Zwangsmaßnahmen gegen Zwangsehen?

Anmerkungen zum geplanten Gesetz gegen Kinderehen

Mädchen am Strand von Essaouira, Marokko

Leila war erst 15, als sie mit Mustafa verheiratet wurde. Ihre Eltern hatten ihn für sie ausgesucht, er war fünf Jahre älter als sie, und obwohl sie ihn bis zur Hochzeit kaum kannte, gefiel er ihr doch recht gut. Er war gepflegt, er begegnete ihr mit Achtung, und so erfüllte sie ganz selbstverständlich ihre ehelichen Pflichten.

Richtig vertraut wurde Mustafa ihr aber erst, als sie sich mit ihm auf die Flucht machte, als sie gemeinsam aufbrachen zu diesem fernen, unbekannten Kontinent namens Europa, in dem es, wie ihre Eltern ihr versichert hatten, jeden Tag warmes Wasser und genug zu essen für alle gab. Diese Flucht nämlich war der Hauptgrund dafür gewesen, dass ihre Eltern auf die Hochzeit gedrängt hatten. In ihrer Heimat herrschte Krieg, und sie wollten, dass wenigstens ihre jüngste Tochter das Inferno überlebte und anderswo den Keim ihrer Familie am Leben erhalten könnte.

Auf der Flucht zeigte Mustafa sich Leila gegenüber als wahrhaft ritterlicher Beschützer. Er wies die Schlepper zurecht, als sie ihr zu nahe kamen, er verschaffte ihr einen sicheren Platz auf dem Schiff, auf dem sie das Meer überquerten, er überließ ihr die kärglichen Reste, als ihr Proviant zur Neige ging. Und als sie endlich in Europa angekommen waren, war er es, der mit seinen spärlichen Englischkenntnissen die Verhandlungen mit den Behörden führte. Am Ende – Leila hätte nicht selbst nicht mehr genau sagen können, wie – landeten sie in Deutschland, einem sehr sauberen, sehr reichen Land, in dem die Menschen auf Leila aber dennoch einen seltsam mürrischen Eindruck machten.

Sie hatten in Deutschland einen entfernten Verwandten, bei dem wollten sie zunächst unterkommen. Dann aber, als sie auf irgendeinem Amt ihre Papiere vorzeigen mussten, machte der Mann hinter dem Schreibtisch auf einmal eine Bemerkung, die Mustafa völlig aus der Fassung brachte. Leila sah ihn erschrocken an, aber er reagierte gar nicht darauf, sondern redete nur noch wie von Sinnen auf den fremden Mann ein. Dessen Gesichtsausdruck wechselte von mürrisch zu abweisend und von abweisend zu versteinert, bis er schließlich zwei andere Männer zu Hilfe rief.

Die Herbeigerufenen führten den sich heftig wehrenden Mustafa ab – wohin, wusste Leila nicht. Sie klammerte sich an ihn, sie war doch völlig hilflos in dem fremden Land, aber die Männer hielten sie zurück und zwangen sie, die nun vor Verzweiflung zu schluchzen begann, in einen Stuhl. Von dort holte sie kurz darauf eine mitleidig blickende Frau ab, die sie in ein Heim für unbegleitete Minderjährige brachte. Auf ihre Frage, wo Mustafa sei, wann sie ihn wiedersehen könne und warum sie voneinander getrennt worden seien, erhielt sie keine Antwort. Ob die Frau ihre Sprache nicht verstand oder es nicht fertigbrachte, ihr die Wahrheit zu sagen, konnte sie nicht herausfinden.

 

Zugegeben: Alles frei erfunden. Genau so aber könnte es sich abspielen, wenn Ehen von Minderjährigen in Deutschland demnächst – im Falle von über 16-Jährigen – von Familiengerichten überprüft oder gar – bei unter 16-Jährigen – unterschiedslos annulliert werden. Natürlich können wir uns in Deutschland nicht einfach die Eheschließungspraktiken anderer Länder aufzwingen lassen. Natürlich müssen wir darauf achten, dass Familienverhältnisse, in denen die Frau zu einer Bediensteten und Gebärmaschine herabgewürdigt wird, nicht auf Deutschland übertragen werden. Natürlich muss jede Heranwachsende, die nach Deutschland kommt, zunächst einmal das Recht auf einen Schulbesuch und auf eine Berufsausbildung erhalten.

