Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit in Russland und den USA
Während die US-amerikanische Gegenkultur in einem emphatischen Freiheitsbegriff wurzelt, steht im Zentrum der russischen Gegenkultur ein emphatischer Gemeinschaftsbegriff. Dies lässt sich zum Teil auch mit religiösen Traditionen erklären.
Das Gastmahl als Feier der Gemeinschaft
Gemeinschaftsstiftender Gesang
Podkmoskwnyje Wjetschera: ein Klassiker des wodkaseligen Chorgesangs
Religiöse Wurzeln
Auch in der US-amerikanischen Provinz werden Fremde vielerorts herzlich willkommen geheißen und üppig bewirtet. Legendär ist jedoch nur die russische Gastfreundschaft. Wie ist das zu erklären?
Am naheliegendsten ist es hier wohl, auf die Religion zu verweisen. Die russisch-orthodoxe Glaubensgemeinschaft misst, noch stärker als die römisch-katholische, der Barmherzigkeit einen zentralen Stellenwert bei. Menschen in Not zu helfen, sei es in der Form einer Spende für Arme, in der Form seelischen Beistands oder schlicht als grundsätzliche Offenheit für das Elend der Welt, ist ein integraler Bestandteil des Glaubens.
Damit spiegelt sich hier, religiös ausgedrückt, in jedem Fremden das Gesicht Gottes. Offen für andere, ihre Wünsche und Probleme zu sein, ist gewissermaßen ein Aspekt der Offenheit für das Göttliche. Jedes Gastmahl erhält vor diesem Hintergrund Züge der Agape, im Sinne einer von Gott gestifteten Gemeinschaft, in der das Göttliche unmittelbar erfahren werden kann.
Hieraus ergibt sich zwangsläufig ein emphatisches Verständnis von Gastfreundschaft. Natürlich sind deren religiöse Wurzeln im Alltag eher unbewusst wirksam und haben sich zudem im Laufe der Zeit abgeschliffen. Dennoch bleibt als Ergebnis eine Offenheit für andere und eine Feier der Gemeinschaft, die weit über das hinausgehen, was man für gewöhnlich unter einer simplen „Freundlichkeit“ gegenüber Gästen versteht.
Das Gastmahl als Feier der Gemeinschaft
Die zentralen Aspekte russischer Gastfreundschaft und Gemeinschaftspflege sind das Gastmahl, die Trinkzeremonien und das gemeinsame Singen. Im Mittelpunkt des Gastmahls steht der „polnyj stol“, die prall mit Speisen gedeckte Tafel, an der alle sich nach Herzenslust bedienen können. Das Gemeinschaftsgefühl kann, muss aber nicht dadurch verstärkt werden, dass alle etwas zu der Tafel beitragen. Entscheidend ist, dass die Gäste sich frei fühlen, das und so viel zu essen, wie sie möchten. Es geht nicht darum, andere durch den Reichtum erlesener Speisen zu beeindrucken. Die Tafeln sind vor allem deshalb so reich gedeckt, damit jeder etwas nach seinem Gusto findet.
Was in unübertrefflicher Untertreibung als „zakuski“ (Vorspeisen) bezeichnet wird, ist deshalb de facto der eigentliche Kern eines russischen Gastmahls. Die Ungezwungenheit des Essens, das jeder sich so einteilen kann, wie es für ihn angenehm ist, entspricht dabei der Ungezwungenheit des Umgangs miteinander. Die im Vergleich zu westeuropäischen Mehrgängemenüs weit weniger strenge Etikette erleichtert es den Gästen, sich füreinander zu öffnen.
Hauptgang und Nachspeise sind bei diesen Gelegenheiten eher Zugaben, die vor allem der Untergliederung des Abends dienen. Für den Magen sind sie eine Herausforderung, die nur mit einem ganz bestimmten „Wässerchen“ (so die wörtliche Übersetzung von „Wodka“) zu bewältigen ist. Auch dieses wird allerdings nicht einfach so heruntergekippt. Die Trinksprüche, die vor jeder Rachenspülung ausgebracht werden, dienen vielmehr ebenfalls der Gemeinschaftspflege. Sie feiern in wohlgesetzten, zuweilen formelhaften, oft aber fast schon lyrischen Worten den besonderen Moment, den Anlass und das Resultat dieser speziellen Zusammenkunft.
Gemeinschaftsstiftender Gesang
Höhepunkt der Gemeinschaftsfeier ist das gemeinsame Singen. „Gemeinsam“ heißt: Es hat nichts mit Karaoke zu tun. Es geht hier gerade nicht darum, dass Einzelne sich in den Vordergrund spielen und sich im Sangeswettstreit mit anderen messen. Der Hauptzweck des Gesangs ist vielmehr das konkrete „Einstimmen“ in die Gemeinschaft.
Unterstützt wird diese Form des „Zusammenstimmens“ durch die Art der gesungenen Lieder. Egal ob es sich dabei um traditionelle Volkslieder handelt oder um Klassiker der russischen Gitarrenlyrik von Wladimir Wyssozkij oder Bulat Okudschawa – mit den Liedern werden in allen bestimmte Erinnerungen geweckt, die man im Gesang miteinander teilen kann, ohne darüber reden zu müssen. Auch dies stärkt das Gemeinschaftsgefühl.
