Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit in Russland und den USA – Teil 4
Was in Russland der orthodoxe Glaube ist, ist in den USA der Puritanismus. Beide haben sich in unterschiedlicher Weise auf die Alltagskultur der Menschen ausgewirkt. Das bleibt auch nicht ohne Folgen für den jeweiligen Umgang mit Fremden.
… und gottgewollte Ausgrenzung?
Die Westminster Confession: Gottes gnadenlose Gnade
Metaphysische Überhöhung von wirtschaftlichem Erfolg
Fremdenfeindlichkeit als Tugend
Gottgewollter Erfolg …
Was in Russland der orthodoxe Glaube ist, ist in den USA der Protestantismus – genauer: der Puritanismus. Dieser Spielart des Protestantismus hing ein Großteil der ersten Siedler in den USA an. Wenn es dort heute auch eine unüberschaubare Vielzahl religiöser Richtungen gibt und viele US-Amerikaner ein distanziertes Verhältnis zur Religion haben, so prägen zentrale Vorstellungen des Puritanismus doch bis heute das Selbstverständnis vieler Amerikaner.
An erster Stelle ist hier wohl das Konzept der Auserwähltheit zu nennen. Es kann sich zum einen auf die gegründete Siedlung bzw. das Land beziehen, das aus den Siedlungen erwächst. Hieraus hat sich der Gedanke der USA als „God’s own country“ entwickelt, analog zu der auf das jüdische Volk bezogenen Auserwähltheitsvorstellung im Alten Testament – was, neben der starken jüdischen Diaspora in den USA, auch ein wichtiger Erklärungsansatz für die weitreichende Unterstützung US-amerikanischer Regierungen gleich welcher Couleur für die Politik Israels ist.
Zum anderen kann sich der Auserwähltheitsgedanke aber auch auf ein einzelnes Individuum beziehen. Er mündet dann in die Prädestinationslehre, der zufolge der Werdegang jedes Einzelnen von Gott vorherbestimmt ist. Erfolg im Beruf oder beim Aufbau einer neuen Farm ist nach dieser Lesart stets eine Bestätigung dafür, dass die segnende Hand Gottes auf dem eigenen Tun ruht.
… und gottgewollte Ausgrenzung?
Wenn Gott aber nicht etwa die Tüchtigen bevorzugt, sondern von vornherein bestimmt, welche Tüchtigkeit von Erfolg gekrönt sein wird und welche nicht, so ist es auch nicht gottgefällig, den Gestrandeten mit barmherzigen Werken zur Seite zu stehen. Ganz im Gegenteil: Ein solches Tun erscheint unter einem solchen Blickwinkel fast schon ketzerisch, da man auf diese Weise Gott ja sozusagen in den Arm fällt und seinen Willen verfälscht.
Wenn auf diesem Boden Gastfreundschaft gedeihen soll, so handelt es sich dabei zumindest nicht um eine so unbedingte Gastfreundschaft wie in Russland. Denn der Umgang mit jenen, die nicht durch Gottes Gnade zu Reichtum und Ansehen gelangt sind, gefährdet in diesem Fall ja nicht nur die eigene gesellschaftliche Position. Vielmehr könnte hieraus sogar der Schluss abgeleitet werden, in Gottes Gunst doch nicht so hoch angesiedelt zu sein, wie man gehofft hatte.
Die Westminster Confession: Gottes gnadenlose Gnade
Die extremen Folgen der Prädestinationslehre für den sozialen Zusammenhalt sind schon in Max Webers Klassiker der Religionssoziologie, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), eindrücklich beschrieben worden.
In der bahnbrechenden Schrift setzt Weber sich ausführlich mit der Entwicklung des Prädestinationsgedankens bei Johannes Calvin auseinander. Besondere Betonung erfährt zudem die Rezeption und Institutionalisierung dieses Gedankens in den Glaubensbekenntnissen verschiedener presbyterianischer Religionsgemeinschaften. Zu diesem Zweck zitiert Weber auch aus der Westminster Confession of Faith („Glaubensbekenntnis von Westminster“) von 1646 (Erstdruck 1647), wo in 33 Artikeln die zentralen Glaubenssätze für die englische, schottische und irische Kirche festgelegt werden sollten. Darin wird lapidar festgestellt:
„Gott hat zur Offenbarung seiner Herrlichkeit durch seinen Beschluss einige Menschen (…) bestimmt (predestinated) zu ewigem Leben und andere verordnet (foreordained) zu ewigem Tode.“
(zit. nach Weber 1905: 89)
Ausdrücklich wird in dem Glaubensbekenntnis betont, dass Gott seine Gnade unabhängig von „Glauben oder guten Werken“ verteile. Vielmehr geschehe dies „aus reiner freier Gnade und Liebe“, und zwar „bevor der Grund der Welt gelegt wurde, nach seinem ewigen und unveränderlichen Vorsatz und dem geheimen Ratschluss und der Willkür seines Willens“.
Wen Gott „zur Verherrlichung seiner unumschränkten Macht über seine Geschöpfe zu übergehen“ beliebt, der hat somit keinerlei Chance, aus eigener Kraftanstrengung „seiner herrlichen Gnade“ teilhaftig zu werden. Ganz im Gegenteil: Den für die ewige Verdammnis Vorgesehenen entzieht Gott auch jedes Gefühl für „seine Gnade, durch welche ihr Verstand hätte erleuchtet und ihre Herzen ergriffen werden können“. Stattdessen bringt er sie gezielt „mit solchen Gegenständen in Beziehung, aus welchen ihr Verderbnis eine Gelegenheit zur Sünde macht, und übergibt sie außerdem ihren eigenen Lüsten, den Versuchungen der Welt und der Macht Satans“.
