Ein einleitender Briefwechsel
In der nächsten Woche startet auf rotherbaron wieder die musikalische Sommerreise. Dazu gibt es heute ein paar einleitende Worte und ein Reiselied zur Einstimmung.
Heute habe ich mal wieder eine Nachricht aus der Community erhalten – eine Mail von einem gewissen Federico, dessen Name mir seltsam vertraut vorkam. Dieses Gefühl hat sich dann auch bestätigt, als ich die Mail geöffnet habe. Darin schreibt mir Federico:
„Hallo Rother!
Ich weiß nicht, ob Du Dich noch an mich erinnerst. Es ist mittlerweile – autsch! –schon sieben Jahre her, seit ich Dir meine erste Mail geschickt habe.
Weißt du noch? Damals hatte es auch gerade eine Bundestagswahl gegeben, und ich hatte mich darüber gewundert, dass Du davor einen veritablen politischen Aktionismus an den Tag gelegt hattest und danach in ein lautes Schweigen verfallen warst.
In diesem Jahr habe ich nun ein verdammtes Aha-Erlebnis: Alles ist fast wieder genauso wie damals. Vor der Bundestagswahl: große politische Reden auf RB. Nach der Bundestagswahl: betretenes Schweigen. Es ist fast so, als wäre Dir Dein politischer Exhibitionismus im Nachhinein peinlich. Oder wirken Wahlen auf Dich wie ein seltener Virus, der Deine Lippen lähmt?
Fehlt bloß noch, dass Du auch in diesem Sommer wieder zu einer Deiner Musikreisen aufbrichst und die Politik endgültig hinter Dir lässt. Mal ehrlich, Rother: Was soll das? Wo sind Deine Utopien geblieben? Bist Du jetzt etwa auch zu einer dieser Wohlstandsschildkröten mutiert, die sich unter ihren Panzer verkriechen, wenn es draußen in der Welt zu brenzlig wird?
Mit ratlosen Grüßen –
Dein Federico
Hier meine Antwort an Federico:
Mein lieber Federico!
Zunächst einmal vielen Dank für Deine Mail. Auch wenn Deine Worte nicht unbedingt schmeichelhaft für mich sind, freue ich mich doch immer, wenn sich mal eine Flaschenpost an den Strand meiner Blog-Insel verirrt.
Ich antworte Dir unter vier Aspekten:
- Das Virus des Stillstands
- Die falschen Fragen
- Freiheit und Unfreiheit des Blogger-Zuschauers
- Der Blick aus dem Fenster der Blog-Hütte
Das Virus des Stillstands
Was Deine Analyse meiner Blog-Aktivitäten anbelangt, so kann ich Dir im Grunde nur eine sensible Beobachtungsgabe bescheinigen. Es ist in der Tat so, dass ich vor den Wahlen mal wieder allerlei politische Reden geschwungen habe, danach aber in ein – was die politische Bühne in Deutschland anbelangt – „lautes Schweigen“ verfallen bin.
Der Grund dafür ist allerdings nicht ein geheimnisvoller Virus, sondern eher der Überdruss an dem immer Gleichen, der scheinbaren Unabänderlichkeit des politischen Stillstands. Mit anderen Worten: Gelähmt sind nicht meine Lippen, sondern die politischen Strukturen.
Ja, es gibt Veränderungen: neue Köpfe, neue Projekte, eine neue Zusammensetzung des Parlaments. Dabei handelt es sich aber lediglich um oberflächliche Akzentverschiebungen. Die Macht der Parteien verhindert, dass in den neuen Köpfen auch neue Inhalte, ein echter Paradigmenwechsel im politischen Denken, steckt. Ein grundlegender Wandel findet nicht statt.
Und die veränderte Zusammensetzung des Parlaments? Geht doch hauptsächlich auf das Konto der AfD. Und die ist eher ein Symptom für den seit Jahren in diesem Land zu beobachtenden Rechtsdrall als ein Zeichen für strukturelle Veränderungen. Die würden genau in die entgegengesetzte Richtung weisen.
