Viktoria Balons Feature über „Schwarzmeerien“
Das Rothe Ohr: Radiofeature-Awards/3
„Schwarzmeerien“ – damit verbindet Viktoria Balon in ihrem Feature Erinnerungen an ihre Kindheit in Odessa, aber auch die Utopie einer grenzüberschreitenden, vom friedlichen Zusammenleben der Völker geprägten „Schwarzmeerrepublik“.
Zwei Arten von Nostalgie
Im Zentrum des Features von Viktoria Balon steht eine 1.140 Kilometer lange Reise mit einer LKW-Fähre, auf der die Autorin quer über das Schwarze Meer von Bulgarien nach Georgien schippert. Umrahmt wird das Feature von zwei Gesprächen mit Schriftstellern. Im bulgarischen Sosopol trifft die Autorin Georgi Gospodinov, im georgischen Bergdorf Bulachauri nach der Ankunft der Fähre im Hafen von Batumi den aus dem abchasischen Sochumi stammenden Guram Odischaria.
In beiden Gesprächen geht es um eine spezifische Form von Nostalgie. Mit Gospodinov spricht Viktoria Balon über dessen 2020 erschienenen Roman Zeitzuflucht. Darin geht es um ein spezielles Heim für Alzheimerkranke, in dem man auf jeder Etage in eine andere Phase der Vergangenheit eintauchen kann. Der Titel des Romans bezieht sich darauf, dass schließlich auch immer mehr normale Menschen in dem Heim eine Zuflucht vor den Herausforderungen der Gegenwart suchen.
Balon kennzeichnet die hierfür bestimmende Gefühlslage treffend als „Nostalgie für eine Fake-Vergangenheit“, die es in der erträumten Form nie gegeben hat. Gospodinovs Roman erinnert so auch an die Sehnsucht mancher Menschen nach der angeblich heilen realsozialistischen Welt. Die Gefahren, die in dieser Art von Nostalgie liegen, werden uns durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine gerade in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.
In dem Gespräch mit Guram Odischaria bezieht sich die Nostalgie dagegen auf etwas, das real vorhanden ist, jedoch durch Krieg, Massentourismus und Umweltverschmutzung bedroht ist. Der spezielle „Schwarzmeercharakter“, von dem Odischaria in dem Zusammenhang spricht, findet seinen Ausdruck in Gemeinsamkeiten der Kulturen am Schwarzen Meer, die sich jenseits nationaler Unterschiede herausgebildet haben. Dies sind neben gemeinsamen kulinarischen Vorlieben und sprachlichen Übereinstimmungen vor allem Parallelen in der Mentalität der Menschen, wie sie sich aus dem Leben an einer Küste und der Abhängigkeit von den Launen dieses besonderen Meeres ergeben.
Odessa als Kristallisationspunkt der Schwarzmeerkultur
Kristallisationspunkt dieser speziellen Schwarzmeerkultur ist in dem Feature Odessa, wo die Autorin in ihrer Kindheit zeitweilig bei ihren Großeltern gelebt hat. Die Stadt ist seit ihrer Gründung im Jahr 1794 von einem besonderen Flair geprägt, das sich aus dem Zusammenleben und -wirken verschiedener Völker ergibt.
Eine prägnante Beschreibung des besonderen Charakters der Stadt gibt in dem Feature Galina Mincheva, die in Odessa als Direktorin des Instituts für Meeresbiologie tätig ist. Für sie ist die Stadt „eine Verdichtung der Geschichte, ein Mix der Kulturen und menschlichen Charaktere, Energien und Farben“.