Das Bild Gottes ist hier das eines höheren Wesens, das für den Menschen „in dem unerforschlichen Rat seines Willens, wonach er Gnade erteilt oder vorenthält, wie es ihm gefällt“, vollends undurchschaubar ist. Durch den Sündenfall unfähig geworden, „sich zu bekehren oder sich auch nur dafür vorzubereiten“, können die Gläubigen nur duldsam hinnehmen, was Gott für sie beschlossen hat (alle Zitate nach ebd.). Sich über das eigene Schicksal zu beklagen, wäre damit aus dieser Perspektive, so der Kommentar Max Webers, in etwa so, „als wenn die Tiere sich beschweren würden, nicht als Menschen geboren zu sein“ (ebd.: 91).
Metaphysische Überhöhung von wirtschaftlichem Erfolg
Auf der Ebene des subjektiven Empfindens resultiert ein solches Bild Gottes und seines Wirkens laut Weber vor allem in dem Gefühl „einer unerhörten inneren Vereinsamung“ (ebd.). Denn für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, die es nicht zu Wohlstand und Ansehen bringen, bedeutet das ja: Sie sind nicht nur sozial marginalisiert. Ihr gesellschaftlicher Ausschluss ist vielmehr nur ein Zeichen für einen viel bedeutsameren Ausschluss: den Ausschluss aus Gottes Gnadenreich, also die ewige Verdammnis.
In der Praxis wirkt eine solche metaphysische Überhöhung von wirtschaftlichem Erfolg und Misserfolg, gesellschaftlichem Auf- und Abstieg natürlich in höchstem Maße disziplinierend. Jeder, der die entsprechenden Glaubenssätze teilt, wird sich bemühen, durch beruflichen Erfolg Bestätigung für seine Auserwähltheit zu erlangen. Umgekehrt gilt auch: Jedes übermäßige Sich-Einlassen auf irdische Lüste gleich welcher Art wird vermieden, weil schon die Neigung hierzu als Zeichen für eine Verdammung durch Gott angesehen werden kann.
Das Resultat ist jene protestantische Ethik, die Max Weber so eindringlich beschrieben hat: eine Ethik, bei der alles dem wirtschaftlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg untergeordnet ist und jede noch so kleine irdische Freude als unverzeihliche Disziplinlosigkeit gewertet wird. Denn durch jede Abweichung vom Pfad der Tugend und der Pflichterfüllung droht die Stigmatisierung als von Gott verworfenes, bis in alle Ewigkeit verlorenes Geschöpf.
Fremdenfeindlichkeit als Tugend
Darüber hinaus impliziert eine calvinistisch inspirierte Ethik auch ein fundamentales Misstrauen gegenüber anderen. Wer kann schon wissen, ob der, dem man sich heute anvertraut oder dem man gar seine Hilfe angedeihen lässt, nicht ein von Gott Verdammter ist?
Laut Weber führt dies zu einer „auffallend oft wiederkehrenden Warnung namentlich der englischen puritanischen Literatur vor jedem Vertrauen auf Menschenhilfe und Menschenfreundschaft“ (ebd.: 96). Gegenüber Fremden legen Menschen, die einem solchen Glauben anhängen, dann natürlich erst recht ein besonderes Misstrauen an den Tag.
Dies wiegt umso schwerer, als man die speziell in den USA, aber auch in anderen Teilen des amerikanischen Kontinents immer mehr erstarkenden evangelikalen Kirchen in mancherlei Hinsicht als eine Art popkulturelle Variante des Puritanismus ansehen könnte. Wenn hier Barmherzigkeit gepredigt wird, so geht es dabei nur um die Barmherzigkeit gegenüber den Predigern, in deren Klingelbeuteln möglichst viel Geld versenkt werden soll. Im Gegenzug verheißen diese Kirchen eben das, was auch im Puritanismus das wichtigste Kennzeichen göttlicher Gnade war: Aufstieg, Erfolg und Reichtum.
Evangelikale Kirchen sind damit gerade für sozial Unterprivilegierte besonders attraktiv. Diese müssten in den USA eigentlich natürlicherweise Anhänger der Demokraten sein, da die Republikaner nicht erst seit Donald Trump einen sozial exklusiven Libertarismus verfolgen. Evangelikale Kirchen aber betreiben massiv Werbung für Donald Trump, weil dieser dem moralischen Rigorismus der Prediger – von dem er in seinem Privatleben recht weit entfernt ist – aus machtstrategischen Überlegungen seinen Segen erteilt. Dabei sind sie äußerst erfolgreich: Zumindest die weißen Evangelikalen haben Trump bei den Präsidentschaftswahlen 2016 zu 81 Prozent ihre Stimme gegeben.
So werden manche an der Wahlurne zu Opfern ihrer eigenen religiösen Ideologie, die sie gegen ihre eigentlichen sozialen Interessen abstimmen lässt. Gleichzeitig führt ein metaphysisch überhöhter Egozentrismus hier zur Unterstützung eines offen fremdenfeindlich agierenden politischen Führers.
Lesetipp
Max Webers Schriften zur Religionssoziologie sind im Netz bei zeno.org abrufbar. Seine Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ist 1904/05 zunächst in zwei Teilen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen. Die vollständige Fassung erschien dann in überarbeiteter Form in: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 17 – 206. Tübingen 1920: Mohr Siebeck. Die oben angeführten Zitate finden sich darin in Teil II: Die Berufsethik des asketischen Protestantismus, Kap. 1: Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese, S. 89 ff.
Bild: Grant Wood: American Gothic (1930); Quelle: Wikimedia
Am nächsten Wochenende geht es hier um die Frage, wie russische Gastfreundschaft und Stalinismus zusammenpassen.