Plädoyer gegen die Sippenhaft

Nach dem Anschlag von Solingen: Eine Entgegnung auf Scholz, Merz, Höcke und  Co.

Die verständliche Wut nach dem Anschlag von Solingen hat mal wieder fremdenfeindliche Reflexe aktiviert. Dabei wird ein untaugliches Vorgehen gegen den Islamismus propagiert, dass diesen eher fördert, anstatt ihn zu bekämpfen.

Keine Pauschalverurteilungen!

Trauer und Wut sind nach dem bestialischen Anschlag von Solingen berechtigte Reaktionen. Sie dürfen sich jedoch nicht pauschal gegen alle arabischstämmigen Menschen oder Personen muslimischen Glaubens richten. Ich fordere ja auch nicht den Ausschluss aller SPD- und CDU-Abgeordneten aus dem Bundestag, weil mir die fremdenfeindlichen Reflexe von Olaf Scholz und Friedrich Merz zuwider sind.

Islamismus ist nicht gleich Islam

Die Forderung nach schnellerer Abschiebung in arabische Länder oder nach Afghanistan – oder gar nach einem Aufnahmestopp für Menschen aus diesen Ländern – lässt außer Acht, dass auch dort viele Menschen unter dem Islamismus leiden:

  • Der Völkermord an Menschen jesidischen Glaubens war eine Tat des IS, begangen in einem arabischen Land, nämlich dem Irak. Obwohl der Völkermord als solcher anerkannt worden ist, kommt es mittlerweile wieder vermehrt zu für die Menschen traumatisierenden Rückführungen in den Irak [1].
  • In Nordsyrien wären die Kurden froh, bei ihrem Kampf gegen den IS und fundamentalistische Milizen mit ähnlicher Leidenschaft unterstützt zu werden, wie sie Scholz, Merz und Co. bei ihren Abschiebungstiraden an den Tag legen [2].
  • In Afghanistan haben Menschen noch heute darunter zu leiden, dass sie vor nicht allzu langer Zeit den Versprechungen des Westens, in ihrem Land einen demokratischen Staat aufzubauen, vertraut und daran mitgearbeitet haben [3]. Frauenrechte werden dort mittlerweile wieder derart mit Füßen getreten, dass man eigentlich allen Afghaninnen Asyl anbieten müsste [4].
  • Neben dem Islamismus gibt es natürlich für Menschen aus dem arabischen Raum auch andere plausible Fluchtgründe. So sind gerade in Syrien Oppositionelle nach wie vor der Willkür eines Regimes ausgeliefert, dass Folter und Mord als gezielte Mittel zur Absicherung seiner Herrschaft einsetzt [5].

Inhumane Konsequenzen der EU-Asylpolitik

Die Asylpolitik der EU sieht vor, dass in ein anderes EU-Land weitergereiste Menschen in das Land zurückgeschickt werden können, in dem sie zuerst Asyl beantragt haben. Das sind in der Regel die Länder an der EU-Außengrenze. Die Neuregelung der EU-Asylpolitik bürdet diesen Ländern eine noch größere Verantwortung auf, indem sie eine verpflichtende Registrierung an der Grenze sowie eine sofortige Prüfung auf mögliche Aussichtslosigkeit des Antrags vorsieht [6].

Die Konsequenz ist eine indirekte Förderung oder zumindest stillschweigende Akzeptanz inhumaner Zustände in diesen Ländern. Da sie sich mit der Migration überfordert fühlen, dulden sie Pushback-Praktiken an den Grenzen und bringen die Schutzsuchenden in gefängnisähnlichen Einrichtungen unter, in denen menschenunwürdige Bedingungen herrschen.

Die Forderung, Menschen, die vor den unhaltbaren Zuständen in den dortigen Lagern fliehen, in die Erstaufnahmeländer zurückzuschicken, ist deshalb ebenfalls inhuman. Dies gilt gerade auch für Bulgarien, dessen Name in der derzeitigen „Rückführungsdebatte“ immer wieder genannt wird [7].

