Zum Scheitern der westlichen Afghanistan-Politik
Der Westen ist in Afghanistan an einer doppelten Ignoranz gescheitert – an seiner Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte und an seiner Ignoranz gegenüber der sozialen und kulturellen Realität des fremden Landes.
Cricketspiele, die in einem Blutbad enden
Die Geschichte wiederholt sich doch!
Die Freiheit der freien Welt und die Freiheit der Freiheitskämpfer
Halbherziger Einsatz für die Rechte der Frauen
Missachtung des sozialen Gefälles im Land
Cricketspiele, die in einem Blutbad enden

Kabul, 1841. Aus Angst, Afghanistan könnte in den Machtbereich des russischen Zarenreichs übergehen, hat Großbritannien das Land von seinen Truppen besetzen lassen.
Nun kultivieren die Armeeangehörigen in Kabul zusammen mit ihren Familien britische Lebensart. Man spielt Cricket, organisiert Pferderennen, trifft sich abends zu Konzerten. Vor lauter Britishness fällt schließlich fast gar nicht mehr auf, dass man sich in einem fremden Land befindet (1).
Dies dringt erst wieder in die Köpfe der Fremden ein, als die Einheimischen die Reihen schließen und der Widerstand gegen die Besatzung zunimmt. Selbst da herrscht allerdings noch eine erstaunliche Sorglosigkeit vor. Nach dem Motto: Dieses Bergvolk wird uns schon nichts anhaben können!
Im Januar 1842 ist Kabul allerdings nicht mehr zu halten. Gegen die lauwarme Zusicherung von freiem Geleit begeben sich 4.500 britische und indische Soldaten zusammen mit den verbliebenen 12.000 Familienangehörigen auf den gebirgigen Weg nach Dschalalabad. Am Khurd-Kabul-Pass und am Chaiber-Pass kommt es zu Kampfhandlungen, bei denen nicht nur fast alle Soldaten, sondern auch nahezu sämtliche Zivilpersonen von afghanischen Widerstandskämpfern getötet werden (2).
Als Reaktion auf dieses Massaker beschließt die britische Regierung eine Strafaktion. Dabei wird Kabul erneut besetzt, muss jedoch bereits nach vier Wochen wieder aufgegeben werden.
Danach dauert es fast 40 Jahre, bis die Briten sich in das nächste Afghanistan-Abenteuer stürzen. Dieses Mal bleiben sie für die folgenden 40 Jahre im Land, müssen 1919 im Vertrag von Rawalpindi jedoch endgültig die Souveränität Afghanistans anerkennen.
Zuvor allerdings war es Großbritannien gelungen, die Stammlande der Paschtunen – als der vorherrschenden Ethnie in Afghanistan – mit der so genannten Durand-Linie zu durchschneiden (3). Weite Teile des südöstlichen Afghanistans wurden so dem heutigen Pakistan einverleibt, das damals Teil des britischen Kolonialreichs war.
Die Geschichte wiederholt sich doch!

Das kommt euch alles irgendwie bekannt vor? Mir auch!
Die Strafaktion der Briten erinnert an den Einmarsch der USA in Afghanistan, der wie 1842 auch die Reaktion auf ein Massaker an der Zivilbevölkerung war.
Die Kultivierung britischer Lebensart in Kabul, das Versinken in einem Alltag, der mit der Lebenswirklichkeit vor Ort nichts zu tun hat, findet eine Parallele in den Gated Communities, hinter deren Toren sich heute Botschaftsangehörige und auch viele Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen vom Leben der örtlichen Bevölkerung abschotten. Bis zur Rückeroberung Kabuls durch die Taliban war das auch dort nicht anders.
Und schließlich erinnert auch das abrupte Ende der britischen Strafaktion an das vorschnelle Triumphgeheul George W. Bushs nach dem Angriff auf Afghanistan. „Mission accomplished“ – selten hat ein Jubelruf hohler geklungen.
So lässt sich wohl feststellen: Das Militär hätte wissen können, dass Afghanistan ein ganz spezielles Pflaster ist; dass hier auch eine technisch und logistisch überlegene Armee ihr Waterloo erleben kann, weil die modernsten Waffen nichts helfen, wenn man mit den Tücken der Bergwelt nicht vertraut ist; dass es demzufolge auch nichts bringt, verbündeten Afghanen die eigenen Waffen und Kampftaktiken zu erklären, weil diese für den Guerilla-Kampf in den Bergen unter Umständen gar nicht geeignet sind.
Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher hätte Tausenden Soldaten einen sinnlosen Tod ersparen können.
Die Freiheit der freien Welt und die Freiheit der Freiheitskämpfer

