Musikalische Sommerreise 2017: Teil 5

Achte bis zehnte Etappe: Spanien Italien und Griechenland

Sunset beach and bench

Eine musikalische Sommerreise, noch dazu im Sommer, ohne einen Abstecher ans Mittelmeer? – Unvorstellbar! Also habe ich mich als blinder Passagier in ein Road Movie der 1997 gegründeten katalanischen Band Sidonie eingeschmuggelt und mich so an jene „azurblaue Küste“ fahren lassen, die man im Spanischen „Costa Azul“ und im Französischen „Côte d’Azur“ nennt.

Während einer Pannenpause haben die Bandmitglieder (Marc Ros, Jesús Senra und Axel Pi) mir ihr Lied über die Costa Azul vorgesungen – und ich muss schon sagen: Dafür, wie cool die Jungs sich geben, war der Text ganz schön poetisch! Aber gut, man kennt das ja: harte Schale, weicher Kern …

Von Spanien aus bin ich dann weitergereist nach „Bella Napoli“, wo ich den 1955 geborenen Saxofonisten und „Cantautore“ Enzo Avitabile getroffen habe. Mit seinen zerzausten Haaren, seiner kuttenartigen Kleidung und dem Kreuz, das er als Ohrring trägt, hat er auf mich wie eine Mischung aus Mönch und Hippie gewirkt. Und ein bisschen ist er das wohl auch – jedenfalls, wenn man von der Botschaft, die von seiner Musik ausgeht, auf seinen Charakter schließen darf. „Love and peace“, das ist ganz klar die zentrale Message.

Das Entscheidende bei Enzo Avitabile, der als Jazz- und Soul-Musiker mit bedeutenden Black-Music-Vertretern wie James Brown und Richie Havens zusammengearbeitet hat, aber auch immer wieder folkloristische Elemente seiner neapolitanischen Heimat aufgreift, sind allerdings nicht die Texte. Im Vordergrund steht vielmehr die Musik selbst. Ich denke dabei vor allem an das Projekt, bei dem er Musiker aus verschiedenen Teilen der Welt in eine neapolitanische Barockkirche eingeladen hat, um dort mit ihnen in einer Art Jam Session zusammenzuwirken. Das von Jonathan Demme in dem Film Music Life (2012) dokumentierte Projekt ist in Teilen im Internet abrufbar.

Was mich an den einzelnen Darbietungen am meisten beeindruckt hat, ist die unmittelbare Erfahrung der völkerverbindenden Kraft der Musik, die sie ermöglichen. Die internationale Sprache der Musik bringt, so scheint mir, ein wenig von der Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit zurück, mit denen Kinder aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander zugehen und sich spielerisch miteinander verständigen. So fällt es zunächst auch gar nicht auf, dass Enzo Avitabile durchgehend in seinem neapolitanischen Dialekt singt, der wohl auch in Italien für Nicht-Neapolitaner nicht ohne weiteres verständlich ist.

Vielleicht, so habe ich mir beim Betrachten und Anhören der einzelnen Sessions gedacht, sollten Lothar de Maizière und die anderen deutschen Gefährder auch erst einmal mit den Flüchtlingen singen, die bei uns Hilfe suchen, anstatt sie immer gleich wegzusperren. Ich habe nämlich den Eindruck, dass man Menschen aus anderen Kulturen ganz anders wahrnimmt, wenn man sie über ihren Gesang kennenlernt. Anstatt sie als lästige Bettler zu sehen, die von den für sie verbotenen Früchten des Wohlstands naschen wollen, treten sie einem dann in der Würde ihrer je eigenen Kultur gegenüber, die sich in der Musik unmittelbar ausspricht.

Zum Abschluss meiner diesjährigen musikalischen Sommerreise habe ich mich nach Griechenland übersetzen lassen. Das Lied Ego den eimai [ime] poiitis [piitis] (‚Ich bin kein Dichter‘) des 1948 in Thessaloniki geborenen und leider schon 2011 verstorbenen Nikos Papazoglou, das ich dort entdeckt habe, ist musikalisch so ziemlich das Gegenteil der interkulturellen Songs von Enzo Avitabile. An die Stelle des die ganze Welt umarmenden World-Music-Enthusiasmus tritt hier eine resignative Melancholie. Ich denke allerdings, dass das ganz gut zum Ende einer Reise passt, zu der leichten Traurigkeit, die einen befällt, wenn all die schönen Abenteuer und Utopien eines anderen Lebens wieder im grauen Einerlei des Alltags versinken.

