Der Überfall auf die Ukraine als Krieg gegen die Aufklärung

Von der Utopie einer humaneren Welt zur Dystopie gewaltsamer Herrschaft

Jahresrückblick, Teil 3

Der russische Angriffskrieg, so heißt es immer wieder, richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern allgemein gegen das westliche Lebensmodell und Politikverständnis. Aber was bedeutet das eigentlich konkret?

Aufklärung und Gewalt

Wenn früher die mangelhafte Ausbildung menschenrechtlicher Standards in der russischen Gesellschaft auf das Fehlen eines Zeitalters der Aufklärung in Russland zurückgeführt wurde, habe ich das immer für einen Ausdruck westlicher Arroganz gehalten.

Warum, so habe ich mich gefragt, sollte eigentlich das westliche Aufklärungszeitalter der Maßstab für die Entwicklung eines Begriffs von Menschenrechten sein? Könnte man diesen nicht auch auf anderen Wegen entwickeln?

Und überhaupt: Wie war es eigentlich um die Wirkmächtigkeit der Aufklärung bestellt? War ihr erstes Ergebnis nicht das Blutbad der Französischen Revolution? Hat sie etwa die apokalyptischen Massaker des 19. und 20. Jahrhunderts verhindern können?

Der steinige Weg zu einer humaneren Welt

Heute, vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine, stellt sich die Sache allerdings etwas differenzierter dar. So ist die Französische Revolution zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb Frankreichs mit einem teils bestialischen Morden einhergegangen. Gleichzeitig haben sich durch sie jedoch langfristig menschenrechtliche, juristische und demokratische Standards etabliert, die dazu angetan waren, dem ungehemmten Ausleben menschlicher Aggression entgegenzuwirken.

Dies hat die Weltkriege und Pogrome des 20. Jahrhunderts zwar nicht verhindern können. In deren Schatten hat sich jedoch eine Zivilgesellschaft entwickelt, die auf der Grundlage der neuen Standards für den zwischenmenschlichen Umgang nach Wegen gesucht hat, wie diese Standards in konkrete Handlungsempfehlungen umgesetzt werden können. Daraus sind schließlich auch internationale Institutionen hervorgegangen, die den zwischenstaatlichen Umgang auf eine neue, humanere Grundlage stellen sollen.

Der Weg zu einer humaneren Welt ist lang und steinig. Wir sind noch lange nicht an seinem Ende angelangt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine droht diesen Weg jetzt jedoch zuzuschütten. Dafür gibt es drei zentrale Gründe:

  • die Durchsetzungskraft des Rechts des Stärkeren
  • den Nachahmungseffekt der russischen Aggression
  • die Bestärkung autoritärer Strömungen in den westlichen Gesellschaften.

Die Durchsetzungskraft des Rechts des Stärkeren

Ein wenig ähnelt die Beziehung zu Russland derzeit einem Schulhofkonflikt: Einer möchte, den Ratschlägen der Lehrkräfte folgend, den Konflikt im Dialog lösen, der andere schlägt ihm aber einfach aufs Maul. Damit macht er nicht nur seinen Gegner buchstäblich mundtot. Gleichzeitig verbreitet er auch gegenüber den anderen Mitschülern ein Klima der Angst, wodurch sein Faustrecht sich als allgemeines Schulhofgesetz etabliert.

Wie auf dem Schulhof kann auch auf internationaler Ebene derjenige, der über die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt verfügt, alle Bemühungen der Staatengemeinschaft um eine friedliche Lösung von Konflikten im Keim ersticken. Dies gilt zum einen für das unmittelbare Drohpotenzial, das von der Gewaltanwendung ausgeht. Zum anderen entfaltet diese jedoch stets eine eigene, unbezwingbare Handlungslogik.

Hieraus ergibt sich ein kaum lösbares Dilemma. So kann man zwar den Aggressor schlicht ignorieren und ihm dadurch signalisieren, dass man seine Handlungsweise für inakzeptabel hält. Dadurch kann dieser jedoch nicht nur die mit der Gewaltanwendung verbundenen Ziele ungestört erreichen. Er wird so auch dazu ermutigt, seine aggressive Strategie weiterzuverfolgen.

Dies birgt die Gefahr in sich, dass sich am Ende alle unter das Joch des Aggressors beugen müssen. Im konkreten Fall würde dies die seit mehreren hundert Jahren andauernden Bemühungen um eine humanere Welt zunichtemachen.

Ein unlösbares Dilemma

Die zweite Handlungsoption besteht darin, sich dem Aggressor entschlossen entgegenzustellen. Dadurch gelingt es diesem allerdings ebenfalls, den anderen seine Handlungslogik aufzuzwingen. Denn natürlich ist der Versuch, mit den Mitteln der Gewalt die Standards für eine humanere Welt am Leben zu erhalten, ein Widerspruch in sich.

