Der Leviathan und das Völkerrecht

 Über postmoderne apokalyptische Reiter und das Ende der Welt

Die Idee eines Völkerrechts, das für einen regelbasierten, friedlichen Umgang der Völker miteinander sorgt, ist von Anfang an nicht von allen Staaten mitgetragen worden. Mittlerweile offenbart sich die Idee aber immer mehr als realitätsfernes Luftschloss.

Ein frühneuzeitlicher Blick auf die Entstehung von Staat und Rechtssystemen

Ein Ungeheuer als Garant der Ordnung?

Die Geburt des Völkerrechts aus dem (Un-)Geist des Krieges

Mangelnde Internalisierung des Völkerrechtsgedankens

Jenseits des Rechts: Außergerichtliche Todesurteile

Rechtlose Stärke – ein Gegenstand der Bewunderung

Der janusköpfige Leviathan – welches Gesicht wendet er uns zu?

Ein frühneuzeitlicher Blick auf die Entstehung von Staat und Rechtssystemen

Warum schließen wir uns in Staaten zusammen? Wozu dient das Rechtssystem? Wieso unterwerfen wir uns der Logik der Gesetze?

Der britische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) hatte auf diese kindlichen Fragen eine sehr einfache Antwort. Im Naturzustand gelte aufgrund des angeborenen Aggressionspotenzials des Menschen: Homo homini lupus – Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Deshalb hätten sich die Menschen aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus freiwillig dem Regelwerk eines Staates unterworfen, der ihr Aggressionspotenzial eindämmt bzw. es in sozialverträgliche Bahnen lenkt.

Das klingt auf den ersten Blick logisch. Bei näherem Hinsehen offenbart die Theorie aber doch einige Tücken. Zunächst einmal reicht das Aggressionspotenzial des Wolfs bei Weitem nicht an das des Menschen heran. Wölfe sind sowohl innerhalb ihres jeweiligen Rudels als auch in ihrem jeweiligen Rudel nur so aggressiv, wie es für den Erhalt der Art bzw. des Ökosystems notwendig ist. Hobbes hatte hier also das Klischeebild des glutäugigen, heulenden Ungeheuers vor Augen, als das der Wolf den Menschen der damaligen, weniger mit dem Innenleben der Wälder vertrauten Zeit erscheinen musste.

Auch Hobbes‘ These von der natürlichen gegenseitigen Zerstörungsbereitschaft des Menschen lässt sich bei einem Blick auf die früheren und heute noch lebenden Naturvölker kaum aufrechterhalten. Deren Aggressivität ist weit entfernt von der des modernen Menschen. So dürfte Hobbes auch hier eher die Menschen seiner eigenen Zeit, also der Frühen Neuzeit, vor Augen gehabt haben.

Hier trifft er in der Tat einen wunden Punkt der Menschheitsgeschichte. Denn wenn auch das Aggressionspotenzial des Menschen im Verlauf der Geschichte vielleicht nicht stärker geworden ist, so ist doch seine Zerstörungskraft durch die technische Entwicklung und das engere Zusammenleben im Binnenbereich – Stichwort Städtewachstum – wie im Weltmaßstab deutlich angestiegen. Dies macht eine genauere Kodifizierung und Überwachung der Regeln für das Zusammenleben dringlicher.

Ein Ungeheuer als Garant der Ordnung?

Eine weitere Merkwürdigkeit von Hobbes‘ Theorie besteht darin, dass er das Gebilde zur Regulierung des Zusammenlebens der Menschen als „Leviathan“ bezeichnet. Denn eigentlich müsste dieses Gebilde – als Garant eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen – doch positiv konnotiert sein. Dies ist im Falle des Leviathans aber nur bedingt der Fall.

