj Čačka & Nina Bajsić: Obrnuti red stvari (Die umgekehrte Ordnung der Dinge)
Musikalische Sommerreise 2025: ein Trip nach Serbien/9
Der Song Obrnuti red stvari (Die umgekehrte Ordnung der Dinge) von Kralj Čačka und Nina Bajsić ist Teil eines serbisch-kroatischen Crossover-Projekts. Dieses überwindet sowohl konkrete, länderspezifische Grenzen als auch die Barrieren zwischen einzelnen Künsten.
Die umgekehrte Ordnung der Dinge
Im Schutz der Abenddämmerung
bin ich in den Bauch der Stadt geflohen.
Doch ist die Stadt noch eine Stadt?
Ist sie nicht längst versteinert
zu einer öden Wüstenei,
ein Paradies für die Barbarei,
für alle anderen die Hölle?
Beim Blick auf meine Haut
öffnet sich das Auge eines Schattens,
ein Tor in meine Dunkelheit,
ein Echo des Schreis in mir,
des Schreis der Zeit, die unablässig
in einen Abgrund rinnt.
Und während ich die Tür der Wohnung
und des Gebäudes hinter mir schließe
und der Wind meine Wangen befühlt,
kehrt sich die Ordnung der Dinge um.
Der Morgen war noch getaucht
in die Farben des Traumes,
des Traums von einem Tag,
auf dem ich segeln könnte
wie auf den Flügeln des Mondes
in eine duftende Ferne.
Draußen aber umfingen mich wieder
die grauen Krakenarme der Stadt.
Die Finsternis umschließt mich
lange vor der Abenddämmerung
mit ihrem stummen Gesang,
diesen Liedern ohne Himmel,
nach dem die Vögel schweigend suchen
irgendwo jenseits des Dezembers.
Und während ich die Tür der Wohnung
und des Gebäudes hinter mir schließe
und der Wind meine Wangen befühlt,
kehrt sich die Ordnung der Dinge um.
Vom Thron ihrer Technik herab
lacht höhnisch mir ins Gesicht
die entstellte Grimasse der Stadt.
In ihrem Bauch umfangen mich
Sirenenrufe und Walpurgistänze,
feuerrote Hexenschreie, ein Geruch
von Fäulnis und Verwesung.
Wäre ich also besser bei mir geblieben,
in der stillen Höhle meines Zimmers,
allein mit meinem Gedankenmeer?
Oder wäre ich in diesem Meer ertrunken,
in seinen abgrundtiefen Strudeln,
seinem unendlichen Kreisen?
Und während all meine Ängste
in diesem Meer versinken, bis sie
zur Ruhe kommen auf seinem Grund,
kehrt sich die Ordnung der Dinge um.
Das Tor zum Gestern ist verschlossen.
Wo ist er hin, der Karneval der Jahreszeiten?
Hatten wir nicht Namen für ihre Masken?
Doch jetzt durchtränkt alles dasselbe Grau.
Die Nacht wirft ihren dunklen Flügel
über die Leere der Stadt. Geisterhaft
schlängeln die Straßen sich durch das Nichts,
beäugt von dunkel leuchtenden Fenstern.
Vielleicht sollte ich einfach aufbrechen
in die einbrechende Nacht, als Treibgut
gleiten durch die Nacht, bis an den Strand
meines verlorenen Ichs.
Und während die Konturen verschwimmen,
die Stadt ihr Gesicht verbirgt und die Straßen
sich im Nirgendwo verlieren,
kehrt sich die Ordnung der Dinge um.
Nenad Marić (alias Kralj Čačka) & Nina Bajsić (kursiv gesetzte Passagen): Obrnuti red stvari; aus: Soundtrack za film koji nije snimljen (Soundtrack für einen Film, der nicht gedreht wurde; 2021) Musik: Nenad Marić; Text: Nenad Marić und Nina Bajsić
Ein Crossover-Projekt aus Radio-, Theater- und Dichtkunst
Der Song Obrnuti red stvari (Die umgekehrte Ordnung der Dinge) ist die Keimzelle eines von Herbst 2020 bis Frühjahr 2021 als „Soundtrack für einen nicht gedrehten Film“ realisierten Projekts. Dabei handelt es sich um eine Collage aus Songs, kurzen Prosatexten und Soundimpressionen. Das Werk entstand unter der Leitung des Zagreber RadioTeatar, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Radiokunst mit künstlerischen Projekten in anderen Medien zu verbinden und entsprechende Crossover-Vorhaben zu fördern.