In diesem unlösbaren Dilemma erleidet die westliche Welt derzeit immer wieder Schiffbruch. So werden Waffensysteme erst dann an die Ukraine geliefert, wenn das Leiden der Zivilbevölkerung unter dem russischen Bombenhagel allzu offensichtlich wird. Auch wird immer wieder versucht, den Kreml durch das Festhalten an juristischen Standards für den zwischenstaatlichen Umgang zu beeindrucken, also fast schon trotzig zu demonstrieren, dass man nicht gewillt ist, sich das Völkerrecht zerbomben zu lassen.

Dies zeigt sich etwa an der Diskussion um rechtliche Möglichkeiten für die Freigabe von eingefrorenen Milliarden kreml-naher russischer Oligarchen sowie insbesondere der russischen Staatsbank für die Ukraine-Hilfe. Ein Regime, welches das fundamentalste aller Menschenrechte – das Recht auf Leben – mit Füßen tritt, fühlt sich durch die entsprechenden rechtlichen Diskussionen aber nur darin bestärkt, das Gegenüber als schwach und unentschlossen zu betrachten – und folglich eine leichte Beute in ihm zu sehen.

Nachahmungseffekt der russischen Aggression

Schon mit seinem Gesetz über „ausländische Agenten“ hat der Kreml vor einigen Jahren eine Blaupause für den Umgang mit unliebsamen zivilgesellschaftlichen Akteuren geliefert. So sind etwa auch in China, Ägypten und Israel Gesetze erlassen worden, die kritischen Nichtregierungsorganisationen durch umständliche und teils erniedrigende Registrierungsvorschriften die Arbeit erheblich erschweren [1].

Nun führt das russische Regime aller Welt die Tragfähigkeit des nordkoreanischen Handlungsmodells vor Augen: Wer stark genug ist – sprich: wessen Waffensysteme über ein ausreichendes Vernichtungspotenzial verfügen –, macht sich unangreifbar. Als ideale Ergänzung dienen Rohstoffvorkommen, durch die sich notfalls immer irgendwo auf der Welt jemand finden lässt, der skrupellos genug ist, seine Bedenken gegenüber der Gewaltbereitschaft des Rohstofflieferanten hintanzustellen.

Erster Nachahmer des russisch-nordkoreanischen Handlungsmodells war Aserbaidschan, das die dunkle Geschichte der Genozide und Ethnozide am armenischen Volk fortgeschrieben hat. Aber auch Venezuela schickt sich mit seiner Forderung an den Nachbarstaat Guyana, ihm einfach mal zwei Drittel seines Staatsgebiets abzutreten, an, in die russischen Fußstapfen zu treten.

Bei weiteren Ländern mit aggressiver Rhetorik gegenüber ihren Nachbarstaaten wird durch den russischen Angriffskrieg zumindest die Hemmschwelle zur offenen Gewaltanwendung gesenkt. An erster Stelle ist hier natürlich Chinas Umgang mit Taiwan zu nennen.

Auch der jüngste Nahostkrieg ist durch die russische Aggression mittelbar beeinflusst worden. Da es im russischen Interesse liegt, die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft von dem eigenen Angriffskrieg abzulenken, konnte der Iran – von dem Russland zudem Drohnen bezieht – sich ermutigt fühlen, die Hamas in ihrem großangelegten Terrorangriff auf Israel zu unterstützen.

Bestärkung autoritärer Strömungen in den westlichen Gesellschaften

Die westlichen Demokratien sind alles andere als makellos. Das Parteiensystem hat zur Ausbildung einer Politikerkaste geführt, die mit ihrer Selbstrekrutierung teilweise oligarchische Züge trägt. Die Folge sind mangelnde Teilhabemöglichkeiten für weite Teile der Bevölkerung. Hinzu kommen soziale Ungerechtigkeiten, die sich in ungleicher Vermögensverteilung, schichtabhängigen Bildungschancen, unterschiedlichen Berufsperspektiven und selektivem Zugang zum Gesundheitssystem manifestieren.

Diese Mängel lassen sich angesichts der Beharrungskräfte des Alten nur in einem langwierigen Prozess beheben. Für eine solche evolutionäre Revolution fehlt vielen jedoch die Geduld – zumal die Früchte wohl erst ihre Enkel ernten könnten. So erhalten vermehrt Gruppierungen Zulauf, die das Kind mit dem Bade ausschütten, also die Demokratie gleich ganz abschaffen und an ihre Stelle ein autoritäres Führersystem setzen wollen.

Dies waren schon in der Vergangenheit die natürlichen Verbündeten des Kremls. Rechtspopulisten und Stalinisten sind dort stets hofiert und auch finanziell unterstützt worden [2]. Die vom Kreml praktizierte gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen liefert ihnen nun eine Bestätigung für das von ihnen angestrebte autoritäre Staatsmodell.

