Faktencheck zur russischen Invasion der Ukraine

1. Die Leugnung einer eigenständigen ukrainischen Identität

Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine verstellt die russische Propaganda noch immer den Blick auf den verbrecherischen Charakter des Überfalls. Deshalb startet heute ein mehrteiliger Faktencheck dazu auf rotherbaron.

Widersprüchliche Kreml-Strategie

Bei der Legitimierung des Krieges gegen die Ukraine verfolgt die Kreml-Führung eine doppelte, in sich widersprüchliche Strategie. Einerseits wird behauptet, die ukrainische Sprache und Kultur sei nur eine Spielart des Russischen, eine Unabhängigkeit der Ukraine also quasi ein unnötiger Luxus.

Unausgesprochen gilt dabei die Gleichung: Russisch = Putinisch = Antiwestlich. Die angebliche russische Identität der Ukraine dient damit zugleich als Legitimation für das Vorgehen gegen eine Orientierung des Landes in Richtung westlicher Kultur und Wertesysteme.

Andererseits wird der ukrainischen Regierung vorgeworfen, alles Russische in der Ukraine an den Rand zu drängen, also die – angeblich doch gar nicht unabhängig vom Ukrainischen existierende – russische Sprache und Kultur zu unterdrücken.

Unterdrückung des Ukrainischen schon im 19. Jahrhundert

Fakt ist: Das Ukrainische ist eine unabhängige Sprache. Es gehört wie das Belarussische und das Russische zu den ostslawischen Sprachen, die sich seit dem Mittelalter zu eigenständigen Sprachen entwickelt haben.

Diese Tatsache ist von der politischen Führung in Russland schon früher geleugnet worden. So wurde das Ukrainische im 19. Jahr­hundert massiv unterdrückt. Der Maler und Dichter Taras Schew­tschenko (1814 – 1861), in der Ukraine als Nationaldichter ver­ehrt, musste sein Beharren auf einer eigenen sprachlich-kultu­rellen ukrainischen Identität sogar mit einem Verbot künstlerischer Betätigung, Zwangsarbeit und Verbannung bezahlen.

In der Sowjetzeit war das Ukrainische zwar nicht verboten, wurde jedoch ganz selbstverständlich als nachrangiger Dialekt betrach­tet. Die gesamte öffentliche Kommunikation war vom Russischen dominiert.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Ukraine nach der Erlangung der Unabhängigkeit die Förderung der eigenen Sprache und Kultur vorantrieb. Von einer Unterdrückung des Russischen konnte allerdings bis zum Beginn der Invasion keine Rede sein. Es gab durchaus auch Schulen mit russischer Unterrichtssprache.

Dass dort außer­dem Ukrainisch gelernt wurde, ist so normal wie die Orientierung am Russischen in Russland und am Deutschen in Deutschland. Zudem erleichtert dies den Kindern das spätere berufliche Fort­kommen.

Kein Aufgehen der ukrainischen in der russischen Geschichte

Wie die Negierung der sprachlichen ist auch die Leugnung der historischen Eigenständigkeit der Ukraine nicht haltbar. So wird das mittelalterliche Reich der Kiewer Rus zwar auch als Keimzelle des Russischen Reichs angesehen. Später ist die Kiewer Rus jedoch im polnisch-litauischen Großreich der Jagiellonen aufgegangen, noch später haben Teile des Landes zeitweilig zu Österreich-Ungarn gehört. Von einer durchgehenden Bestimmung der Ukraine durch die russische Kultur kann also keine Rede sein.

Die Ableitung eines russischen Herrschaftsanspruchs über die Ukraine aus der Kiewer Rus ist zudem auch für Russland selbst nicht ganz unproblematisch. Konsequent zu Ende gedacht, müsste man dann nämlich auch den skandinavischen Ländern einen Herrschaftsanspruch über Russland zugestehen. Denn das Herrschergeschlecht der Rurikiden, das unter seinem Urvater Rurik das Reich der Kiewer Rus begründet hat, war vermutlich normannischen Ursprungs.

Block, Vera: Der Goethe der Ukraine [über Taras Schew­tschenko]. Deutschlandfunk Kultur, 9. März 2014.

Kappeler, Andreas: Die Kiewer Rus: Geteilte Erinnerung in der Ukraine und in Russland. Bundeszentrale für politische Bil­dung, 9. September 2019.

Simon, Gerhard: Sprachenpolitik in der Ukraine. Bundeszent­rale für politische Bildung, 4. Dezember 2017.

Universal-Lexikon: Ukrainische Sprache; de-academic.com, 2012.

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