Nicht einzelne Islamisten, sondern den Islamismus bekämpfen

Den Islamismus kann man nicht besiegen, indem alle jungen arabischen oder muslimischen Männer unter Generalverdacht gestellt werden. Wer gegen ihn vorgehen will, muss ihm vielmehr den Nährboden entziehen.

In den Herkunftsländern würde dies bedeuten, Sozialprogramme zu fördern, die jungen Menschen eine berufliche Perspektive bieten. Dies würde es den islamistischen Rattenfängern erheblich erschweren, Nachwuchs zu rekrutieren.

Um die Verbreitung islamistischen Gedankenguts zu unterbinden, müsste man sich zunächst einmal mit dem türkischen Frömmler Erdoğan anlegen, dessen Religionsbehörde insbesondere über die Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) auch in Deutschland aktiv ist und hier etwa Moscheegemeinden unterstützt, aber auch den islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen beeinflusst [8]. Hier hält man jedoch die Füße still, weil die Türkei als NATO-Partner und Bollwerk gegen die Migration einen Unantastbarkeitsbonus genießt.

Auch das saudi-arabische Königshaus und andere arabische Regenten sind Förderer des Islamismus. Hier lautet die Rechnung jedoch: Lieber Islamismus mit Öl- und Gaslieferungen als konsequente Islamismusbekämpfung ohne Rohstoffimporte.

Schließlich könnte auch gegen die immer wieder zu beobachtenden islamistischen Agitationen an deutschen Schulen und in Fußgängerzonen (Stichwort „Scharia-Polizei“) konsequenter vorgegangen werden. Dies kann allerdings erst recht nicht auf dem Wege einer verschärften Abschiebungspolitik geschehen, weil die Betreffenden oft nicht nur über einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen, sondern sogar deutsche Staatsbürger sind.

Hier würde also nur das helfen, was schon seit Jahrzehnten versäumt wird: eine echte, dialogbasierte Integrationspolitik. Dies wäre das Gegenteil jener Abschottungspolitik, die jetzt wieder propagiert wird.  Die Pauschalverurteilung andersdenkender und andersgläubiger Menschen, auf der diese Politik basiert, ist nur ein weiterer Nährboden für den Islamismus.

Nachweise

[1]      Bundeszentrale für politische Bildung: 2014: Völkermord an Jesidinnen und Jesiden. Hintergrund aktuell, 31. Juli 2024.

[2]      Riesche, Simon: Kurden in Syrien: Im Kampf gegen den IS alleingelassen. Tagesschau.de, 26. Juli 2023.

[3]      Pro Asyl: Afghanistan: „Wie lange wollt ihr noch lügen?“; 1. Februar 2022.

[4]      Medicamondiale.org: Frauenrechte in Afghanistan; Stand 08/2024.

[5]      Knipp, Kersten: Syrien: Tötungen, Folter und Verschwindenlassen. Deutsche Welle, 7. Juli 2023.

[6]      AFP/DPA: Schärfere EU-Asylregeln endgültig beschlossen. ZDF.de, 14. Juni 2024.

[7]      Zellweger, Conradin / Horlacher, Maj-Britt: Pushbacks in Bulgarien: Eingesperrt und misshandelt an der EU-Außengrenze. SRF.ch, 9. Dezember 2022.

[8]      Frank, Helmut: Reicht Erdoğans Einfluss bald auch bis ins deutsche Klassenzimmer? Sonntagsblatt.de, 21. Juni 2021.

Bild: Pixabay, unbekannter Autor: Stadt hinter Stacheldraht

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen wichtigen Debattenbeitrag. Es gruselt mich, wenn ich höre, was aus SPD-Kreisen jetzt so tönt: Ohne menschenrechtlichen Kompass, reiner Populismus. Warum sollte mensch diese Partei wählen?- Rassisten wählen das Original, die Faschisten, und aufrechte DemokratInnen wenden sich mit Grausen von dieser erbärmlichen Truppe ab…

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