Kanzlerkandidaturen – eine einsame Entscheidung

Was wir bei den Wahlen nicht wählen können/3

Wahlkampf – von allen Wänden grinsen uns Personen entgegen, die um unsere Stimme werben. Nur: Wir dürfen sie gar nicht wählen. Unsere Stimme können wir nur der Partei geben, für die sie antreten. Was läuft da schief?

Einschränkung der Demokratie durch Angst vor dem Führerstaat

Für die Beantwortung der Frage, warum es in Deutschland weder für das Amt des Kanzlers noch für das eher repräsentative Amt des Bundespräsidenten eine Direktwahl gibt, müssen wir mal wieder in den Keller der Geschichte herabsteigen. Dort ist mit fetten Lettern an die Wand geschrieben: „Nie mehr Führerstaat!“

Das klingt zunächst einleuchtend: Durch eine Direktwahl zentraler Entscheidungsträger unserer Demokratie käme diesen eine größere Machtfülle zu. Die Gefahr, dass sie ihre Macht für eine Aushebelung demokratischer Prozesse  und die Etablierung autoritärer Strukturen nutzen, könnte sich dadurch erhöhen.

Allerdings steht diese Vorsicht sowohl im Gegensatz zu unserer Verfassung als auch zur politischen Alltagsrealität. So ist der Kanzler bei uns keineswegs nur ein „primus inter pares“. Nicht nur die Richtlinienkompetenz gibt ihm – unabhängig davon, ob er unmittelbar Gebrauch von ihr macht – eine besondere Autorität. Auch die Tatsache, dass die Ministerernennung und -entlassung durch den Bundespräsidenten auf seinen Vorschlag hin erfolgt, verleiht ihm eine besondere Machtfülle.

Hinzu kommt, dass die Wahlkämpfe bei uns schon lange stark personalisiert sind. Neben diversen Wohlfühlbotschaften prangen immer wieder die Gesichter der Kanzlerkandidaten auf den Wahlplakaten – obwohl wir mit der entscheidenden Zweitstimme doch nicht diese wählen, sondern die Parteien, für die sie antreten.

Direktwahlverfahren – das Beispiel USA

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es nicht schlicht ehrlicher wäre, Direktwahlverfahren einzuführen. Schauen wir uns dazu zunächst ein Land an, in dem das schon lange praktiziert wird – die USA.

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten entscheiden nicht die Parteien über die Präsidentschaftskandidaten, sondern das Wahlvolk. So konnte 2008 ein gewisser Barack Obama seinen Siegeszug ins Weiße Haus antreten – obwohl er als gerade erst in den Senat gewählter Anwalt aus Illinois bis dahin landesweit kaum bekannt war.

Die Vorwahlen in den einzelnen Bundesstaaten richten sich – als „closed primaries“ – teilweise nur an die eigenen Parteimitglieder, sind teilweise – als „open primaries“ – aber auch für alle Wahlberechtigten offen. Einzige Einschränkung: Man muss sich für eine primary – oder einen caucus, also eine lokale Versammlung, bei welcher der Abstimmung Diskussionen über die zur Wahl stehenden Personen vorausgehen – entscheiden, darf also nicht an republikanischen und demokratischen Vorwahlen gleichzeitig teilnehmen.

Checks and balances: Kongress und Präsident in den USA

Nun könnte man einwenden: Was soll daran denn vorbildlich sein? Das Resultat der letztjährigen Vorwahlen heißt doch bekanntlich – Donald Trump. Nicht gerade ein ausgewiesener Verteidiger von Menschenrechten und Demokratie. Also schützt das US-amerikanische Wahlsystem doch auch nicht vor autokratischen Tendenzen.

Das ist einerseits richtig: Einen absoluten Schutz vor einer Infiltrierung von Wahlen durch populistisch-autoritäre Tendenzen gibt es nicht. Andererseits hat Donald Trump die Wahl vielleicht auch deshalb gewonnen, weil Joe Biden zu spät zurückgezogen hat und Kamala Harris sich dadurch nicht mehr den Vorwahlen stellen konnte. Dadurch hatte sie als Kandidatin eine geringere Legitimation.

Hinzu kommt: Donald Trump hat sich zwar schon vor Antritt seiner Präsidentschaft als omnipotenter Brüllaffe präsentiert. In der Realität ist es aber keineswegs ausgemacht, dass er einfach so durchregieren kann, wie er es sich vorstellt. So musste sein Kandidat für das Amt des Justizministers – Matt Gaetz – schon vor der Anhörung im Senat von der Kandidatur zurücktreten, weil absehbar war, dass er aufgrund seiner diversen Skandale keine Mehrheit erhalten hätte.

