Über Widersprüche in unserem Verständnis körperlicher Freizügigkeit
Ein unverkrampftes Verhältnis zu Nacktheit und Sexualität gilt bei uns als Ausdruck einer freien Persönlichkeit. Aber sind wir wirklich überall so locker, wie wir uns geben? Und hat körperliche Freizügigkeit in jedem Fall eine befreiende Wirkung?
Der Kanzler in einer peinlichen Lage
Stellen wir uns einmal vor, in den sozialen Medien würde ein Filmchen mit Friedrich Merz auftauchen. Nein, keine der üblichen Homestorys oder „Wir-machen-alles-besser“-Protzereien. Das Filmchen zeigt Friedrich Merz so, wie Gott – oder wer auch immer – ihn geschaffen hat, in inniger Umarmung mit einem jungen Mann.
Friedrich Merz trägt in dem Filmchen nichts außer seine Brille und einem Paar Socken. Der junge – sehr junge – Mann dagegen ist in Lederkluft gewandet, die nur an einer gewissen Stelle unverschlossen ist. Eben auf diese Stelle zielt auch die Begierde des anderen, dessen Kanzlerknüppel sich …
Stopp! Wir wollen es hier doch lieber so halten wie all die anderen anständigen Medien, die zwar ihrer Berichtspflicht nachkommen, sich über die Details des Videos aber schamvoll ausschweigen – was die Neugierde aber natürlich nur noch mehr anstachelt, so dass das Filmchen rasch zum meistgeklickten Post im Netz wird.
Die Angelegenheit spitzt sich zu, als kolportiert wird, dass der junge Mann in dem Film noch keine 18 ist. Also: Verführung Minderjähriger! Der Kanzler streitet das zwar ab, verweist auf seine Privatsphäre und spricht von einer politischen Schmutzkampagne. Am Ende muss er aber doch den Hut nehmen.
Kurze Zeit darauf kommt heraus, dass sein Gespiele in dem Filmchen doch schon deutlich über 18 war. Das entlastet den Ex-Kanzler zwar, ändert aber nichts an der öffentlichen Empörung über sein Verhalten. Wurde also nur nach einer juristischen Rechtfertigung für die moralische Ablehnung seines Handelns gesucht?
Die barbusige Kommissionschefin
Ein anderes Gedankenspiel. Stargast dieses Mal: Ursula von der Leyen. In meiner fiktiven Social-Media-Welt hat sie sich an die Spitze der Bewegung für das barbusige Baden gestellt. Mit nacktem Oberkörper posiert sie zwischen anderen befreiten Damen, mit ihrem typischen Krokodilslächeln, das nur von einem leichten Zittern der Mundwinkel verzerrt wird.
Auch dieses Mal: einhellige Empörung! Natürlich, die Emanzipation, freie Entfaltung für freie Körper, weibliche Solidarität – aber diese Freizügigkeit geht dann doch zu weit!
Es versteht sich von selbst, dass das manche Feministinnen ganz anders sehen und sogleich nach Brüssel reisen, um sich aus Protest gegen die Diffamierung einer Geschlechtsgenossin am Sitz der EU-Kommission zu entblättern. Das Resultat ist eine weitere Aufheizung der Debatte, an deren Ende sich schließlich auch die Kommissionschefin aufs Altenteil zurückzieht.
Der Körper hinter den Matrix-Kostümen
Die anzunehmende Entrüstung über die entblößten Politikerleiber wirft zunächst einmal ein Schlaglicht auf unser Bild der Politik. Diese ist für uns eben alles andere als sexy.