Der Crossover-Ansatz wird denn auch von den künstlerisch Verantwortlichen selbst als entscheidender Aspekt des Projekts hervorgehoben. Demnach handelt es sich bei dem Soundtrack für einen nicht gedrehten Film um eine „musikalisch-poetische Radio-Performance“, die als „Theater-Radio-Dialog“ auch vor Publikum aufgeführt werden kann [1]. Die entsprechende Inszenierung ist im Frühsommer 2021 zunächst in Zagreb und im Herbst 2022 auch in Belgrad auf die Bühne gebracht worden.
Der Titel des Stücks lässt sich zum einen auf die mangelnde Realisierbarkeit von Projekten in der Corona-Zeit beziehen. Zum anderen verweist er jedoch auch auf den Schwerpunkt von RadioTeatar im Bereich der Radiokunst, in der sich die Filme vorzugsweise im Kopf abspielen.
Eine serbisch-kroatische Koproduktion zu Corona-Zeiten
Ein Crossover-Projekt ist der Soundtrack für einen Film, der nicht gedreht wurde auch in dem Sinne, dass es von Anfang an als grenzüberschreitende Produktion des kroatischen RadioTeatar mit dem serbischen Singer-Songwriter Nenad Marić (alias Kralj Čačak) angelegt war.
Marić hat dabei die Songvorlagen geschrieben und, unterstützt von seinem Bruder Marko, die Musik entwickelt, während Dramaturgie, Hintergrundsound und erzählerische Übergänge in der Verantwortung des RadioTeatar lagen. Deren Dramaturgin, Nina Bajsić, hat dabei mit Marić auch an den Songtexten gearbeitet. Die Gesamtkoordination lag in den Händen der Regisseurin, Pavlica Bajsić Brazzoduro.
Da der Beginn der Arbeit an dem Projekt mit der Corona-Pandemie zusammenfiel, konnte die Kooperation anfangs nur in Online-Formaten stattfinden: in Form von Zoom-Konferenzen, per Video-Chat oder durch das wechselseitige Verschicken und Kommentieren von Texten. Auf diesem Wege wurde zunächst vor allem die konzeptionelle Arbeit vorangetrieben, also die Frage, wie das Projekt angelegt sein sollte und wie die einzelnen Versatzstücke miteinander verbunden werden könnten.
Von der „verkehrten“ zur „umgekehrten“ Ordnung der Dinge
Als Inspiration und Orientierungshilfe für die konzeptionelle Entwicklung des Projekts diente anfangs der einzige Song, der in der ersten Phase der Arbeit an dem Projekt fertiggestellt wurde – eben der oben präsentierte Song Obrnuti red stvari(Die umgekehrte Ordnung der Dinge). Laut Marić ergab sich daraus der Ansatz, „dass wir aus der Perspektive eines inneren Monologs schreiben, in dem Moment, in dem wir in die Außenwelt hinausgehen“, also „unsere Eindrücke von dieser Außenwelt und das, was uns dabei an Problemen begegnet“, in Worte fassen [2].
Marić und seine Zagreber Co-Autorin Nina Bajsić verfassten daraufhin beide kurze Prosatexte, in denen sie Impressionen von Spaziergängen durch ihre jeweiligen Städte verarbeiteten. Dies ließ sich – wie die Regisseurin des Stücks, Pavlica Bajsić Brazzoduro, herausstellt – bei der späteren Erarbeitung des Gesamtwerks auch gut mit „Klanglandschaften“ begleiten [3].