Die falschen Fragen
Was mir ebenfalls nach jeder Bundestagswahl wieder aufs Gemüt schlägt: Die wirklich wichtigen Fragen werden nicht gestellt. Sie würden zum Beispiel lauten: Was ist das für eine Demokratie, die es achselzuckend hinnimmt, wenn fast sieben Millionen Stimmen bei einer Wahl in den Papierkorb wandern, weil sie für unter die 5%-Hürde gerutschte Parteien abgegeben wurden? Warum wird dieser Skandal nicht als solcher benannt? Warum wird nicht über die denkbar einfache Alternative – eine Ersatzstimme für den Fall, dass die gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert – diskutiert?
Oder: Weshalb sprechen wir über die nicht hinnehmbare Politisierung der Justiz in Polen, lassen es aber geschehen, dass bei uns das Parlament – und damit letztlich der Postenschacher der Parteien – über die Zusammensetzung der höchsten Gerichte bestimmt? Wieso ist die strukturelle Inkompetenz der politisch Verantwortlichen, die aus der Notwendigkeit der Konzentration ihrer Energie auf die Aufstiegsmobbereien in den Parteien resultiert, bei uns nur eine Gag-Vorlage für Comedians? Haben uns die hochgezogenen Zugbrücken vor den Parteienburgen zu einem Zynismus erzogen, der uns in unserer einst gefeierten Demokratie nur noch ein Lachobjekt sehen lässt?
Was mich auch zunehmend stört: das Prinzip, dass die Mehrheit stets die ganze Macht an sich reißen kann, egal wie knapp das Ergebnis an der Wahlurne ausfällt. Wenn – wie jüngst in Polen und den USA – die Wahlen faktisch ein Fifty-fifty-Resultat ergeben, müsste das doch eigentlich zu einer konsensualen Regierung führen, bei der beide Seiten aufeinander zugehen und Kompromisse aushandeln würden, anstatt dass eine Seite ihren Willen auf Kosten der anderen Seite durchsetzt.
Freiheit und Unfreiheit des Blogger-Zuschauers
Aber, wie gesagt: Das ist schon sehr lange so. Das Resultat: Desillusionierung. Entmutigung.
Hinzu kommen ja noch ganze andere, weit monströsere Inhumanitäten wie der tägliche Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Auch hier sitze ich da und frage mich jeden Tag aufs Neue: Wie kann man dabei zuschauen? Warum wird nicht mehr getan, um dem Terror Einhalt zu gebieten? Wieso werden nicht wenigstens die bei europäischen Banken lagernden russischen Zentralbankmilliarden endlich für die Ukraine freigegeben?
Wenn man, wie ich, fernab der großen politischen Bühne in einer armseligen Blog-Hütte lebt, hat man bei all diesen Dingen leider keine Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Ich bin nur ein Zuschauer vor dieser Bühne, der das Recht hat, ab und zu laut „Buh!“ zu rufen. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, ob dieses Ventil nicht vielleicht sogar eine systemstabilisierende Funktion hat, weil es mich gewissermaßen ruhig hält und von einem womöglich wirksameren zivilen Ungehorsam abhält.
Meine einzige Freiheit als Zuschauer: Ich bin nicht gezwungen, die ganze Zeit zuzuschauen. Ich kann meinen Blick auch in eine ganz andere Richtung wenden – und so vielleicht auf neue, ganz andere Ideen kommen, die mir dann wieder eine neue Sicht auf die politische Bühne ermöglichen können.
Abgesehen davon besteht das Leben aber nun einmal glücklicherweise nicht ausschließlich aus dieser Bühne. Den Blick zuweilen von ihr abzuwenden, kann auch ganz allgemein eine erfrischende Wirkung auf den Geist haben.