Kabul, 25. Dezember 1979. An diesem Tag passiert genau das, was die Briten 140 Jahre zuvor hatten verhindern wollen: Die russische bzw. sowjetische Armee marschiert in Afghanistan ein.
Die Reaktion ist kaum anders, als es ein Jahrhundert früher der Fall gewesen wäre. Unter dem Kommunismus ist alles Russische noch fremder, noch furchterregender geworden. So wird gegen das „Reich des Bösen“ eine Armee von Guerillakriegern hochgezüchtet.
In diesen Mudschaheddin sah man damals allerdings noch nicht das, was sie ihrem Namen nach waren: Kämpfer für den Heiligen Krieg, mit dem Ziel der Sicherstellung eines Lebens, das nach islamischer Vorstellung gottgefällig ist. Vielmehr galten sie im Westen schlicht als „Freiheitskämpfer“. Dass für Mudschaheddin Freiheit etwas ganz anderes bedeuten könnte als für einen Regierungsbeamten in Washington, darüber machte man sich ganz einfach keine Gedanken. Schließlich verdankten diese Kämpfer ja Geld und Waffen ihren westlichen Wohltätern, also mussten sie auch irgendwie dieselben Freiheitsideale teilen.
Dies führte 1989, als die Rote Armee wieder aus Afghanistan abzog, gleich in doppelter Hinsicht zu einem bösen Erwachen. Zum einen wurden nun die Unterschiede zwischen westlich-säkularem und islamischem Freiheitsverständnis offenkundig. Zum anderen zeigte sich nun aber auch, dass es innerhalb der Mudschaheddin höchst unterschiedliche Vorstellungen vom gottgefälligen Leben gab.
Während es in Afghanistan zu Diadochenkämpfen kam, bei denen mehrere Warlords das Land unter sich aufteilten und sich dabei gegenseitig schwächten, entstand im Grenzgebiet zu Pakistan, an den dortigen Koranschulen (Madrassen), eine neue Kampftruppe: die Taliban.
Diese Heiligen Krieger waren weitaus stärker ideologisiert als andere Mudschaheddin. Dass ihre religiöse und militärische Ausbildung kaum kontrolliert, geschweige denn eingedämmt werden konnte, verdankten sie nicht zuletzt jenen, die sie am meisten hassten: den dekadenten Westlern. Denn die von den Briten in der Durand-Linie festgelegte Grenzziehung hatte durch ihre Willkür eine allgemein anerkannte Grenzlinie verhindert. Dadurch ist das Grenzgebiet zu Pakistan bis heute eine ideale Region zum Untertauchen und zur geheimen Vorbereitung von Kriegshandlungen.
Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan im Jahr 1996 verdankte sich demnach einer doppelten Blindheit des Westens, der seinen eigenen Freiheitsbegriff unreflektiert einer fremden Kultur überstülpte und die Eigendynamik unterschätzte, die ein Heiliger Krieg entfalten konnte, nachdem er einmal ausgerufen war. Am Ende hat sich dieser Krieg gegen diejenigen gerichtet, die ihn im Kampf gegen das „Reich des Bösen“ unterstützt hatten.
Halbherziger Einsatz für die Rechte der Frauen

Die entscheidende Legitimation für die dauerhafte Präsenz der fremden Truppen in Afghanistan war von Anfang an, dass den Menschen dort auf diese Weise wieder zu den Rechten verholfen werden sollte, die ihnen durch das Terrorregime der Taliban genommen worden waren. Besonderes Augenmerk galt dabei den afghanischen Frauen.
Dabei verschloss man allerdings geflissentlich die Augen davor, dass sich auch in der afghanischen Gesetzgebung der Post-Taliban-Ära Sätze fanden wie: „Die Frau ist verpflichtet, den sexuellen Bedürfnissen ihres Mannes jederzeit nachzukommen.“ (4)
Dieselbe Ignoranz, die derartigen frauenfeindlichen Gesetzen gegenüber an den Tag gelegt wurde, zeigte sich auch im Umgang mit dem Kern dessen, was weibliche Emanzipation ermöglichen sollte: der Bildung. So kritisierte etwa die afghanische Frauenrechtsorganisation RAWA offen die Schaufensterpolitik des Westens auf diesem Gebiet:
„In den Provinzen gibt es praktisch keine Schulen, und wo es sie gibt, da fehlen die Lehrer. Wenn es Lehrer gibt, dann fehlen die Toiletten. Und die Mädchen gehen nicht zur Schule, weil sie fürchten müssen, auf dem Weg dorthin vergewaltigt oder entführt zu werden. Wenn es keine Sicherheit gibt, wenn man hungrig ist, wenn einem Medikamente fehlen: Wie soll man dann Bildung genießen?“ (5)
Die hier geäußerte Kritik an der Politik des Westens in Afghanistan betrifft nicht nur die Frauen. Sie liefert vielmehr auch den Schlüssel zum Verständnis des letztendlichen Scheiterns der westlichen Afghanistan-Mission.
Im Vordergrund dieser Mission standen eben stets die strategischen Interessen der westlichen Welt. Um diese zu sichern, war man durchaus auch bereit, Bündnisse mit Männern einzugehen, deren Weltanschauung sich nur in Nuancen von denen der Taliban unterschied. Die Emanzipation war diesen Männern nur insofern wichtig, als sich dadurch leichter an die finanziellen Fleischtöpfe des Westens herankommen ließ.
Missachtung des sozialen Gefälles im Land