Die Frage ist aber, wie man dieses Ziel am besten erreichen kann. Der von der Bundesregierung eingeschlagene Weg antwortet auf Zwangsehen mit einem Zwangsgesetz. Aber kann man jemanden zu seiner Freiheit zwingen? Wie wird Leila wohl reagieren, wenn sie begriffen hat, dass man ihre Ehe mit Mustafa für ungültig erklärt hat? Wird das nicht eher eine Trotzreaktion in ihr auslösen? Wird sie nicht, sobald sie volljährig ist, erneut eine Ehe mit Mustafa eingehen? Und besteht dann nicht erst recht die Gefahr, dass sie ihre Freiheit verliert – bzw. diese gar nicht erst entdeckt?

Ob es uns gefällt oder nicht: Wenn wir Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, helfen wollen, müssen wir uns zunächst einmal auf ihre Situation einlassen. Dazu gehört auch das Normengefüge, in das sie hineingeboren worden sind. Nach den traumatischen Erlebnissen infolge von Krieg und Flucht muss man ihnen die nötige Zeit lassen, um sich an die Gegebenheiten am Zielort ihrer Reise zu gewöhnen. Wer sie per Gesetz zwingen will, ihr altes Denken abzulegen wie einen schmutzigen Mantel, erreicht das Gegenteil.

Das heißt natürlich nicht, dass wir die Etablierung streng patriarchalischer Familienverhältnisse bei uns dulden können. Ich meine jedoch, dass sich einer solchen Entwicklung eher vorbeugen lässt, wenn wir auf die Menschen zugehen, ihnen Hilfe anbieten und Überzeugungsarbeit leisten, anstatt ihnen mit Zwangsmaßnahmen zu begegnen, die ihre traumatischen Ängste verstärken können und sie aus purem Selbstschutz an den vertrauten Denk- und Handlungsmustern festhalten lassen.

Anstelle des geplanten Gesetzes hätte ich mir daher die folgende Vorgehensweise gewünscht:

 

  1. Einrichtung spezieller Kurse für verheiratete Minderjährige, in denen die jungen Frauen unter Anleitung bereits in Deutschland heimischer Frauen aus ihrem Kulturkreis allmählich an die Gepflogenheiten ihrer neuen Heimat herangeführt werden;
  2. Benennung von Vertrauensfrauen, an welche die Minderjährigen sich im Konfliktfall wenden können; dabei auch Bereitstellung eines speziellen Notfallhandys;
  3. Einrichtung von Intensivkursen zur Vorbereitung auf den regulären Schulbesuch; so früh wie möglich Anbahnung von Kontakten zu Einheimischen;
  4. Seminare für die Ehemänner der minderjährigen Frauen, in denen nicht nur deren Rechte erläutert, sondern auch in Rollenspielen das eigene Selbstverständnis als Mann und der Umgang mit den Ehefrauen auf den Prüfstand gestellt werden (wobei manch einer jetzt wohl einwenden mag, dass derartige Seminare auch einigen deutschen Männern nicht schaden könnten).

 

Klar ist natürlich auch, dass bei allem Entgegenkommen und Moderieren und Erklären die Freiheitsrechte der modernen Demokratie hier ebenso wenig verhandelbar sind wie bei jedem anderen Fall von Gewalt in der Ehe, Stalking oder Erpressung. Erst der Dialog verleiht uns jedoch die moralische Legitimation, den Ermöglichungsbedingungen von Freiheit notfalls auch mit Zwang zur Geltung zu verhelfen. Denn wie können wir von jemandem verlangen, die Freiheitsrechte anderer zu achten, wenn wir seine eigene Freiheit vom ersten Augenblick an beschneiden und ihm eine Grundvoraussetzung demokratischer Kultur – den Dialog – verweigern?

 

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