Nachruf auf meinen Schwiegervater,den Uhrmachermeister Engelbert Hoffmann
In seinem 86. Lebensjahr ist mein Schwiegervater unerwartet einem Krebsleiden erlegen. Seine bescheidene Werkstatt steht in bemerkenswertem Kontrast zu dem bundesweiten Ansehen, das er als Spezialist für antike Uhren erlangt hat.
Bilder eines Lebens
Wenn ein uns nahe stehender Mensch diese Welt verlässt, tauchen oft unwillkürlich ein paar Bilder vor unserem inneren Auge auf. Bilder, in denen sich gewissermaßen die Essenz jenes Gesichts kristallisiert, das dieser Mensch uns zugewandt hat.
Wenn ich an Engelbert denke, sehe ich vor mir:
- Engelbert, wie er frühmorgens am Tisch sitzt und Zeitung liest, nachdem er zuvor schon eine Runde durch den Wald gedreht, die Vögel gefüttert und einen ersten Blick in seine Werkstatt geworfen hat;
- Engelbert, wie er am Samstagvormittag, nach dem Wochenendeinkauf, die Gerätschaften für die Gartenarbeit zusammenstellt;
- Engelbert, wie er, die Lupe vor ein Auge geklemmt, in die Welt jener kleinen und kleinsten Dinge eintaucht, die uns Normalsterblichen verborgen bleibt;
- und natürlich, mir als seinem Wanderfreund besonders nahe: Engelbert, wie er in einer Wanderkarte nach dem besten Weg sucht. Wie oft sind wir im Kreis gegangen! Wie oft haben wir aber auch gerade dadurch, dass wir in die Irre gegangen sind, Neuland entdeckt!
Der Uhrenkünstler
Vieles von dem, was Engelbert tagtäglich tat, machte auf mich einen fast schon rituellen Eindruck. Stärker als bei anderen Menschen folgte sein Alltag bestimmten Ritualen, von denen er nur ungern Abstand nahm.
Der Grund dafür war, denke ich, dass die Arbeit als Uhrmacher einen besonderen Sinn für Ordnung und Präzision erfordert. Wem dies nicht ins Blut übergeht, der kann diese Arbeit, die schon die kleinste Ungenauigkeit auf der Stelle bestraft, nicht ausüben.
Allerdings ist Engelbert dabei niemals der Gefahr erlegen, pedantisch zu werden. Ganz im Gegenteil. Die Freiheiten, die er sich in seiner handwerklichen Arbeit versagen musste, hat er sich anderswo durchaus genommen.
So hat er es zeitlebens abgelehnt, die Uhren nach der Reihenfolge ihres Eingangs zu bearbeiten. Gerade bei antiken Uhren ist er eher wie ein Künstler vorgegangen, der ein Werkstück erst dann hervorholt, wenn Inspiration und Materie sich im Einklang befinden.
Dass er nicht gerade ein Meister der Buchführung war, wusste Engelbert selbst am besten. Ich erinnere mich noch daran, wie wir uns einmal gemeinsam einen französischen Film angeschaut haben. Darin kommt ein Mann nach einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt zu einem Schuhmacher, um seine vor der Haft in Reparatur gegebenen Schuhe abzuholen. Antwort des Schuhmachers: „Die sind aber erst nächste Woche fertig!“
Niemand hat darüber so herzlich gelacht wie Engelbert.
Ein schlampiges Genie
Auch seine Kunden haben sich nie über die genialische Schlampigkeit beklagt, die der Uhrmachermeisters in geschäftlichen Dingen an den Tag gelegt hat. Nicht nur, weil sie davon durchaus auch profitiert haben. Engelberts Preise standen in umgekehrtem Verhältnis zu der Meisterschaft, die er gerade bei der Reparatur antiker Uhren im Laufe seines Lebens erlangt hat. Nein, wer dem Meister eine solche Uhr anvertraute, der spürte wohl insgeheim selbst, dass der Geistesblitz, dessen es für ihre Reparatur bedurfte, nicht durch eine rigide Buchführung zu erzwingen war.
So habe ich es in all den Jahren nie erlebt, dass jemand in der kleinen Werkstatt des großen Meisters laut geworden wäre. Dafür gab es allerdings auch noch einen anderen, wohl noch gewichtigeren Grund. Von seiner Werkstatt ging stets eine Atmosphäre des Kontemplativen, Andächtigen aus. Wäre es nicht zu paradox, würde ich sagen: Während er nach einer präzisen Messung der Zeit strebte, war er der Zeit entrückt.
Diese Atmosphäre übertrug sich auch auf diejenigen, die ihn in seinem Allerheiligsten aufsuchten. Etwas Weihevolles ging von dieser Arbeit an der Vermessung der Zeit, in deren Fluss wir alle treiben, aus.
Weltrevolution in der Werkstatt
Hinzu kommt allerdings noch etwas anderes – die Tatsache nämlich, dass Engelbert allen, die zu ihm kamen, das Gefühl vermittelte, angenommen und verstanden zu sein.