In der bildenden Kunst wird der Leviathan zumeist als im Meer lebendes Drachenwesen dargestellt, steht also eher für Unheil und Zerstörung als für eine Ordnung schaffende Kraft. Allerdings nehmen diese Darstellungsformen eher auf die spätere mythische Ausgestaltung der Figur Bezug. In seiner ursprünglichen Gestalt, wie sie in den Schöpfungsberichten sowohl der jüdischen Tora als auch der christlichen Bibel angelegt ist, beruht der Leviathan eher auf der Vorstellung einer irdischen Entsprechung zur unbeschränkten Macht Gottes. Hier ist er kein furchterregendes Meeresungeheuer, sondern eine Personifizierung des Meeres, das in seiner Unendlichkeit und Unvorhersehbarkeit als Spiegelbild des Göttlichen erscheint.

An diese ursprüngliche Erscheinungsform des Leviathans scheint auch Hobbes bei seiner Theoriebildung gedacht zu haben. Als Ordnung und Frieden garantierendes Gebilde wird der Leviathan mit einem alles Lebendige umfassenden Wesen verglichen, das die Einzelwesen unabhängig von der bewussten Vermittlung der Regeln mit deren Geist durchdringt.

Dennoch bleibt der Leviathan als Sinnbild für den Staat eine ambivalente Metapher. So berichtet etwa die Bibel im Buch Hiob von einem entarteten Leviathan, der wie der böse Drache aus den Märchen Kinderleiber als Tribut für sein Wohlverhalten fordert.

Übertragen auf die Theorie von Hobbes, ergibt sich daraus das Bild eines Staates, der seine Jugend auf eine erstarrte Ordnung festlegt und sie so an der Entfaltung hindert, anstatt diese zu fördern. In Erweiterung dieses Gedankens kann der Leviathan auch als Bild für einen regulierungswütigen Staat angesehen werden, der alle Entscheidungsgewalt an sich reißt und den Menschen keine Luft für kreatives Denken und Eigeninitiative lässt.

Auf der anderen Seite erscheint der Leviathan in der Bibel aber auch als Werkzeug Gottes. In der Apokalypse ist er zwar eine furchterregende Gestalt, vernichtet als solche aber die Sünder und schafft so die Voraussetzung für ein von der Sünde gereinigtes Reich Gottes.

Die Geburt des Völkerrechts aus dem (Un-)Geist des Krieges

Der Westfälische Friede, der 1648 das Ende des Dreißigjährigen Krieges markierte, fiel ebenso in die Lebenszeit von Thomas Hobbes wie die Publikation der Schriften von Hugo Grotius (1583 – 1645). Beides gilt als wegweisend für die Entwicklung des modernen Völkerrechts.

So lässt sich das Bild des Leviathans wohl von der einzelstaatlichen auch auf die zwischenstaatliche Ebene übertragen. Hier sind es nicht einzelne Menschen, sondern die einzelnen Völker, die sich im Interesse einer friedlichen Regelung ihrer Beziehungen freiwillig einem übergeordneten Regelwerk – eben dem Völkerrecht – unterwerfen.

Meilensteine des Völkerrechts im 20. Jahrhundert sind das 14-Punkte-Programm, das der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson 1918 vorgelegt hat, die dadurch maßgeblich angeregte Gründung des Völkerbunds zwei Jahre später und die Idee einer internationalen Gerichtsbarkeit, wie sie ab 1945 in die Tat umgesetzt worden ist.

Beide Entwicklungen sind durch Weltkriege angestoßen worden. Dies bezeugt die Dringlichkeit, die dahinter stand – den fast schon verzweifelten Versuch der Menschheit, sich ein verbindliches Regelwerk zu schaffen, das der am Ende ihre eigene Existenz und die ihres Planeten gefährdenden Dynamik der Gewaltspirale Einhalt gebieten sollte.