Hinzu kommt, dass ich eine Reise ans Mittelmeer für verlogen, ja fast schon für obszön halten würde, wenn es dabei nur ums Partymachen ginge. Mittelmeer und Adria stehen eben nicht nur für sorglosen Strandurlaub, azurblauen Himmel, ebenso schmackhafte wie bekömmliche Gerichte und Menschen, die nicht mit einem sprechen, als hätten sie einen ganzen Paragraphenwald verschluckt. Heute assoziiert man sie vielmehr auch mit dem Ertrinken tausender Menschen, die in Europa Schutz suchen, mit den Kriegen in den nordafrikanischen Anrainerstaaten sowie mit der ökonomischen Krise und der Perspektivlosigkeit unzähliger junger Menschen in den Ländern Südeuropas.

Gerade in Griechenland, dessen Bevölkerung nun schon seit Jahren für das Versagen einer korrupten Elite abgestraft wird, steht das sorglose Urlaubsglück der Touristen in krassem Gegensatz zu dem Kahlschlag im Sozialbereich und den immer neuen Gehalts- und Rentenkürzungen, unter denen weite Teile der Bevölkerung leiden. Dabei scheint die nicht nur sinnlose, sondern für eine Erholung der griechischen Wirtschaft sogar kontraproduktive Politik der Austeritätsdschihadisten um Wolfgang Schäuble längst zum Selbstzweck geworden zu sein.

Erklären lässt sich das wohl nur noch unter Zuhilfenahme tiefenpsychologischer Theorien. Wäre ich Sigmund Freud, würde ich sagen: Die fanatische Sparpolitik ist das Spiegelbild einer Charakterstruktur, bei der die Betreffenden auf der Stufe der analen Befriedigung stehen geblieben sind und Lust aus dem zwanghaften Zurückhalten bzw. Sich-Versagen jeder Form von spontaner Lebensfreude ziehen. Folglich richtet sich ihr Hass auf all jene, die ein unkomplizierteres Verhältnis zum „verschwenderischen“ Genießen des Lebens haben. Und tatsächlich haben die Ritter der Schwarzen Null in diesem Sinne ja auch ganze Arbeit geleistet, indem sie aus den lebensfrohen Griechen ein Volk von Selbstmordkandidaten gemacht haben.

Der Song von Nikos Papazoglou scheint mir hierzu nicht nur durch seine melancholische Grundstimmung zu passen. Auch das Gedicht von Lazaros Andreou, dessen Vertonung das Lied darstellt, lässt sich mit dem traurigen Alltag, den viele Menschen in Griechenland derzeit durchleben müssen, in Verbindung bringen. Schließlich beschwören die Verse die Situation eines Menschen, der sich überall ausgestoßen fühlt, der obdach- bzw. heimatlos ist, überall gegen Mauern rennt und sich wie Judas als Verfemter fühlt, als Paria, für den es nirgends auf der Welt einen Platz gibt.

Auf einer allgemeineren Ebene lässt sich das Gedicht sicher auch als Beschreibung der conditio humana deuten, als Bild für den aus dem Paradies vertriebenen Menschen, der sein „unbehaustes“ Dasein als Strafe erlebt. In Griechenland werden die Verse darüber hinaus vielleicht Assoziationen an die Zeit der Militärdiktatur wecken und an das „Verfemtsein“ der Opposition in jenen Jahren denken lassen. Aus heutiger Perspektive erinnert das Gedicht aber eben auch an den Paria-Status, der Griechenland von der EU, den großen Ratingagenturen und den internationalen Geldgeber-Institutionen zugewiesen worden ist. Und natürlich könnte man es auch auf die Situation der Flüchtlinge beziehen, für die das Leben ein einziges Gefängnis ist, die als Vertriebene, Ausgestoßene, Ausgegrenzte durch die Welt irren müssen und nirgends ein Zuhause finden.

8.Etappe: Spanien

Sidonie: Costa Azul aus: Costa Azul (2007)

Liedtext

Übersetzung:

Costa Azul (Côte d’Azur)

Deine Knochen sind
ein Felsen aus Kristall
in einem Meer
aus vollkommenem Fleisch.
Meine Augen schütten
flüssiges Gold in das Meer
und umkränzen dein Haupt
mit einer Krone aus Korallen.

Als der Wind umgeschlagen ist,
haben die Gezeiten mich mit sich fortgetragen,
und ich trieb dahin
in der blauen Umarmung des Meeres.
Ich dachte, dass deine [seine] Arme
[nur] das Salz meiner Nation wären.
[Sie trugen mich aber weiter bis in] das schöne Amerika
und nach Japan, wo ich kenterte.