Engelbert war gewiss kein Revoluzzer. Als Uhrmacher waren ihm die Unwägbarkeiten der Zeit viel zu bewusst, als dass er an eine eruptive Veränderung der Geschichte hätte glauben können. Wenn aber Che Guevara zu ihm in die Werkstatt gekommen wäre, hätte er auch ihn seine Geschichte erzählen lassen, während er selbst sich weiter in die Geheimnisse einer alten Uhr vertieft hätte.
Zwischendurch hätte er den Revolutionsführer vielleicht gefragt: „Und Sie waren also auf Kuba?“ Der feurige Revoluzzer hätte dann wohl weiter von seinen Abenteuern erzählt. Und am Ende wäre er sicher vollends davon überzeugt gewesen, einen neuen compañero für die Weltrevolution gewonnen zu haben.
In der Tat waren die Umgangsformen in der Werkstatt in gewissem Sinne ja auch eine vorweggenommene Weltrevolution: Alle durften dort die sein, die sie waren. Alle durften sich mit ihren Macken und Marotten, die außerhalb dieser Oase der Toleranz auf Naserümpfen gestoßen wären, akzeptiert fühlen. Allen ist er von Du zu Du begegnet. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich etwas auf sein außergewöhnliches Fachwissen und Können einzubilden.
Manche suchten in Engelbert daher auch weniger den Uhrmachermeister als den Therapeuten. Die Ruhe, die er ausstrahlte, und seine Bereitschaft, alle ihr Inneres ausschütten zu lassen, während er sich in die Abgründe der Zeit vertiefte, wirkten auf sie wie ein Antidepressivum.
Die Uhr geht vor!
Wenn ein Mensch in seinem 86. Lebensjahr von uns geht, würde man wohl normalerweise nicht sagen, dass er viel zu früh aus dem Leben gerissen worden ist. Auf Engelbert trifft dies jedoch, wie ich finde, dennoch zu.
Für viele war er ein Fels in der Brandung der Zeit. Ein Fels aber trotzt auch den schwersten Stürmen. Ein Fels verschwindet nicht so einfach. Eben deshalb wirkt sein plötzliches Verschwinden ein wenig wie eine unpassende Verkleidung.
Engelbert war aber auch einer der letzten Spezialisten für alte Uhren. Aus ganz Deutschland sind die Sammler zu ihm gepilgert, damit er ihren Liebhaber- oder Anlageobjekten mit seinen filigranen Fingern neues Leben einhaucht. Dieses Wissen und Können ist uns nun in der Tat viel zu früh verloren gegangen.
Und schließlich sind Uhrmacher, diese Schnitzer am Palast der Zeit, für gewöhnlich mit einem Methusalem-Alter gesegnet. Nicht selten schließen sie ihre Augen erst dann für immer, wenn sie im biblischen Alter das letzte Zahnrad erschaffen haben.
Eine unzerstörbare Uhr
Nun, lieber Engelbert, ist aber leider doch etwas eingetreten, das Du gar nicht mochtest: Es ist zu spät. Jetzt bleibt uns nur noch, Dir zu wünschen, dass Deine letzte Wanderung mit jener Präzision abläuft, die Du zu Lebzeiten immer angestrebt hast.
Vielleicht sitzt Du ja längst dort oben in einer Wolkenwerkstatt und reparierst die große Schöpfungsuhr, die in Deinem Fall ganz offensichtlich vorgegangen ist.
Uns anderen bleibt derweil nichts anderes übrig, als uns mit unserer inneren Uhr zu trösten, die unerreichbar bleibt für die Zeiger der äußeren Zeit. Dieser inneren Uhr, durch die Du für immer ein Teil unseres Lebens bleiben wirst!
Ein reiches Leben, eine schöne Würdigung. Mein herzliches Beileid.
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Hallo Herr Hoffmann, hallo Ilka,
Ich durfte vor 41 Jahren bei Engelbert meine Lehre als Uhrmacher beginnen. Er war für mich immer ein Vorbild. Nach meiner Meisterprüfgung 1988, bin ich als erstes zu ihm gefahren, ihm zu sagen, dass ich bestanden hatte. Leider konnte ich mich nicht mehr von ihm verabschieden. Tröstlich, dass er bis zuletzt an seinem Werktisch arbeiten konnte. So wie auf dem Foto, möchte ich ihn in Erinnerung behalten.
Danke für den Nachruf
Vor allem Danke Engelbert
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Danke Thomas und alles Gute!
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Lieber Dieter, .
herzlichen Dank für diesen so wunderbaren und trefflichen Nachruf.
Besser kann man den, von uns allen wegen seiner Einzigartigkeit geliebten
Engelbert nicht beschreiben. Er hat nun die Wahl zwischen dem Himmel für Uhrmacher oder Wanderer.
Im Geiste sehe ich ihn schon fröhlich durch die himmlichen Wälder streifen.
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In der Tat ein wunderbarer Nachruf.
Die Uhrmacher z.B. in der Schweiz tendierten zum Anarchismus. Man erklärt sich das so, dass in kleinen unabhängigen Betrieben oder Einmannbetrieben man eher zum Freiheitsdrang neigte. In der frühen Werkzeugindustrie im Bergischen Land war es das Gleiche.
Alles Gute
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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