Der Schmerz über die Wunden, die der Krieg dieser einzigartigen Stadt schlägt, ist in dem Feature immer wieder zu spüren. Ein Beispiel dafür ist eine aus Odessa nach Deutschland geflohene Näherin. Sie ist zwar erleichtert, dem Krieg entkommen zu sein. Wenn sie aber von ihrer Heimatstadt spricht, wird sie regelrecht poetisch. Schwärmerisch erinnert sie sich an das Baden in der Nacht, an die kühle Luft, aus der der Körper in das noch warme Wasser taucht: „Das Plankton leuchtet, und du schwimmst durch dieses Leuchten im Mondlicht …“
Die Utopie einer grenzüberschreitenden „Schwarzmeerrepublik“
Die nostalgische Rückbesinnung auf das frühere selbstverständliche Zusammenleben der verschiedenen Kulturen in Odessa und anderen Küstenstädten am Schwarzen Meer mündet in dem Feature in die Utopie einer bewussten Entscheidung für ein friedliches, grenzüberschreitendes Miteinander. Guram Odischaria entwirft vor diesem Hintergrund die Vision einer „Schwarzmeerrepublik“, die auf den speziellen Erfahrungen und Eigenheiten der Anrainervölker beruht.
Auch der ukrainische Schriftsteller Andrij Ljubka, den die Autorin am Rande des Literaturfestivals in Tiflis trifft, spricht von der Notwendigkeit, ein neues „gemeinsames Bild“ für die Schwarzmeerregion zu entwerfen. Eine Voraussetzung dafür sei die Einrichtung einer Art Schengen-Zone am Schwarzen Meer, wobei der EU eine wichtige Rolle zukomme.
Die Utopie der „Schwarzmeerrepublik“ geht freilich über diese konkreten Schritte hinaus. Der Geist, von dem sie idealerweise beseelt sein sollte, wird angedeutet in der Gemeinschaft der LKW-Fahrer auf der Fähre, welche die Autorin für die Überfahrt über das Schwarze Meer nutzt.

Ausdrücklich betont einer der Fahrer, dass es für sie „keine Nationalitäten“ gebe. Ihren Proviant miteinander und mit anderen Fahrgästen zu teilen, ist für sie eine Selbstverständlichkeit, und bei Problemen hilft einer dem anderen. Dies gilt insbesondere für die langen Wartezeiten an der Grenze zur Ukraine, wo die Fahrer oft mehrere Stunden lang ohne Sanitäreinrichtungen und Versorgungsmöglichkeiten ausharren müssen.
Dabei sind die Routen in die Ukraine für die Fahrer angesichts ihres kargen Lohns ausgesprochen unattraktiv. Dass sie die Ukraine dennoch anfahren, ist vor allem ihrem Bewusstsein zu verdanken, dass sie damit nicht nur der Aufrechterhaltung einer Grundversorgung der ukrainischen Bevölkerung dienen, sondern zugleich den überlebenswichtigen Austausch mit anderen Ländern unterstützen.
Fazit
Dem Feature gelingt es auf eindrucksvolle Weise, den eigentümlichen Schwebezustand zwischen Nostalgie und Utopie zu vermitteln, von dem die einzelnen Eindrücke, Erzählungen und Berichte geprägt sind. Dazu tragen außer den einfühlsam gesprochenen Texten auch die musikalischen Untermalungen bei, welche die Stimmung des Features atmosphärisch unterstützen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.
Link zum Feature von Viktoria Balon:
Schwarzmeerien – Welche Zukunft verbindet Bulgarien, Georgien und die Ukraine? Deutschlandfunk, Erstausstrahlung 31. Januar 2023.
Regie: Claudia Kattanek
Sprecherinnen und Sprecher: Katharina Schmalenberg, Jonas Baeck, Stefko Hanushevsky, Thomas Balou Martin, Claudia Mischke, Svenja Wasser und Ines Marie Westernströer
Ton und Technik: Gunther Rose, Michael Morawietz und Lukas Fehling
Redaktion: Wolfgang Schiller
Infos zur Autorin finden sichauf ihrer Homepage.
Bilder: Iwan Aiwaowski (1817 – 1900): Der Hafen von Odessa am Schwarzen Meer (1852); Wikimedia commons; Lew Lagorio (1828 – 1905): Die georgische Hafenstadt Batumi am Schwarzen Meer (1881); Orenburg, Museum der Schönen Künste (Wikimedia commons)
Vielen Dank für die Einführung und den Hinweis auf dieses wundervolle Feature. Es macht mich etwas traurig, wenn ich jetzt an die Situation in der Ukraine / in Russland denke.
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