Gleichzeitig erweckt die aus dem oben beschriebenen Handlungsdilemma erwachsende Zögerlichkeit des Westens den Eindruck der Schwäche westlicher Demokratien. Dies könnte den Rattenfängern, die ihre Politik der starken Hand mit dem Versprechen zugemauerter Grenzen und sozialer Wohltaten verknüpfen, noch mehr Menschen in die Arme treiben.

Die Dystopie einer archaisch-hypermodernen Gewaltherrschaft

Ein Zeitalter der Aufklärung mag es in Russland nicht gegeben haben – technische Entwicklungen sind in dem Land jedoch stets mitvollzogen und teilweise auch führend vorangetrieben worden. Dies ist auch und gerade für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen genutzt worden.

Der Kreml verfügt dementsprechend über die modernsten technischen Möglichkeiten der Kriegsführung. Humanitäre Standards, die deren Anwendung einschränken oder zumindest regulieren könnten, existieren jedoch nicht. Zivilgesellschaftliche Strukturen, die für die Einhaltung derartiger Standards sorgen könnten, sind wirksam zerschlagen worden.

So erinnert die russische Gewaltanwendung in der Ukraine – mit der wahllosen Tötung von Zivilisten, den Folterungen, Plünderungen, Vergewaltigungen und Kindesentführungen – zwar an die Eroberungskriege der Vergangenheit. Selbst Bilder vom für seine besondere Grausamkeit bekannten Dreißigjährigen Krieg verblassen jedoch angesichts der dafür eingesetzten Mittel.

Der russische Angriffskrieg zeichnet sich eben gerade dadurch aus, dass er nach den inhumanen Standards der Vergangenheit, aber mit den technischen Mitteln der Moderne geführt wird. In der russischen Innenpolitik entspricht dem die Durchsetzung der Zensur und Meinungslenkung mit dem Instrumentarium des Computer-Zeitalters, ergänzt durch das archaische Gulag-System. Die Demokratie erstarrt zu ihrer eigenen Karikatur, zu einem bloßen System der Akklamation und einer Versammlung von Claqueuren zum Lob des Führers.

Für die Zukunft ergibt sich dadurch eine Dystopie, für deren Inhumanität unsere Vorstellungskraft kaum ausreichen dürfte. Eben deshalb sollten wir uns stets vor Augen halten, was wir verlieren, wenn wir es zulassen, dass sich die Logik der Gewalt durchsetzt.

Nachweise

[1]    Vgl.  hierzu den Punkt „Kriminalisierung internationaler Kooperation auf der Ebene der Zivilgesellschaft“ in dem Glossar Populismus und Autoritarismus (mit weiterführenden Links); überarbeitete Fassung 2019 (PDF).

[2]    Vgl. Bidder, Benjamin: Russlands rechte Freunde. Der Spiegel, 4. Februar 2016; ausführliche Studie zum Thema: Reimon, Michel / Zelechowski, Eva: Putins rechte Freunde. Wie Europas Populisten ihre Nationen verkaufen. Wien 2017: Falter.

Links zu PDFs zum Thema

Faktencheck zur russischen Invasion der Ukraine. Ein antipropagandistisches Mini-Glossar.

Der Große Vaterländische Blutrausch. Die russische Gesellschaft unter Putin und die Gewaltexzesse in der Ukraine.

Die Ukrainische Apokalypse. Literarische Miniaturen.

Ein Kommentar

  1. Sie haben das Dilemma auf den Punkt gebracht. Putin und seine Bande drücken der Welt die Logik längst überwunden geglaubter Gewalt und das Prinzip des Rechts des Stärkeren auf. Wenn er siegt, kann man alle Bemühungen die universalen Menschenrechte umzusetzen in die Tonne treten. Was ich wirklich widerlich finde, ist, wenn er so tut, als verteidige er die Menschenrechte russischer Minderheiten. Die russischen Minderheiten sind ihm nur insofern nützlich, wie sie sein imperialistisches, skrupelloses Gesamtprojekt stützen. Sie waren die ersten Opfer seiner Attacke. Dazu der russischsprachige, ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow: „Auf der Strasse gibt es keine Probleme. Bei Veranstaltungen spreche ich schon seit langer Zeit hauptsächlich Ukrainisch. Zu Hause und mit vielen Freunden spreche ich weiter Russisch. In Charkiw sprechen weiterhin 90 Prozent Russisch, in Kiew 70 Prozent. In Mariupol haben alle Menschen Russisch gesprochen. Vielleicht zeigt nichts deutlicher die Absurdität dieses Krieges. Die Leute in Mariupol waren Putins erste Opfer, dabei behauptete er, er wolle russischsprachige Menschen vor den Ukrainern verteidigen.“ Hier das Interview mit ihm als Ergänzung: https://www.nzz.ch/feuilleton/andrei-kurkow-solange-putin-lebt-gibt-es-keinen-frieden-ld.1708797

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