Über Radůzas Lied Dopis Taťáně (Brief an Tatjana)
In ihrem Lied Dopis Taťáně (Brief an Tatjana) knüpft die tschechische Komponistin und Liedermacherin Radůza an Alexander Puschkins Versepos Eugen Onegin an. Ihr musikalisches Porträt von Tatjana basiert auf Onegins Liebesbrief an diese.
Seit mehr als zwei Jahrhunderten
ruht ihr Blick auf diesem Brief,
aus dem wie ein tanzender Traum
ihr Bildnis uns entgegenweht.
In den liebeskranken Zeilen hallen
die Saiten ihrer Seele wider,
aus denen wie von einem Troubadour gemalt
ihr Lächeln zu unseren Herzen spricht.
Ihr Gesicht, ein verblasstes Gemälde,
beugt sich über die uralten Zeilen,
ihre hundert Jahre alte Jugend
fühlt Mitleid für ein fremdes Herz.
Die Sonne malt das Flackern
herbstlicher Blätter in ihr Haar
und schürt ein Feuer in ihrem Herzen,
das bis in ihre Träume lodern wird.
Ein hingehauchter Pinselstrich vollendet
wie ein stiller Seufzer das Gemälde,
den Sonnenglanz, der unerreichbar
auf dem Moos der Wangen ruht.
Ich aber erträume mir ein anderes Bild,
sehe den Maler seine Tatjana umarmen
wie der Himmel die geliebte Erde
und beide zu einer Gestalt verschwimmen
Radůza (Radka Vranková): Dopis Taťáně aus: V Salonu Barokních Dam (Im Salon barocker Damen; 2007)
Song mit Slideshow von Frauenporträts Amedeo Modiglianis (1884 – 1920):
Puschkins Versepos Eugen Onegin als Referenztext für das Lied
Radůzas Lied Dopis Taťáně (Brief an Tatjana) lässt sich als eine Art musikalisch-literarischer Dialog mit Alexander Puschkins Versepos Eugen Onegin lesen. In dem zwischen 1823 und 1830 entstandenen, 1833 veröffentlichten „Roman in Versen“ (Untertitel) geht es um einen jungen Adligen, der sich, gelangweilt von dem ritualisierten Gesellschaftsleben in Sankt Petersburg, auf ein geerbtes Anwesen auf dem Land zurück.
Dort allerdings setzt er das unausgefüllte Leben eines vermögenden Oberschicht-Sprösslings fort. Als die Tochter des Nachbarguts, Tatjana, ihm in einem Brief ihre Liebe gesteht, weist er sie brüsk zurück. Stattdessen bandelt er aus einer Laune heraus mit deren Schwester Olga an. Diese ist jedoch bereits mit einem anderen Mann verlobt – mit dem Dichter Wladimir Lensky, der Onegin arglos mit den beiden Schwestern bekannt gemacht hat.
Von seinem Freund bloßgestellt, fordert Lensky Onegin zum Duell. Dieser versucht sich dem zwar zu entziehen. Als er damit jedoch an den Ehrbegriffen seiner Zeit scheitert, zögert er nicht, den Freund im Duell zu töten.
Während Onegin sich danach auf Reisen begibt, um seine Schuldgefühle zu ersticken, trauert Tatjana dem unerfüllten Liebesglück nach. Da Onegin für sie aber unerreichbar bleibt, gibt sie schließlich dem Drängen der Verwandtschaft nach und heiratet einen anderen.
Einige Jahre darauf treffen beide bei einem Gesellschaftsabend in Sankt Petersburg wieder aufeinander. Nun erkennt Onegin in dem zur Frau gereiften Mädchen vom Lande seine wahre Liebe. Jetzt ist er es, der Tatjana einen glühenden Liebesbrief schreibt. Nun aber ist es zu spät: Eingemauert in das Gefängnis ihrer Ehe, kann Tatjana dem Ruf ihres Herzens nicht mehr folgen.
Multiperspektivische Spiegelung des Versepos in Radůzas Lied
In dem Lied Dopis Taťáně greift Radka Vranková (Radůza) den Brief Onegins an Tatjana auf eine multiperspektivische Weise auf. Dabei wird der Blick der die Zeilen überfliegenden Tatjana mit dem Blick desjenigen verbunden, der beim Schreiben des Briefes ihr Bild entwirft, also mit dem Blick Eugen Onegins.
Onegins Blick erscheint so wie der eines Malers, der mit Worten das Porträt einer geliebten Frau entwirft. So vermittelt er uns, die wir Tatjana gewissermaßen beim Lesen über die Schulter schauen, eine Vorstellung der Geliebten.
Diese Vorstellung allerdings bleibt bewusst vage. Entscheidend ist nicht das Aussehen Tatjanas, sondern das, was der Briefeschreiber beim Gedanken an Tatjana empfindet. Denn dieses Traumbild ist es ja, dass ihn zum Scheiben des Briefes veranlasst hat.
Die Unbestimmtheit der Vorstellungen, die das Lied entwirft, entspricht wiederum dem offenen Ausgang des Versepos. Dieses endet mit der Feststellung des gescheiterten Liebesglücks, ohne etwas über den weiteren Lebensweg von Tatjana und Eugen Onegin auszusagen.
Dies ist zugleich der Anknüpfungspunkt für die Utopie einer erfüllten Liebe, wie sie in der letzten Strophe des Liedes aufscheint. Eben weil das Versepos das weitere Schicksal der Liebenden offen lässt, steht es auch allen Lesenden frei, sich ein Happy End für ihre Liebe zu erträumen.
Über Radka Vranková (Radůza)

Die 1973 in Prag geborene Radka Vranková (Künstlername Radůza) hat am Prager Konservatorium eine professionelle Ausbildung in Gesang und Komposition erhalten. Sie spielt mehrere Instrumente, insbesondere Akkordeon, Klavier und Gitarre.
Neben der Musik für ihre Songs komponiert die Künstlerin auch klassische Musik sowie Bühnenmusik für Theateraufführungen. Sie hat auch in Filmen mitgewirkt und 2016 eine Sammlung mit Kurzgeschichten vorgelegt.
Für die Veröffentlichung ihrer bis heute 13 Alben gründete Vranková 2010 ein eigenes Label, das mittlerweile allerdings nicht mehr nur ihre eigenen Werke herausbringt. Ihre Musik greift immer wieder folkloristische Elemente auf, wobei die mehrere Sprachen sprechende Künstlerin sich auch von nicht-tschechischen Kulturen inspirieren lässt.
Bilder: Jelena Samokish-Sudkovskaya (1863 – 1924): Zurückweisung Eugen Onegins durch Tatjana; Illustration in einem Buch mit zu Alexander Puschkins Versepos Eugen Onegin (1833). Sankt Petersburg 1908: Golike und Wilborg (Wikimedia); Xtina: Radůza (Radka Vranková) bei einem Auftritt im Balbínova poetická hospůdka (Balbinovs poetische Taverne / Poesie-Pub) in Prag, 24. September 2005 (Wikimedia commons)
Ein Kommentar