Eitelkeit und Vanitas

Ein kleiner Spaziergang über den Jahrmarkt der Eitelkeiten

Überarbeitete Fassung 2025

„Eitelkeit“ – das war ursprünglich eine Bezeichnung für die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des menschlichen Tuns: unsere „Vanitas“. Heute bezeichnet der Begriff eher eine Selbstüberhöhung, die der Verdrängung der Vanitas dient. Was sagt das über den menschlichen Geist aus?

Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (1637)

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiesen sein,
auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten,

als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,
als eine Wiesenblum‘, die man nicht wiederfind’t!
Noch will, was ewig ist, kein ein[z]ig Mensch betrachten!

Tröstendes Gedicht trotz trostloser Grundaussage

Das schöne Sonett von Andreas Gryphius hat mir – obwohl tausendmal gehört – schon oft Trost gespendet. Zwar führt es uns in eindringlichen Wiederholungen die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des menschlichen Tuns vor Augen. Andererseits vermitteln die streng antithetischen Verse eine Harmonie, die eine Art Kontrapunkt zu der trostlosen Grundaussage des Gedichts darstellt.

Dies erscheint zunächst widersinnig. Die Antithesen (bauen <–> einreißen; Städte <–> Wiesen; Glück <–> Beschwerden, usw.) gehen aber immer wieder in zusammenfassende Sentenzen über, die in den beiden Schluss-Strophen in eine fast schon musikalische Engführung münden.

So werden die Antithesen am Ende in eine umfassende Synthese überführt, aus der sich die harmonische Gesamtwirkung des Gedichts ergibt. In dieser Harmonie spiegelt sich das wider, worauf das Sonett in seinem letzten Vers den Blick lenkt: die Ewigkeit Gottes, die dem zeitgebundenen, vergänglichen Dasein des Menschen als rettender Hafen gegenübergestellt wird.

Die Vanitas – und wie man sinnvoll mit ihr umgehen kann

Gryphius‘ Gedicht konfrontiert uns damit zunächst mit der Grundsituation des menschlichen Lebens – der „Vanitas“. Andererseits macht es jedoch klar, dass ein Leben, das bei dieser Einsicht stehen bliebe und aus ihr heraus gelebt werden sollte, sinnlos wäre.

Das ständige Mitbedenken und -empfinden der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des eigenen Tuns entspricht der Gefühlsstruktur des Depressiven. Es verunmöglicht alles Handeln, mündet zwangsläufig in dumpfe Apathie und findet seine logische Vollendung im Selbstmord, dem freiwilligen Verzicht auf ein als sinnlos empfundenes Leben.

Deshalb weist uns das Sonett in der Hinwendung zum Ewigen auch einen Ausweg aus diesem Erkenntnisdilemma. Anstatt sein Tun und Denken an der Endlichkeit des Einzeldaseins auszurichten, kann der Mensch auch seine Teilhabe am Ganzen der Schöpfung bzw. des Seins in den Vordergrund stellen.

Dies muss nicht unbedingt im christlichen und noch nicht einmal in einem religiösen Sinn verstanden werden. Der entscheidende Punkt ist vielmehr eine Verschiebung der Perspektive: An die Stelle der Fokussierung auf das eigene Ich und seine Bedeutung – bzw. Bedeutungslosigkeit – tritt die Konzentration auf die Totalität des Seins, in die das Ich als zwar unvorstellbar kleines, aber doch unauslöschbares Einzelkörnchen verwoben ist.

Analog dazu ließe sich auch an das Aufgehobensein des Ichs in der Gesamtheit der Menschheitsgeschichte denken. Im Mittelpunkt stünde dann nicht der „Ruhm“, den der Einzelne durch seine „hohen Taten“ erlangen kann, sondern das – wenn auch noch so bescheidene – Mitwirken am großen Faden der Menschheitsgeschichte und an dem unausgesetzten Erkenntnis- und Selbstbespiegelungsprozess des menschlichen Geistes.

Die durch das Gryphius-Gedicht nahegelegte Form des Umgangs mit der „Eitelkeit“ des menschlichen Daseins, im Sinne seiner „Vanitas“, impliziert somit das Gegenteil dessen, was wir heute unter einem „eitlen Verhalten“ verstehen.

Vanitas und Eitelkeit

Wenn wir etwas als „eitel“ bezeichnen, können wir damit im Deutschen – in einer allerdings veraltenden Bedeutungsvariante – zum einen auf die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des menschlichen Tuns, im Sinne seiner „Vanitas“, verweisen. Zum anderen kann – was dem heutigen Sprachgebrauch näher ist – das Adjektiv aber auch auf eine Haltung verweisen, welche die Vanitas durch eine übersteigerte Meinung von der eigenen Ausstrahlung bzw. Wirkmächtigkeit verdrängt.

Dies ist eine sehr bezeichnende semantische Nuance. Sie zeigt, dass die zweite, von Gryphius kritisch hinterfragte Reaktionsweise auf die Vanitas, die das Bewusstsein von dieser in einer selbstverliebten Konzentration auf das eigene Ego und seine Bedeutung erstickt, offenbar so verbreitet war (und ist), dass ihre Bezeichnung mit der lutherischen Übersetzung der biblischen Vanitas zusammenfiel.

Nun ließe sich natürlich einwenden, dass die Eitelkeit, im Sinne einer egozentrisch verzerrten Einschätzung der eigenen Bedeutung, lediglich die Kehrseite eines Emanzipationsprozesses darstellt. Schließlich diente die Vanitas-Lehre der Kirche das ganze Mittelalter hindurch – und noch darüber hinaus – als eine Art geistiger Rohrstock, mit dem sich sündige und sündenbereite Schafe unter das Dogmendach des Katholizismus zwingen ließen. Getreu dem Motto: Nur wer sich nicht zu sehr im Garten der irdischen Lüste verstrickt, wahrt sein Anrecht auf einen Platz im Garten Eden.