Sich mit solchen Politikern zu verbünden, war für die Konsolidierung der Situation in Afghanistan gleich doppelt kontraproduktiv. Zum einen zerfiel das Land so wieder in die Interessensphären der alten Warlords. Diese machtpolitische Zersplitterung erleichterte es den Taliban, die Herrschaft im Land Stück für Stück zurückzuerobern.
Zum anderen verstanden die entsprechenden Akteure Politik aber auch in einem sehr engen Sinn als Interessenpolitik. Oft ging es ihnen dabei noch nicht einmal um die Förderung ihrer Heimatregion, sondern ganz einfach um die Umlenkung der Hilfsgelder auf die Konten ihres Clans und der sie unterstützenden Familien.
So wuchs das soziale Gefälle im Land, anstatt durch eine aktive Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik verringert zu werden. Dies ließ den Verdruss der Menschen über die korrupte Elite an der Spitze des Staates immer weiter wachsen. Parallel dazu nahm die Angst vor einer möglichen Rückkehr der Taliban an die Macht immer weiter ab. Was hatte man schon zu verlieren? (6)
Genau diese Problematik hat der Westen bis zuletzt nicht verstanden. Die Menschen in Afghanistan waren gut genug, um den ungebetenen Gästen aus dem Westen Sicherheit und ein schönes Leben zu ermöglichen. Ihnen selbst aber wollte man ein solches Leben nur bedingt zugestehen.
So kam es zu einem unwürdigen Geschacher, als es darum ging, welche Ortskräfte ein Recht auf Evakuierung erhalten sollten. Und so erklärt sich auch Joe Bidens zynischer Satz, amerikanische Soldaten „sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht zu kämpfen bereit sind“ (7).
Der Gedanke, dass der mangelnde Kampfeswille mit der fehlgeschlagenen Politik des Westens in Afghanistan zusammenhängen könnte, ist Biden offenbar nicht gekommen. Warum sollten die afghanischen Soldaten ihr Leben für ein Land aufs Spiel setzen, das ihnen keine Perspektive bietet?
Fazit
Der Westen ist in Afghanistan in erster Linie an sich selbst gescheitert – an einer Politik, für die die Welt immer nur ein Spiegel der eigenen Interessen ist. Wer aber die sozialen und kulturellen Besonderheiten fremder Länder dauerhaft missachtet, gefährdet am Ende eben hierdurch auch die eigenen Interessen.

Nachweise
- So der britische Historiker Saul David; vgl. Seewald, Berthold: Krieg in Afghanistan: Nur einer überlebte Englands schwerste Niederlage. In: Die Welt, 13. Januar 2017.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Feroz, Emran / Qazizai, Fazelminallah: Afghanistan und die Durand-Linie. Der 130 Jahre alte Grenzkonflikt. Deutschlandfunk Kultur, Weltzeit, 14. April 2021.
- Vgl. Gebauer, Matthias / Najafizada, Shoib: Frauen in Afghanistan: Gesetz regelt Sexualverkehr mit Ehemännern. In: Der Spiegel, 4. April 2009.
- So die afghanische Frauenrechtlerin Zoya im Interview mit Frank Bendle: „Keine Frauenbefreiung im Schatten von Soldaten“. In: Junge Welt, 20. September 2008.
- Vgl. hierzu das aufschlussreiche Interview mit der Exil-Afghanin Jasamin Ulfat-Seddiqzai, die als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Duisburg-Essen tätig ist. Deutschlandfunk Kultur, 12. August 2008 (Interview findet sich am Ende des Podcasts, ab Minute 17).
- Zitat von Joe Biden entnommen aus seinem Statement zu Afghanistan. In: tagesschau.de, 16. August 2021.
Titelbild: Amber Clay: Mutter und Kind (Pixabay)
England hat mit seinen imperialistischen Gelüsten nicht nur in Afghanistan Zorn auf sich gezogen. Opiumkriege in China, um zu versuchen, nachhaltig Fuss zu fassen. SO-Asien, Afrika….Da gibt es viele alte Wunden.
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Toller Überblick!
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