Doppelmoral im Dienste der CSU

Zu den Antisemitismus-Vorwürfen gegen FW-Chef Hubert Aiwanger

Die Enthüllungen zu antisemitischen Tendenzen in der Jugend von Hubert Aiwanger, dem Vorsitzenden der Freien Wähler, sind vor allem eines: Wahlkampfhilfe für die CSU.

Weiß-blaue Empörungswelle

Skandal im Hofbräuhaus! Hubert Aiwanger, für die Freien Wähler als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Mitglied im bayerischen Kabinett, soll als 17-Jähriger ein – nach dessen eigenem Bekunden von seinem Bruder verfasstes – antisemitisches Flugblatt in seiner Schultasche mit sich geführt haben [1].

Die Fraktion des politischen Anstands ist sich einig: Mit so jemandem kann man kein Bier mehr trinken – geschweige denn ihn als Minister tolerieren! Aiwanger muss, so die einhellige Überzeugung, von der politischen  Bühne verschwinden. Sein Kopf muss rollen.

Die Saat des Skandals – und wer davon profitiert

So laut dröhnt die Welle der Empörung, dass die Stimmen der Spielverderber kaum zu hören sind. Sie fragen etwa, warum das unappetitliche Detail ausgerechnet jetzt, kurz vor den Wahlen zum bayerischen Landtag, an die Öffentlichkeit gelangt. Könnte es sein, dass da gewisse interessierte Kreise ein wenig nachgeholfen haben?

Schließlich würde die CSU den zehn Prozent übersteigenden Stimmenanteil, der den ihnen im Geiste verwandten Freien Wählern derzeit in den Umfragen zugeschrieben wird, nur allzu gerne in den eigenen Stimmensäckel umleiten. Und die Vorwürfe gegen Aiwanger erlauben es nun dem CSU-Regierungschef Söder, selbst nicht gerade als menschenrechtsbewegter Leisetreter bekannt, sich als Saubermann in Szene zu setzen.

Interessant wäre auch eine Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet die Süddeutsche Zeitung der CSU mit dem Hinweis auf das Flugblatt diesen Liebesdienst erwiesen hat. Ist das einfach nur die verkaufsfördernde Lust am Skandal? Sehnt sich selbst diese einst linksliberale Zeitung mittlerweile nach den Zeiten des alleinseligmachenden CSU-Absolutismus zurück? Oder soll die Diskreditierung der Freien Wähler den Weg für ein schwarz-grünes Bündnis ebnen, die Lieblingskoalition aller Bio-Kapitalisten?

Rechtliche Bewertung des Vorfalls

Wenn wir die Angelegenheit einmal ganz nüchtern – sprich: aus strafrechtlicher Perspektive – betrachten, so erhalten wir zwei Beurteilungsmaßstäbe. Der eine bezieht sich auf die unmittelbare und der andere auf die rückblickende Bewertung der inkriminierten Tat.

Bei der unmittelbaren Bewertung kommen zum einen schuldisziplinarische und zum anderen jugendrechtliche Maßnahmen zum Tragen. Da Aiwanger das Flugblatt damals in die Schule mitgenommen hatte, hatte dessen Besitz zunächst – wie Aiwanger selbst berichtet hat – Sanktionen auf schulischer Ebene zur Folge.

Eventuelle jugendrechtliche Maßnahmen hätten auf Einsicht in das eigene Fehlverhalten abgezielt. Denkbar wäre gewesen, den Jugendlichen zu einer zeitweiligen Mitarbeit in einer Gedenkstätte zu verpflichten.

Aus der rückblickenden Perspektive muss die Handlung Aiwangers wohl als verjährt gelten. Schließlich hat er damals keine unmittelbare Gewalt ausgeübt und sich seitdem auch keiner ähnlichen strafbaren Handlungen schuldig gemacht.

Eine solche nüchterne rechtliche Bewertung mag im Fall antisemitischer Polemik schwer erträglich sein. Rechtsgüter wie Resozialisierung, erzieherisches Bestrafen Jugendlicher oder Verjährung erfüllen in einer demokratischen Gesellschaft jedoch eine wichtige Funktion. Sie fußen auf einem zentralen Aspekt des Persönlichkeitsrechts – nämlich dem Recht auf Veränderung. So sollte ein Mensch, der heute gut in die Gesellschaft integriert ist, nur im Falle schwerer Straftaten von seiner Vergangenheit eingeholt werden dürfen.