Mangelnde Internalisierung des Völkerrechtsgedankens

Allerdings bleibt beim Völkerrecht dieselbe Ambivalenz bestehen, wie sie auch für die von Hobbes der Staatstheorie zugrunde gelegte Leviathan-Metapher gilt. Sie ergibt sich zum einen daraus, dass ein als Garant für Ordnung und Frieden gedachtes Gebilde, das sich selbst nicht weiterentwickelt, der Erstarrung anheimfallen und so am Ende das Gegenteil dessen bewirken kann, wofür es gedacht war. Diese Problematik zeigt sich etwa an dem Konstrukt des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der auf der Weltordnung des Jahres 1945 basiert und heute in seinem Anachronismus oft eher das konsequente Eintreten der Weltgemeinschaft für den Frieden verhindert.

Zum anderen steht und fällt die Wirksamkeit einer Rahmenordnung aber selbstverständlich mit ihrer Anerkennung durch jene, deren Zusammenleben sie regeln soll. Am effektivsten ist sie dann, wenn sie – wie im Idealbild von Hobbes‘ Leviathan – das Zusammenleben nicht nur äußerlich reguliert, sondern von den Einzelnen internalisiert wird. Moralisch betrachtet, werden die Regeln dann nämlich nicht nur aus Angst vor Sanktionen, sondern aufgrund innerer Überzeugung befolgt.

Dass Letzteres in Bezug auf das Völkerrecht nicht der Fall ist, haben die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg überdeutlich gezeigt. Die passende Überschrift für das entsprechende Kapitel der Menschheitsgeschichte wäre wohl: Kriege pflasterten ihren Weg. Wann immer es den mächtigen Staaten opportun erschien, haben sie das Völkerrecht links liegen gelassen und ihre Interessen gewaltsam durchzusetzen versucht.

Auch erkennen einige Staaten – vorneweg die USA, China und Russland, aber auch Indien, die Türkei und Israel – das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht an und signalisieren so, dass sie für sich eine Stellung über dem Völkerrecht beanspruchen.

Jenseits des Rechts: Außergerichtliche Todesurteile

Diese Tendenz, das Völkerrecht selektiv anzuwenden, hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Hinzu kommt der Anspruch einzelner Staaten, nicht nur selbst Recht zu setzen, sondern die daraus abgeleiteten Strafen auch jenseits aller Rechtsordnungen unmittelbar zu vollstrecken.

Im Falle Russlands betrifft dies mit der Ukraine gleich ein ganzes Land: Weil dieses als unrechtmäßig angesehen wird, werden wahllos dort lebende Menschen getötet, bis das betreffende Volk sich dem Willen des Rechtsetzenden unterwirft oder vollständig ausgelöscht ist.

In Bezug auf die Tötung einzelner Menschen ohne Gerichtsverfahren hat in jüngerer Zeit der Anfang des Jahrtausends von den USA ausgerufene „War on Terror“ den entscheidenden Anstoß gegeben. Auf dieser Grundlage ist ein Drohnenkrieg gegen so genannte „feindliche Kombattanten“ begonnen worden, der nicht nur zu Zeiten von George W. Busch, sondern auch während der Amtszeit von Barack Obama Hunderte Menschen das Leben gekostet hat. Zusammen mit den vermeintlichen Staatsfeinden sind dabei immer wieder auch etliche Unbeteiligte als „Kollateralschaden“ getötet worden.

Rechtlose Stärke – ein Gegenstand der Bewunderung

Diese absolutistische Rechtsetzung hat Israel in den vergangenen Jahren auf die Spitze getrieben. Wer immer als Gefährdung für den eigenen Staat angesehen wird, gilt als zum Abschuss freigegeben und wird „liquidiert“, soweit es der Staatsführung opportun erscheint.