Dies zeigt, dass selbst eine Präsidentenmehrheit in beiden Kammern des Kongresses keine Garantie dafür bietet, sich auf ein reines Abnickerparlament stützen zu können. Gerade durch die Tatsache, dass Parteien- und Präsidentenwahl in den USA klar voneinander getrennt sind, versteht sich das Parlament als selbstbewusste Entscheidungsinstanz, die dem Präsidenten als kritisches Regulativ gegenübersteht. Dem entsprechen auch Rechte, die der deutsche Bundestag nicht hat – wie eben beispielsweise die Anhörung und darauf basierende Bestätigung oder Ablehnung der Kandidaturen um Ministerämter.

Vorwahlen für Kanzlerkandidaturen – ein Gedankenspiel

Spielen wir also einfach mal durch, wie Wahlen bei uns aussehen würden, wenn das Wahlvolk bei der Bestimmung des Chefpostens der Regierung mitentscheiden dürfte.

In der CDU hätte das bedeutet, dass Friedrich Merz und Markus Söder nicht einfach am privaten Stammtisch den Kanzlerkandidaten ausgekungelt hätten. Es hätte offene Vorwahlen gegeben, bei denen womöglich auch noch andere Interessierte ihren Hut in den Ring geworfen hätten.

Ähnlich wäre es bei der SPD gewesen. Olaf Scholz hätte nicht einfach sagen können: „Ich bin unverzichtbar!“ Stattdessen wären auch hier die Parteimitglieder befragt worden – mit der absehbaren Folge, dass der Kanzlerkandidat nicht Scholz, sondern Boris Pistorius geheißen hätte.

Interessanterweise schießen die Parteien sich mit ihrer autokratischen Personalpolitik selbst ins Bein. Dadurch, dass sie es denen mit den größten Macht-Schalthebeln erlauben, selbst über ihre Kandidatur zu entscheiden, vermindern sie im aktuellen Fall ihre eigenen Wahlchancen. So haben sowohl Merz als auch Scholz in Umfragen schlechter abgeschnitten als andere, die sich bei freien Vorwahlen um das Amt eventuell mitbeworben hätten.

Veränderter Moralkodex durch Auswahlmöglichkeiten bei der Kanzlerwahl

Der entscheidende Punkt ist allerdings, dass offene Vorwahlen einen anderen Moralkodex mit sich bringen würden. Beim gegenwärtigen, formal auf die Partei fokussierten Wahlsystem lautet der entscheidende Wert: Geschlossenheit. Wer den Machtanspruch des Alphatiers in Frage stellt, gilt als Nestbeschmutzer. So wird das demokratische Auswahlprinzip auf dem Altar der Parteidisziplin geopfert.

Wo dagegen Vorwahlen abgehalten werden, gilt es automatisch als Zeichen mangelnder Demokratie, wenn nur ein Kandidat zur Wahl steht. Der entscheidende Wert lautet daher hier: Vielfalt. Und: Die Person, die sich am Ende bei den Wahlen durchsetzt, hat eine größere Legitimation für ihre Kandidatur bzw. später für ihr Amt.

Die Ausdehnung der Wahlmöglichkeiten auf den Chefposten der Regierung müsste also keineswegs notwendigerweise mit mehr Autoritarismus einhergehen. Sie könnte dem zentralen Regierungsamt vielmehr gerade zu einer größeren Verankerung in der Demokratie verhelfen.

Hierfür wäre übrigens nicht unbedingt die Einführung von Vorwahlen nach US-amerikanischem Vorbild notwendig. Entsprechende Wahlmöglichkeiten ließen sich auch problemlos mit der Bundestagswahl selbst verbinden. Dafür müsste es nur eine zusätzliche Spalte unter den Parteien geben, wo die Wahlberechtigten ihr Kreuzchen bei dem Kanzlerkandidaten ihrer Wahl machen könnten.

Bildquelle: Pixabay

2 Kommentare

  1. nur eine Exrraspalte verwässert dein Argument, das ich logisch finde. Die Trennung der Vorwahlkämpfe ist notwendig, finde ich. Mir gefällt auch das US-System, dass nach zwei Jahren viele Ämter neu gewählt werden und so die Mehrheiten in Senat und Kongress nicht für die gesamte Legislaturperiode festgemauert sind

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  2. Tatsächlich machen sich die wenigsten Menschen in diesem Land Gedanken über unsere Demokratie. Der Argumentation in diesem Artikel kannich gut folgen. Was Demokratie bedeutet, scheint den meisten Leuten unklar: Herrschaft des Volkes. Und dazu müsste es in der Tat gehören, das höchste Amt des Staates mitbestimmen zu dürfen. Ich stimme Gkazagou (seltsamer Name) zu, dass nur eine Extraspalte zu wenig ist. Solche Vorwahlen können bei den Menschen auch wieder Interesse an Politik und Entscheidungen wecken. Natürlich sind die US-amerikanischen Wahlkämpfe immer mehr von Emotionen und „Shows“ geprägt als von Inhalten, aber daran könnte man ja auch arbeiten … Und, wenn ich so die Wahlplakate anschauen, suche ich die Inhalte auch vergeblich.

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