Kriterien für die moralische Bewertung politischer Persönlichkeiten

Nun kann man natürlich argumentieren, dass für Menschen, die über die Geschicke ihres Landes bestimmen wollen, andere Maßstäbe gelten müssen. Sollten sie nicht Vorbilder für andere sein? Und müssen sie dafür nicht schon von früher Kindheit an moralisch „rein“ sein?

Diese Argumentation hat durchaus etwas für sich. Wollte man auf ihrer Grundlage die moralische Tragbarkeit politischer Persönlichkeiten beurteilen, so müssten allerdings auch dafür rechtsstaatliche Grundsätze gelten. Folgende Prinzipien müssten dabei beachtet werden:

1. Klare Festlegung der Beurteilungskriterien

Die moralischen Ansprüche, denen eine Person des politischen Lebens zu genügen hat, müssen im Vorfeld klar definiert werden. Es müssen Kriterien formuliert werden, nach denen darüber entschieden wird, ob eine Person ihr Amt antreten darf bzw. es aufzugeben hat. Dementsprechend müsste schon vor Amtsantritt eine entsprechende Prüfung auf moralische Eignung erfolgen.

Keinesfalls dürfen die moralischen Ausschlusskriterien aus einer wahlkämpferischen Bierlaune heraus formuliert werden. Dies öffnet nicht nur der Willkür Tür und Tor. Es diskreditiert auch die moralischen Kriterien selbst, da diese dann nur als Waffe gegen den politischen Gegner benutzt werden.

2. Einrichtung einer neutralen Kommission zur Beurteilung von Fehlverhalten

Wie ein gegenwärtiges oder vergangenes Verhalten zu beurteilen ist, darf nicht auf der Grundlage eines medialen Shitstorms entschieden werden. Vielmehr sollte dies Aufgabe einer neutralen Kommission sein, die über die Einhaltung der formulierten moralischen Kriterien wacht.

Unmittelbar strafwürdiges Verhalten bleibt davon unberührt. Für dieses wären weiterhin die Gerichte zuständig.

3. Gleiches Recht für alle!

Wenn eine in jeder Hinsicht moralisch einwandfreie Vergangenheit die Voraussetzung für die Übernahme eines politischen Amtes sein soll, muss die entsprechende Maßgabe natürlich für alle gelten. Wird nur bei Einzelnen die Vergangenheit durchleuchtet, so ergibt sich zwangsläufig ein schiefes Bild.

So stand etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seiner Jugend den K-Gruppen nahe [2]. In diesen Kreisen hielt man damals Äußerungen des französischen Revolutionärs Maximilien de Robespierre für hoffähig, wonach der Terror im Dienste der Tugend stehen könne [3].

Dem heutigen behäbigen Spätzle-König liegen solche Gedanken natürlich fern. Würde man ihn jedoch auf der Grundlage seiner extremistischen Jugendüberzeugungen beurteilen, wäre auch er als Politiker untragbar.

4. Substanzieller, nicht skandalorientierter Unrechtsbegriff

Wann und ob ein Rücktritt fällig ist, entscheidet sich heute nach der Intensität des Empörungspegels. Nach der Substanz des Fehlverhaltens wird dagegen kaum gefragt.

So geht es bei Antisemitismusvorwürfen in Deutschland nicht in erster Linie um die konkrete Diskriminierung. Sie gleichen vielmehr dem Naserümpfen über einen Menschen, der bei einem festlichen Bankett in die Ecke pinkelt. Nicht das Fehlverhalten an sich erregt Anstoß, sondern die Verletzung eines moralischen Kernkodex, über den sich die Mehrheit als anständig definiert.

Würde es um die Substanz des Fehlverhaltens gehen, so müssten mit derselben Empörung jene Maßnahmen verurteilt werden, die zum Ertrinken Tausender notleidender Menschen im Mittelmeer führen. Dies wird jedoch nicht nur achselzuckend hingenommen. Vielmehr gehört die gepflegte, verklausulierte Fremdenfeindlichkeit nicht nur bei konservativen Parteien mittlerweile fast schon zum guten Ton.

5. Gegenwartsorientierte Maßstäbe

Wichtig erscheint schließlich auch, dass die moralische Tragbarkeit von Personen auf der politischen Bühne nicht in erster Linie auf der Basis von vergangenem Verhalten beurteilt wird. Mindestens ebenso wichtig wäre es, ihr aktuelles Verhalten regelmäßig auf der Grundlage klar definierte moralischer Kriterien zu durchleuchten.