Das Erschreckende daran sind nicht nur die extrarechtlichen Taten an sich. Fast noch beunruhigender ist die gleichgültige bis beifällige Haltung, mit der ihnen auch in jenen Gesellschaften, die auf ihre rechtsbasierte Ordnung stolz sind, begegnet wird. Das technokratische „Ausschalten“ unliebsamer Zeitgenossen samt möglicher Begleitpersonen und das ostentative Zerbomben angesetzter Verhandlungen werden nicht etwa als Bedrohung des Weltfriedens, als unverantwortliche Gefährdung der eigenen Bevölkerung und als gefährliches Vorbild für andere Konflikte angesehen, sondern als Ausdruck von Stärke und Effizienz gelobt.

Auch Wladimir Putins Ansehen hat durch seine täglichen Massenmorde in der Ukraine nicht nachhaltig gelitten. Nicht nur gilt er nach wie vor als respektabler Staatsmann – er wird sogar allen Ernstes als Friedensvermittler im Nahen Osten gehandelt.

Was den Iran anbelangt: Natürlich sind die Mullahs dort keine Friedenstauben. Es bringt den Menschen im Iran aber nichts, von ihrem Regime befreit zu werden, wenn sie dabei ihr Leben verlieren. Die Behauptung einer brennenden Atomwaffen-Lunte erinnert zudem in fataler Weise an die Vorgeschichte des zweiten Irakkriegs. Auch hier hat der gewaltsam herbeigeführte regime change bekanntlich nicht gerade ein Reich des Friedens anbrechen lassen.

Der janusköpfige Leviathan – welches Gesicht wendet er uns zu?

Dies alles zeigt, wie weit wir von einer Internalisierung des Völkerrechtsgedankens entfernt sind. Fast scheint es, als würde es die Kinder freuen, wenn eines von ihnen dem Papa in Gestalt des Völkerrechts-Leviathans seine Grenzen aufzeigt.

Der Leviathan aber ist, wie oben bereits ausgeführt, eine ambivalente Gestalt. Wo es auf den ersten Blick so aussieht, als würde man ihm ein Schnippchen schlagen, kann in Wahrheit er selbst der Treiber der Entwicklung sein. Befinden wir uns also womöglich am Ende aller Zeiten – an jenem Punkt, wo der Leviathan als Werkzeug Gottes dessen Strafgericht umsetzt?

Dies ist in der Tat eine Sichtweise, der die aktuelle israelische Regierung wohl zustimmen würde. Mit ihrem alttestamentarischen Rechtsempfinden ist sie ja gewissermaßen eine Seelenverwandte jener Leviathan-Gestalt, die am Ende aller Zeiten die Sünder vernichtet.

Wenn nun aber der Ratschluss Gottes – der ja bekanntlich für uns irdische Wesen unergründlich ist – in eine ganz andere Richtung weist? Wenn die finalen Menschheitssünder ganz woanders sitzen? Wenn also – nur so als Beispiel – Trump, Putin und Netanjahu als eine Art apokalyptische Reiter agieren würden, ohne selbst etwas von ihrer wahren Bestimmung zu wissen? Würde sich dann nicht gerade aus dieser fehlenden Bewusstheit ihrer apokalyptischen Funktion die Gefahr eines Untergangs der Menschheit ergeben?

Bilder: Giacomo Rossignolo (1524-1604): Leviathan. Das jüngste Gericht. Fresco (Wikimedia Commons) ; Titelbild von Hobbes Leviathan, 1651 (Wikimedia Commond)

2 Kommentare

  1. Das Verrückte ist, dass sich im Israel-Iran-Streit beide Seiten auf Gott berufen. Wessen Waffen siegen, hängt ab von Gottes Ratschluss. „Wir werden siegen, weil/wenn Gott es so will“. So sprechen beide voller Zuversicht.

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  2. Das sind sehr interessante Zusammenhänge. Vor allem die Widersprüchlichkeit im Bild des Leviathans hat mich zum Nachdenken angeregt. Im Prinzip ist es dennoch doch unverständlich, warum nach der Formulierung der universellen Menschenrechte, so etwas wie „Ausschalten“ und „Liquidieren“ ernsthaft diskutiert und umgesetzt wird.

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