An der Costa Azul –
ein Foto von uns im Gegenlicht,
ein Kuss für die Ewigkeit,
unsere Körper, die zu siamesischen Zwillingen verschmolzen sind.

Auch wenn mein Mund
aus einem zerbrochenen Glas
den Schatten des Herbstes getrunken hat
und den endgültigen Abschied,
werde ich doch alle Meere
in einen Krug schütten
und unseren Sommer
in meinem Wohnzimmer aufbewahren.

An der Costa Azul …

9. Etappe: Italien

Enzo Avitabile mit der Band I Bottari und dem mauretanischen Sänger Daby Touré: Mane e mane aus: Black Tarantella (2012); Ursprungsfassung von Enzo Avitabile und Mory Kanté (aus: O-Issa, 1999)

Live-Aufnahme aus dem Film Music Life (2012) von Jonathan Demme (mit eingeblendetem italienischen Text):

Liedtext

Freie Übertragung*:

Hand in Hand

Ein Stern wacht über die Welt.
Fallend verliert er sich darin,
und das Meer erhebt sich
als Sturm in der Nacht.
Das Wasser durchnässt die Kleider
und lässt die Kanonen rosten.
Schnee fällt in der Wüste,
Sand aus dem Vesuv.

Hand in Hand
schreiten wir durch die kalte Welt.
Der Wind kommt,
der Wind geht.
Hand in Hand
schreiten wir unter einem Zulu-Himmel.**
Der Wind weht für immer
oder niemals mehr.

Alle Welt weiß,
dass nur die Menschen sich die Hand reichen,
um sich zu versöhnen.
Alle Welt weiß,
dass nur die Menschen fähig sind,
sich zu versöhnen,
um gemeinsam auf der Straße des Friedens zu gehen.

Wer das Dunkel nicht kennt,
kann das Licht nicht verstehen.
Kein Mensch kennt den anderen,
jeder ist allein.

Ein Stern wacht über die Erde
und wandelt durch die Welt.
Silberblättrige Münzen***
verfangen sich in seinem Netz.
Das Wasser umspült die Schiffe,
es lässt die Ketten rosten
und die zugebundenen Koffer,****
die noch nach den Ängsten der Vergangenheit riechen.

Männer und Frauen, alle haben Hunger.
Der Krieg ist schuld,
er hat sie in die Armut getrieben.
Mein Volk ist krank und leidet,
weil es vertrieben worden ist.
Lasst uns innehalten und ihn beenden,
diesen zerstörerischen Krieg.

Hand in Hand …

Die Menschen wissen,
dass sie zusammenleben können,
Hand in Hand.

*   Kursiv gedruckte Passagen von Daby Touré gesungen.

**  Der Name des in Südafrika lebenden Bantu-Volks der Zulu leitet sich von „izulu“ (Himmel) ab. „Zulu-Himmel“ ist demnach eine Tautologie, die betont, dass alle Menschen unter dem gleichen Himmel leben und ihn nur jeweils anders bezeichnen.

***Das Silberblatt (ital. „erba d’argento“) gehört zu den Kreuzblütengewächsen. Wegen der durchsichtigen, runden Kapseln, in denen sich die Samen befinden, werden die Pflanzen in Italien auch als „Medaglioni del Papa“ (Papstmedaillons), „Moneta del Papa“ bzw. „Moneta Pontificia“ (Papstgeld/-münzen) bezeichnet. Aus dem gleichen Grund assoziiert man sie in Deutschland mit dem „Judaspfennig“ bzw. „-silberling“.

**** Das Original („le valige con lo spago“) ist hier doppeldeutig, da „spago“ sowohl „Bindfaden“ bedeuten kann als auch eine scherzhafte Bezeichnung für „Angst“ ist.

 

 10. Etappe Griechenland

Nikos Papazoglou: Ego den eimai [ime] poiitis [piitis] (Text: Lazaros Andreou) aus: Otan kidinevis paíkse tin puruda (1995)

Liedtext

Sinngemäße Übertragung:

Ich bin kein Dichter

Ich bin kein Dichter, ich bin ein Vers,
ein Vers im Vorübergehen,
auf eine Gefängnismauer geschrieben,
in eine Parkbank geritzt.

Die Verrückten singen mich und die Heimatlosen.
Ich bin der Vers der Verfluchten,
deren Seelen auf ferne Planeten verbannt worden sind.

Ich bin kein Dichter,
ich bin seine Klage.
Ich bin das letzte Abendmahl.
Judas, mein Bruder,
beugt sich weinend über mich.

 

Bild: Sonnenuntergang am Meer mit Bank. Quelle Fotolia

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