Dabei müssten wir alle auch ein stärkeres Bewusstsein für die Untragbarkeit bestimmter Verhaltensmuster entwickeln, die im heutigen Politikbetrieb als ganz normal gelten. Dies reicht von der Zweckentfremdung von Steuermitteln für politische Propaganda und Selbstdarstellung über das nicht selten später mit gut dotierten Posten belohnte offene Ohr für Lobbyinteressen bis hin zur offenen Ämterpatronage.

Hier klare Kriterien für moralisch einwandfreies Verhalten aufzustellen, wäre ein echter Akt der politischen Hygiene. Allein schon die Existenz der entsprechenden Kriterien hätte – in Verbindung mit einer neutralen Instanz zur Beurteilung ihrer Einhaltung – eine reinigende Wirkung auf den Politikbetrieb.

Die Verurteilung einzelner verbaler Entgleisungen ist dagegen nur ein probates Mittel, sich selbst gegenüber anderen als moralisch überlegen darzustellen.

Nachweise

[1]    Ein guter Überblick über die bislang bekannten Fakten zu der Affäre und die noch offenen Fragen findet sich bei BR24: Wendler, Achim: Fall Aiwanger: Fakten, Widersprüche, Rätsel; br.de, 27. August 2023.

[2]    Eine Übersicht über die Nähe eines nicht unbeträchtlichen Teils des grünen Spitzenpersonals der Jahrtausendwende zu den K-Gruppen der 1970er Jahre bietet Jürgen Reents: Grüne Ex-Maoisten; linksfraktion.de, 22. Februar 2008.

[3]    Wörtlich heißt es bei Robespierre: „Der Terror ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unnachgiebige Gerechtigkeit. Er ist also ein Ausfluss der Tugend. Er ist weniger eine unabhängige Handlungsmaxime als eine Folge des Prinzips der Demokratie, angewandt im Dienste der dringendsten Belange des Vaterlandes.“ (übersetzt nach dem Zitat auf révolution-française.net).

Bild: Mohamed Matar: Heuchler (Pixabay)

5 Kommentare

  1. Ja, das Pamphlet des Aiwanger-Bruders ist schlimm und verdammenswert. Ich bin nun auch tatsächlich das Gegenteil eines Aiwanger-Fans, aber Ihre Argumentation halte ich für sehr nachvollziehbar. Vor allem aus rechtlicher Perspektive. Und eine SPD, die es nicht geschafft hat, einen Rassisten wie Sarazin und einen Massenmörder-Freund wie Schröder auszuschließen, sollte bescheidener auftreten. Die Grüne halten weiterhin zu ihren bekennenden Pädophilen wie Cohn-Bendit. Von Söder und seinen Stammtischparolen schweige ich. Diese aufgesetzte Empörung soll vielleicht dazu dienen, eigene Unzulänglichkeiten zu kaschieren?

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  2. Ein Schüler hat ein faschistoides Flugblatt in seinem Ranzen. Eine Disziplinarkommission eines staatlichen Gymnasiums bestraft ihn dafür und beschließt, die Flugblätter zu vernichten. Ein Mitglied der Disziplinarkommission, Lehrer und SPD-Mitglied, hebt eines dieser Flugblätter entgegen der Entscheidung der Disziplinarkommission auf, um den bereits bestraften Schüler später für dasselbe Vergehen ein zweites Mal bestrafen, erpressen oder denunzieren zu können. Jahrzehntelang wissen viele Menschen von dem Flugblatt sowie davon, dass Aiwanger ab und zu den Hitlergruß gezeigt, „Mein Kampf“ im Schulranzen gehabt und genussvoll Witze über Juden, Auschwitz und die Hungerbäuche der Kinder in der Dritten Welt erzählt habe, und können mit ihrem Wissen leben. Erst als es darum geht, dem schwarzgrünen Söder den Einstieg in eine Koalition mit den Grünen zu erleichtern, kocht die deutsche Emporungskultur auf und bläst zu einer Hetzjagd gegen den inzwischen mehr oder weniger geläuterten Aiwanger, der sogar schon einmal eine Charmeoffensive für die gleichfalls mit ihren Wurzeln ins Dritte Reich zurückreichende Windkraft gestartet hat. Nicht nur das Flugblatt und das Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg mit seiner Langzeitdisziplinierung, sondern die ganze deutsche Gesellschaft weist faschistoide Züge auf.

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