Dem Song Obrnuti red stvari ist deutlich die Entstehung während der Corona-Pandemie anzumerken. Die darin beschriebenen leeren Straßen, die geisterhaften Städte und das Gefühl, in sich selbst eingeschlossen zu sein, erinnern deutlich an die klaustrophobische Melancholie, die für viele während der Lockdown-Perioden bestimmend war.
Auf der anderen Seite hat der Ausbruch aus der Enge der eigenen Wohnung in dem Song nicht die erhoffte befreiende Wirkung. Die Flucht in die Arme der Stadt wird als Weg in ein Labyrinth beschrieben, das mit seinen Zerstreuungsangeboten und seiner Gleichförmigkeit den Selbstverlust eher noch verstärkt, anstatt ihn zu heilen. Vor allem in den maßgeblich von Marić zu verantwortenden Passagen kommt dabei dessen kulturkritische Haltung zum Ausdruck, auf die bereits im vorigen Post eingegangen wurde.
Als Ausweg erscheint damit nicht ein persönlicher „Ausbruch“ aus den bestehenden Verhältnissen, sondern ein vollständiger Umbau derselben. Der leitmotivisch wiederholte Gedanke einer „umgekehrten Ordnung der Dinge“ ist vor diesem Hintergrund doppeldeutig. Er kann sowohl auf die tatsächliche, „verkehrte“ Ordnung der Dinge wie auf deren „Umkehrung“ in eine gänzlich andere Ordnung bezogen werden, also für eine neue Sicht der Welt und eine andere Gesellschaftsordnung stehen.
Der „Zerfall auf mehreren Ebenen“ als Hauptthema des Projekts
Als übergreifendes Thema des Projekts benennt Regisseurin Pavlica Bajsić Brazzoduro den „Zerfall auf mehreren Ebenen“. Dies lässt sich zwar auch auf die desintegrierenden Wirkungen der Corona-Pandemie beziehen, umfasst im Kontext des Stücks jedoch einen weiteren Bedeutungshorizont.
Zu denken ist dabei etwa an entsolidarisierende Effekte in kapitalistischen Gesellschaften, aber auch an die dissoziierende Wirkung des Lebens in verschiedenen sozialen Kontexten, wie er für das Leben des modernen Menschen kennzeichnend ist. In den Worten von Bajsić Brazzoduro: „Wir haben gelernt, uns aufzulösen“ [4].
Bei einem kroatisch-serbischen Projekt weckt der Gedanke des „Zerfalls“ darüber hinaus natürlich auch Assoziationen an den Zerfall Jugoslawiens, der in den 1990er Jahren gerade bei den Kriegen zwischen Kroatien und Serbien Tausende Tote gefordert hat. Genau in diesem Punkt aber setzt das Projekt einen Kontrapunkt, indem es die durch die gemeinsame Sprache und langjährige historische Verbundenheit der beiden Länder gegebenen Möglichkeiten der Zusammenarbeit in den Vordergrund stellt.
Das Projekt als Teil einer antinationalistischen Rock-Republik
Wie Bernhard Hanneken, der das von ihm organisierte Rudolstadt Festival 2022 dem Schwerpunktthema „Titos Erben“ – also der Musik aus den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken – gewidmet hat, hervorhebt, ist eine solche grenzüberschreitende Zusammenarbeit auch heute, drei Jahrzehnte nach den blutigen Bruderkriegen, nicht selbstverständlich. Noch immer werde auf der Klaviatur des Nationalismus gespielt [5].
Laut Hanneken hat dies immer wieder zur Folge, dass Konzerte von Bands aus dem jeweils anderen Land auf Druck von Provinzpolitikern abgesagt werden müssen. Das, was damit auch heute noch zerstört wird, bezeichnet Hanneken unter Verweis auf das gleichnamige Buch des kroatischen Musikers und Autors Ante Perković (1973 – 2017) als „die siebte Republik“ [6].
Gemeint ist damit die Tatsache, dass die Rockmusik als verbindendes Element zwischen den einzelnen Landesteilen Jugoslawiens gewirkt hat. Sie hat dadurch gewissermaßen eine eigene Sphäre gebildet, in der all jene zu Hause waren, die sich nicht von dem Virus des Nationalismus anstecken lassen wollten.