Das große Ganze, das den Einzelnen vom Leiden an der Vergänglichkeit des eigenen Daseins entlasten konnte, fand sein Abbild hier nicht in der Schöpfung, dem Universum oder dem breiten Strom der Menschheitsgeschichte. Es wurde vielmehr allein von der gestrengen Mutter Kirche repräsentiert, unter deren Rockzipfel nur schlüpfen durfte, wer in seinem Tun und Denken die ihm gesetzte Grenze nicht überschritt.

Eitelkeit – ein pubertäres Stadium des menschlichen Geistes?

Vor diesem Hintergrund könnte man die eitle Selbstüberhöhung als eine Art Kinderkrankheit ansehen, als ein quasi pubertäres Stadium, das der menschliche Geist im Zuge seiner Emanzipation von den allein selig machenden Wahrheiten der großen Heilslehren durchlaufen musste.

Dagegen spricht jedoch, dass die Eitelkeit keineswegs ein Phänomen der Neuzeit ist. Schon die antiken Autoren setzen sich in vielfältiger Weise mit ihr auseinander, ihre Überwindung ist ein zentrales Thema der stoischen Lehre.

Außerdem stellt sich die Frage, ob der moderne Mensch dieses geistig-pubertäre Stadium nicht mittlerweile hinter sich gelassen haben müsste. Oder ist es vielleicht so, dass an die Stelle der alten längst neue Heilslehren getreten sind, so dass der Emanzipationsprozess in jeder Generation von Neuem durchlaufen werden muss? Befindet sich der moderne Mensch womöglich in einer Art geistiger Dauerpubertät?

Aber müsste dieser Emanzipationsprozess, anstatt sich an immer neuen Heilslehren abzuarbeiten, nicht eher in die von Albert Camus beschriebene sisyphoshafte Auflehnung gegen das eigene Schicksal münden – in eine heroische Bejahung des Daseins, die sich der existenziellen Vergeblichkeit des menschlichen Tuns bewusst bleibt, ihr zum Trotz aber ganz bewusst am Willen zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens und der Welt festhält (vgl. Albert Camus, Le mythe de Sisyphe, 1942, dt. 1956)?

Eitelkeit als Zeichen von Realitätsfremdheit

Es mag sein, dass ein Pubertierender ein gewisses Anrecht auf Eitelkeit hat. Sie ist hier entschuldbar, da sie aus dem Überschwang der Welt- und Selbsterkundung heraus entsteht. Ein junger Mensch, der das erste Mal bestimmte philosophische Gedankengebäude mit seinem Geist durchmisst, mag von dem plötzlichen Erkenntnisgewinn, von der totalen Veränderung aller Perspektiven, so überwältigt sein, dass er schnell den Eindruck gewinnen kann, niemand vor ihm habe jemals so schlaue Gedanken gehabt.

Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn die pubertäre geistige Eitelkeit auch in späteren Jahren noch ein bestimmendes Element im Auftreten eines Menschen bleibt. Denn eben das, was man einem Jugendlichen nachzusehen bereit ist – dass er noch nicht wissen kann, wie viele Bücherschränke voll mit ähnlichen Gedanken wie den von ihm gerade entdeckten existieren – wirkt bei einem Älteren als Ausdruck mangelnder geistiger Reife oder einer Ignoranz, welche die eigene Originalität auf Kosten einer ostentativen Missachtung der geistigen Produkte anderer zu behaupten versucht.

Hinzu kommt – und hier schließt sich der Kreis zu dem eingangs zitierten Gryphius-Gedicht –, dass selbst der originellste, einzigartigste Gedanke nicht zur Folge hat, dass die Person, die ihn hervorgebracht hat, Unsterblichkeit erlangt. Dies gilt sowohl in realer als auch in ideeller Hinsicht. Was heute eine bahnbrechende Innovation ist, ist morgen schon von etwas anderem überholt.

Auch literarische Werke sind selten von so zeitloser Bedeutung wie das Sonett von Andreas Gryphius. Vielmehr beruht ihr Erfolg oftmals gerade darauf, dass die Zeitgenossen sich und ihre Probleme darin widergespiegelt finden – wodurch das entsprechende Werk für spätere Generationen nur noch von historischer Bedeutung ist.

Eitelkeit als geistige Selbstamputation

Was also sollen wir von Menschen halten, die ihre „Vanitas“ und die durch sie implizierte Demut dem eigenen Wirken gegenüber durch ein eitles Verhalten verdrängen, das sie wie unsterbliche Genien erscheinen lässt? Wirken sie nicht wie ehemalige Schönheitsköniginnen, die den Fluch des Alters durch mumienhafte Kriegsbemalung zu übertünchen versuchen?

Hat ein solches todesvergessenes Verhalten nicht fast schon etwas Makabres? Ist Todesvergessenheit aber nicht stets auch eine Form von Selbstvergessenheit? Und ist damit ein eitler Intellektueller nicht ein Widerspruch in sich, da er mit seiner Selbstvergessenheit jede wahre Reflexion, die immer auch die kritische Selbstreflexion miteinschließt, unmöglich macht?

Bild: Hans Thoma (1839 – 1924): Frau mit Spiegel und Tod (1880); Wikimedia common

Ein Kommentar

  1. Das ein Ereignis, im Drama der Seele, den Träumer eindeutig formt, dies ist nicht allseits bekannt. Durch das Erkennen, zu neuer Einsicht durch den Traum, in seinem kurzen Leben, zu Umkehr und zu neuer Tat tagtäglich auffordert.

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