Podkmoskwnyje Wjetschera: ein Klassiker des wodkaseligen Chorgesangs
Viele der bei russischen Gastmählern gesungenen Lieder haben einen nostalgisch-sentimentalen Charakter. Besonders deutlich wird dies bei einem Klassiker des wodkaseligen Chorgesangs, dem Lied Podkmoskwnyje Wjetschera („Abende im Moskauer Umland“).
Der Reichtum an persönlichen Erinnerungen, die viele mit dem Lied verbinden, hängt damit zusammen, dass sich im Moskauer Umland die großen Datschasiedlungen befinden. Deren Gärten dienten (und dienen teilweise noch immer) zwar auch der Versorgung mit frischem Obst und Gemüse und der Frischluftzufuhr für abgasgeschädigte Städter. Vor allem aber war und ist die Datscha von jeher ein Ort der Freiheit, an dem staatliche Kontrolle und gesellschaftliche Normen von einem abfallen und alle sich jenseits ihrer sozialen Rollen, auf einer rein menschlichen Ebene, begegnen. Das Lied drückt damit in exemplarischer Weise das aus, was russische Gastmähler und Gemeinschaftsfeiern auszeichnet.
Interessanterweise handelt es sich bei dem Lied ursprünglich um eine Auftragsarbeit für das sowjetische Kulturministerium, von dem das 1955 von Wassilij Solowjow-Sedoj (1907 – 1979) komponierte Lied 1956 als Begleitmusik für eine Dokumentation über die Spartakiade genutzt wurde. Den Text dazu lieferte der Dichter Michail Matussowskij (1915 – 1990). Die Leningradskije Wjetschera (Leningrader Abende), denen das Lied eigentlich gewidmet war, wurden dabei staatskonform in Podmoskownyje Wjetschera umgetauft, der Idee nach also in eine Hauptstadthymne umgewandelt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Popularität des Liedes in der Sowjetunion gerade auf dem Gegenteil dessen beruhte, was das Kulturministerium damit bezweckte. Es wurde von den Menschen eben nicht als staatstragende Hymne rezipiert, sondern als Dokument eines untergründig-privaten Widerstands gegen staatliche Allmachtsansprüche. Das Lied ist damit auch ein Beleg für die Freiheit des Geistes, der sich sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene der Rezeption nie ganz von den Machthabenden kontrollieren und lenken lässt.
Heute allerdings beruht der nostalgische Charakter des Liedes für manche auch auf einer sentimentalen Verklärung der Zeit der Sowjetunion. Dies liegt nicht unbedingt an dem altbekannten Klischee, dass „früher alles besser war“. Viele verbinden mit dem Lied auch schlicht Erinnerungen an ihre Jugend und an die Sommerabende, als man auf der Datscha enger zusammenrückte und seine Freiheit ungestört ausleben konnte.
Hörtipp
Eine besonders ausdrucksstarke Version des Liedes stammt von dem in der Sowjetunion äußerst populären Opernsänger Georg Ots (1920 – 1975). Die aus dem Jahr 1965 datierende Fassung des Künstlers mit den estnischen Wurzeln hat gegenüber späteren Varianten den Vorzug, sich ganz auf die Melodie zu konzentrieren und auf jedes schmalziöse Tremolo zu verzichten
Georg Ots: Podmoskownyje Wjetschera (1965), komponiert 1955 von Wassilij (Wassili) Solowjow-Sedoj (Sedoi), Text von Michail Matussowskij (Matussowsky)
ÜBERSETZUNG
Abende im Moskauer Umland*
Nicht das leiseste Geraschel ist im Garten zu hören,
bis zum nächsten Morgen steht das Leben still.
//Ach, wenn ihr wüsstet, wie teuer sie mir sind,
die Abende im Moskauer Umland!//
Ganz in silbernes Mondlicht getaucht,
bewegt sich das Flüsschen
und bewegt sich doch nicht.
//Du hörst das Lied und hörst es doch nicht
an diesen verschwiegenen Abenden.//
Was siehst du, meine Teure,
verstohlen von der Seite mich an
und senkst den Kopf?
//Es ist so schwer, auszusprechen
und gleichzeitig zu verschweigen,
was mein Herz bewegt!//
Die Morgendämmerung zieht schon herauf,
also, Liebste, sei so gut
//und vergiss auch du sie nicht,
diese Sommerabende im Moskauer Umland!//
*Die häufiger anzutreffende Übersetzung „Moskauer Abende/Nächte“ ist zum einen ungenau (dann müsste es im Original nicht „Podmoskownije“, sondern „Moskowskije Wjetschera“ heißen). Zum anderen passt sie aber auch nicht zu dem Text, der eindeutig auf ein ländlich-naturnahes und nicht auf ein städtisches Umfeld anspielt.
Bilder: Boris Kustodiev: Auf der Terasse; Die Frau des Kaufmanns. Pixabay: Svetlbil: Mädchen, Datscha
Das nächste Mal richten wir unseren Blick wieder in die USA und fragen, was der Puritanismus mit dem Umgang mit Fremden zu tun hat.
Genau so habe ich es erlebt. Seit mein Mann und ich in Russland waren, trinken wir immer auf etwas und wir holen auch ein bisschen aus. Ich finde das sehr schön. 🙂 Trotzdem ist unser Alkoholgenuss auf der sehr moderaten Seite. Liebe Grüsse von Regula
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Handelt es sich wirklich um „Gegenkultur“? Sind Fremdenfeindlichkeit und Gastfreundschaft nicht Konstituenten eines und desselben kulturellen Systems? Die Gastfreundschaft wählt aus und die Fremdenfeindlichkeit ebenfalls.
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