Als Gegenteil davon führt Henneken den serbischen „Turbo-Folk“ an, der die Menschen mit unpolitischen Stimmungsliedern von der mörderischen Kriegstreiberei der politisch Verantwortlichen abgelenkt habe. Die enge Verbindung zwischen dieser Art von Musik und dem blutigen Nationalismus des Regimes bezeugte nicht zuletzt 1995 die Hochzeit zwischen einer der populärsten Sängerinnen dieses Genres, Svetlana Veličković („Ceca“), und dem später als Kriegsverbrecher in Den Haag angeklagten Kommandeur der paramilitärischen „Serbischen Garde“, Željko Ražnatović (besser bekannt unter seinem Decknamen „Arkan“; 7).
Henneken zufolge hatte die „Siebte Republik“ noch zur Zeit der Jugoslawienkriege eine antizyklische Wirkung: Bands, die sich in der alle Teilrepubliken durchdringenden Rock-Republik zu Hause fühlten, hätten damals auch mit entsprechenden Songs gegen den nationalistischen Wahn angesungen. Der durch Letzteren erzwungene Zerfall der „Siebten Republik“ hatte dann verheerende Auswirkungen auf die Musikszene, da viele Gruppen so von Auftrittsmöglichkeiten abgeschnitten und so um ihre Existenzgrundlage gebracht wurden [8].
Grenzen? Welche Grenzen?
Der Soundtack für einen Film, der nicht gedreht wurde, knüpft erklärtermaßen an das antinationalistische Konzept der Siebten Republik an. Sowohl die Regisseurin des Projekts, Pavlica Bajsić Brazzoduro, als auch Nenad Marić bekennen sich explizit zu der dahinter stehenden Friedensbotschaft. So betont Marić, dass ihm „die Idee der ‚Siebten Republik‘ sehr nahe steht und dass ich mich durch meine Arbeit damit identifiziere“ [9].
Paradoxerweise haben damit in diesem Fall gerade die Thematik des „Zerfalls“ (s.o.) und der Isolation während der Pandemie zur Wiederbelebung eines kroatisch-serbischen Kulturdialogs geführt. Die dabei überwundenen Grenzen mögen durch die EU-Mitgliedschaft Kroatiens und die Reisebeschränkungen während der Corona-Pandemie zwar spürbar gewesen sein. Das Projekt hat jedoch deutlich gemacht, dass sie im Alltag der Menschen faktisch nicht existieren.
Nachweise
[1] Kurzbeschreibung des Projekts auf radioteatar.hr: Soundtrack za film koji nije snimljen (Soundtrack für einen Film, der nicht gedreht wurde).
[2] – [4] Zitate entnommen aus Stajcic, Zoran: Razgovor s glavnim akterima ‚Soundtracka za film koji nije snimljen‘: Prvo je bio Ante Perković [Interview mit den Hauptdarstellern von „Soundtrack für einen Film, der nicht gedreht wurde“: Zuerst war da Ante Perković]. Ravnododna.com, 12. Juni 2021.
[5] Kozma, Ramona: Titos Erben. Zur Rolle von Musik im ehemaligen Jugoslawien früher und heute [Interview mit Bernhard Hanneken, Organisator des Rudolstadt Festivals, zur Wahl des Schwerpunktthemas „Titos Erben“]. Akkordeon.online, 2. Oktober 2022.
[6] Der vollständige Titel des 2011 erschienenen Buchs vonAnte Perković lautet Sedma republika: pop kultura u Yu raspadu [Die Siebte Republik: Popkultur im zerfallenden Jugoslawien].
[7] Vgl. Wasserfaller, Mario: Turbo-Folk: Vom umstrittenen Musikstil zum entpolitisierten Feiern. Der Standard, 15. August 2023.
[8] Hanneken, interviewt von Ramona Kozma; s. [5].
[9] Nenad Marić im Interview mit Zoran Stajcic; s. [2].
Bild: Stefan Keller: Phantasiestadt (Pixabay)