Der Blick aus dem Fenster der Blog-Hütte
Da hast du nun, lieber Federico, meine Begründung dafür, warum ich in der Tat auch in diesem Sommer wieder zu einer Musikreise aufbrechen werde. Für mich ist es jedenfalls immer wieder eine belebende Erfahrung, das Fenster meiner Blog-Hütte zu öffnen und den frischen Wind anderer musikalischer Welten hereinwehen zu lassen.
Dies gilt umso mehr, als ich die Erfahrung gemacht habe, dass sich in der Musik eines anderen Landes stets auch dessen Kultur widerspiegelt. So ist das Fenster zu einer anderen Musik stets auch ein Fenster zu einer etwas anderen Sicht der Welt.
Deine Mail, mein lieber Federico, hat mich übrigens auch noch mal an das schöne Lied erinnert, das damals die Musikreise eingeleitet hat. Ich denke, ich mache es dieses Jahr wie die Vögel in dem Lied und lasse mich einfach treiben. Mal sehen, wohin der Wind mich trägt …
Vielleicht versöhnt es Dich ja mit meiner politischen Fastenzeit, wenn ich den Song hier zu Deinen Ehren noch einmal in das Schaufenster meines Blogs stelle. Ansonsten danke ich Dir für Dein Mitdenken und hoffe für die Zukunft auf weitere, gerne auch kritische Flaschenpostsendungen von Dir – nur vielleicht dieses Mal etwas früher als in sieben Jahren.
Herzlichst – Dein Rother
Louise Attaque: Du Nord au Sud
Von Nord nach Süd
Vom Norden in den Süden
jeden Hafen jede Stadt
unermüdlich mühelos
im Gleichklang überfliegen
Vom Norden in den Süden
manchmal sogar in die Irre fliegen
auf dem Weg nach Norden
unbeschwert mit anderen teilen
den Schatz meiner Kraft
In alle vier Himmelsrichtungen
mühelos vom Norden in den Süden
fliegen ohne anzuhalten
haltlos gehalten von den Winden
mühelos
vom Norden in den Süden
fliegen ohne anzuhalten
Vom Norden in den Süden
einen Meridian entlang
auf der Bahn des Abenteuers
eine Prozession von Reisenden
gekleidet in das Gewand des Windes
Vom Norden in den Süden
zu fernen, unbekannten Horizonten
die Träume aus dem Himmel pflücken
und reich beschenkt nach Hause kommen
In alle vier Himmelsrichtungen
mühelos vom Norden in den Süden
fliegen ohne anzuhalten
haltlos gehalten von den Winden
mühelos
vom Norden in den Süden
fliegen ohne anzuhalten
(kursiv gedruckte Zeilen im Original auf Spanisch)
Louise Attaque: Du Nord au Sud (Vom Norden in den Süden) aus: Comme on a dit (2000)
Über Louise Attaque:
Die Band ist 1994 aus der von Gaëtan Roussel und Robin Feix gegründeten Schülerband Caravage (benannt nach dem Maler Caravaggio) hervorgegangen. Ihr Name ist eine Hommage an die französische Anarchistin Louise Michel (1830 – 1905) sowie an die US-amerikanische Folk-Punkband Violent Femmes.
Mit ihrer Mischung aus Folk, Chanson und Rockmusik fand die Band großen Anklang beim Publikum. Bereits ihr erstes Album avancierte zum bis dahin meistverkauften einer französischen Musikgruppe. Die Band existiert bis heute, wobei die Bandmitglieder zwischendurch auch immer wieder eigene Wege gegangen sind.
Bild: William Holbrook Beard (1825 – 1900): Kranichphantasie (Phantom Crane; 1891); Wikimedia commons
Meine vollste Solidarität und DANK für dieses Statement an Federico: Vergeblichkeit ist NICHT umsonst! (sagt Angelika Janz, und jetzt : Musik!!!)
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