Kriegschronik

Die Ukraine und das Gift der Gewöhnung

Erstveröffentlichung März 2022

Ein einziger Terrorakt löst eine Welle der Empörung aus. Hunderte tägliche Terrorakte aber führen zu Abstumpfung und lösen ein Gefühl der Ohnmacht aus, das durch Schuldzuweisungen an das Opfer kompensiert wird. So ergeht es derzeit der Ukraine.

Kriegschronik

Der erste Mord hatte ein Gesicht für dich: das Gesicht einer alten Frau, die unter den Trümmern ihres Hauses begraben worden war. Entsetzt verlangtest du, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Auch der zweite Mord wandte dir ein Gesicht zu: das eines jungen Soldaten, der am Straßenrand in seinem Blut lag. Empört verlangtest du die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen.
Der dritte Mord traf eine ganze Division. Entrüstet riefst du die Konfliktparteien zur Zurückhaltung auf.
Der vierte Mord brachte eine ganze Stadt zum Einstürzen. Da verlor der Mord sein Gesicht für dich. Auf einmal sahst du überall nur noch Trümmer und Schutt. So richtetest du dein Augenmerk auf den Wiederaufbau und auf Hilfe für die Flüchtlinge.
Der fünfte Mord setzte ein ganzes Land in Brand. Da erinnertest du dich der Friedensreden, die du früher stets an den Feiertagen gehalten hattest. Inbrünstig fordertest du eine Rückkehr an den Verhandlungstisch. Ein schlechter Frieden sei besser als ein guter Krieg, verkündetest du, berauscht von deiner eigenen Weisheit.
Der letzte Mord ist eine Massenvergewaltigung. Interessiert stehst du am Rand des Schlachtfelds und diskutierst mit anderen Experten über die Strategie der Angreifer: Werden sie alle Opfer auf einmal vergewaltigen? Oder doch eher eines nach dem anderen? Werden sie die Opfer einkesseln, um sie an der Flucht zu hindern? Werden sie überfallsartig in sie eindringen oder sie zu¬vor fesseln? Werden sie sie vor oder nach der Vergewaltigung töten?
Und die Opfer: Werden sie sich wehren? Wäre es klug, Widerstand zu leisten? Sollten sie sich nicht eher, wie alle folgsamen Lämmer, klaglos in ihr Schicksal ergeben?

Bild: Wassilij Wereschtschagin (1842 – 1904): Apotheose des Krieges (1871); Moskau, Tretjakow-Galerie (Wikimedia commons)


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