Persönlichkeiten des öffentlichen politischen Lebens dürfen sich zwar als schwul, trans, bi oder was auch immer outen – unsere Vorstellung von ihnen bleibt aber dennoch die technokratischen Neutren, die wie in den Matrix-Filmen in quasi-automatenhafter Weise handeln und sprechen. Unter ihren Kleidern erwarten wir folglich maschinelle Verdrahtungen und einen Kabelsalat wie in einem Computergehäuse. Sehen wir dort nackte Haut, so erschrecken wir wie kleine Kinder, die ihre Eltern beim Sex überraschen.
Darüber hinaus verweisen die Gedankenspiele aber auch auf Widersprüche und Inkohärenzen in unserem Verständnis von körperlicher Freizügigkeit. Dies gilt auch für die Freibaddebatte, die unsere fiktive Kommissionschefin ihren Job gekostet hat.
Nacktheit als Störfaktor
Aber bevor wir uns dieser Debatte eingehender zuwenden, hier zunächst ein weiteres fiktives Szenario: Wir haben Hochsommer, draußen sind fast 40 Grad, alles schwitzt und hechelt. Da reißt sich die Sekretärin im Vorzimmer vom Herrn Direktor im hitzigen Fieberwahn die Bluse vom Leib und beschließt, ihrer Arbeit fortan barbusig nachzugehen.
Die Reaktion vom Herrn Direktor? Klar, insgeheim genießt er den Anblick, den er sich schon so oft in schwülen Träumen ausgemalt hat. Nach außen hin gibt er sich aber dennoch empört: „Aber Frau Freisleben! So geht das doch nicht! Was sollen denn die Leute denken? Und überhaupt: Was ist das denn für eine Arbeitsmoral?“
Da haben wir’s: die Arbeitsmoral! Auch wenn er dem Herrn Direktor mit Sicherheit ein neurotisch-verklemmtes Sexualleben attestieren würde – in diesem Punkt würde wohl auch ein gewisser Sigmund Freud dem Büro-Pharisäer zustimmen. Kleidung ist ein Treiber der Zivilisation: Sie hält uns davon ab, ständig an „das Eine“ zu denken und bringt uns dazu, unsere Libido stattdessen sublimierend auf gemeinschaftsdienliche Arbeitsabläufe zu lenken.
Dies bedeutet zweierlei: zum einen, dass Nacktheit mit sexueller Erregung assoziiert wird, die ihrerseits in einer Reihe von Betätigungsfeldern als Störfaktor betrachtet wird; zum anderen, dass es – eben deshalb – ungeschriebene Normen dafür gibt, wo wie viel nackte Haut als angemessen gilt.
Barbusig im Supermarkt einzukaufen oder gar oben ohne eine Rede im Bundestag zu halten, würde als anstößig empfunden werden. Noch nicht einmal Männer dürften sich mit nacktem Oberkörper ans Rednerpult stellen, obwohl das in vielen Fällen wohl kaum sexuelle Erregung auslösen würde.
Nacktheit als Verheißung und Normalität
Der Bundestag ist zum Debattieren – und manchmal auch für politische Weichenstellungen – da, der Supermarkt ist zum Einkaufen da, das Büro zum Arbeiten. Und das Schwimmbad? Das müsste doch eigentlich zum Schwimmen da sein …
Gut, im Schwimmbad wird ohnehin viel nackte Haut gezeigt, und um zivilisatorische Höchstleistungen geht es dort auch nicht. Also müsste man sich dort doch auch gleich ganz nackicht machen können.
Vielleicht wäre das sogar besser, als sich nur teilweise zu entblättern. Denn die Andeutung von Nacktheit ist eine Verheißung, die erregend wirken kann. Eine Anhäufung nackter Leiber führt dagegen lediglich vor Augen, dass wir alle unter unserer Kleiderschutzhülle nur aus welkendem Fleisch bestehen, einem Verschleißmaterial, das einem unaufhaltsamen Verfall ausgesetzt ist – was nicht unbedingt eine sexuell erregende Vorstellung ist.
Weibliche Nacktheit als ungeschriebene Norm
Dennoch bleibt auffallend, dass es gerade die weibliche nackte Haut ist, die Gegenstand aufgeregter Debatten ist. Dabei gilt die unausgesprochene Maxime: Nackte Haut zu zeigen, ist ein Ausdruck von Freiheit. Sie zu bedecken, wie beim Burkini, ist ein Zeichen von Unterdrückung.
So hat es beim Burkini in der Vergangenheit Verbote gehagelt, während das barbusige Baden immer häufiger erlaubt wird. Dadurch stellt sich die Frage, ob hier weibliche Freiheit nicht in einer männlichen Vorstellung entsprechenden Weise interpretiert wird – ob Freizügigkeit also nicht unversehens im Sinne einer freien Verfügbarkeit des weiblichen Körpers umgedeutet wird.
Überhaupt sind die Grenzen beim Zeigen weiblicher Haut fließender als im Falle von Männern. Während es bei Frauen als Zeichen besonderer Eleganz gilt, sich bei festlichen Anlässen in enge Pellwurstkleider zu zwängen, die viel Raum für das freie Quellen des Fleisches lassen, ist es bei Männern genau umgekehrt. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich bis zum Hals fest einschnüren – als wollte man verhindern, dass der „Jack-in-the-Bux‘“ vor lauter Erregung über so viel nackte weibliche Haut aus der Hose springt.
Auch im Alltag ist weibliche Kleidung oft körperbetonter als männliche. Sie tradiert damit – oft unreflektiert – ein Bild des auf den männlichen Blick fixierten weiblichen Körpers, das dem emanzipatorischen Anspruch moderner Frauen widerspricht.
Unfreie Freizügigkeit

Nackte Haut zu zeigen, ist folglich nicht per se ein Ausdruck von Freiheit. Es kann auch genau gegenteilig wirken und empfunden werden – weshalb es Frauen selbst überlassen bleiben sollte, wie sie damit umgehen. Normen, die in die gegenteilige Richtung weisende Erwartungshaltungen produzieren, schränken dagegen die Freiheit von Frauen ein, anstatt sie zu fördern.
In Bezug auf die Freibadnormen heißt das: kein Verbot von Burkinis, außerdem Anbieten abgetrennter Bereiche für Frauen, die sich zwar gerne unverhüllt sonnen, dabei aber lieber nicht beäugt werden möchten.

Vor allem aber bräuchten wir eine ehrlichere Debatte über unser Verständnis von nackter Haut und sexueller Freizügigkeit. Die Widersprüche, die darin verborgen sind, sollten wir offen thematisieren, anstatt unseren Alltag davon prägen zu lassen.
Bilder: Sabrina Belle: Frau im Uhrenglas (Pixabay); AU-Bild: Roboter am Rednerpult; Exoticwaterwear.com.au. Quelle: Pinterest; Pierre-Auguste Renoir: Stehende Badende