Versuch über das Schenken

Über die wortlose Kommunikation bei einem unserer Lieblingsrituale

Überarbeitete Fassung Dezember 2021

Bei der Auswahl von Geschenken gehen wir oft intuitiv und spontan vor. Ein Geschenk sagt aber in der Tat „mehr als tausend Worte“. Das Schenken ist also ein komplexer Kommunikationsvorgang, den wir besser mit Bedacht angehen sollten.

Geschenke, über die ich mich besonders gefreut habe

Geschenke als immaterielles Band zwischen zwei Menschen

Geschenke- und Opferritual

Geschenke als Machtdemonstration

Liebesgabe mit zweideutigen Signalen

Das Geschenk als Beziehungsindikator

Schenken als symbolische Kommunikation

Anhang: Eine kleine Geschenketypologie

Geschenke, über die ich mich besonders gefreut habe

Von allen Geschenken, die ich jemals erhalten habe, haben mich am meisten berührt: ein geklöppeltes Deckchen mit der Inschrift „Gott schütze dieses Haus“ und ein zerfledderter Bildband.
Das Deckchen hat mir kurz vor ihrem Tod eine alte Frau geschenkt, in deren Haus ich eingezogen war. Den Bildband habe ich von einem jüdischen Gelehrten erhalten, mit dem ich viele Abende hindurch über Gott – oder vielmehr die Götter – und die Welt(en) diskutiert hatte. Ich wollte das aufwändig gestaltete Buch mit den zahlreichen, teils seltenen Drucken zuerst gar nicht annehmen, weil ich wusste, wie sehr es dem Schenkenden am Herzen lag. Da er aber darauf bestand, es mir zu übereignen, wäre es unhöflich gewesen, das Präsent zurückzuweisen.
Erst einige Wochen später begriff ich den Sinn des Geschenks: Der Krankenhausaufenthalt, von dem mein Freund mir erzählt hatte, war keineswegs so harmlos, wie die beiläufige Erwähnung durch ihn hatte vermuten lassen. Vielmehr handelte es sich dabei um eine Operation auf Leben und Tod, mit von Anfang an sehr geringen Aussichten auf ein gutes Ende. Angesichts des schwachen Herzens des Kranken hatte seine Entscheidung für die Narkose fast schon etwas von einem Freitod.

Geschenke als immaterielles Band zwischen zwei Menschen

Beide Geschenke sind natürlich insofern Sonderfälle, als es sich bei ihnen im Grunde um vorweggenommene Erbschaftsverfügungen handelt. Hier wie dort ging es darum, ein Band zwischen Schenkendem und Beschenktem zu knüpfen, das über den Tod hinaus Bestand haben sollte. Dennoch zeigt sich an beiden Fällen ein zentrales Merkmal des Geschenks: der Wunsch des Schenkenden, symbolisch etwas von sich selbst auf den Beschenkten übergehen zu lassen. In der Alltagssprache entspricht dies der Wendung, etwas „komme von Herzen“.
Damit soll nicht gesagt sein, dass das handgemachte notwendigerweise das bessere Geschenk ist. Beim ersten Paar Wollsocken von Tante Elfriede blicken wir vielleicht noch gerührt auf ihre wundgestrickten Finger. Spätestens beim zehnten Paar überlegen wir dann aber doch, wie wir das Präsent unauffällig an die Heilsarmee weiterreichen können.
Auch das Weiterverschenken von Gegenständen aus dem eigenen Fundus kann nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen werden. Ein Geschenk, dem man ansieht, dass es bereits benutzt worden ist, kann vom Beschenkten auch leicht als Ausdruck mangelnder Wertschätzung aufgefasst werden.

Geschenke- und Opferritual

Trotzdem frage ich mich, ob nicht der Impuls, über das Präsent eine Art unsichtbare Nabelschnur zu einem anderen Menschen zu knüpfen, an der Wiege unseres Geschenkerituals stand.
Vielleicht hat alles damit angefangen, dass irgendwann ein Mammutkeulen mümmelndes Urhordenmitglied an ein anderes ein besonders saftiges Stück Fleisch weitergereicht hat. Dabei wäre es dann natürlich weniger darum gegangen, ein geistiges Band zu dem Mitmümmelnden zu knüpfen. Eher müsste man hier wohl von einer Art Steinzeit-Networking sprechen, vielleicht auch von einer Frühform von Bakschisch. Denn die entscheidende Triebkraft für den Schenkimpuls wäre dabei wohl der Wunsch gewesen, sich im Streitfall auf die Keulen schwingende Hand eines Mächtigeren stützen zu können.
So gesehen, müsste das Geschenk wohl auch als Ursprung des Opfers gelten. Auch bei diesem geht es ja darum, sich der Gunst einer höheren Macht zu versichern. Und der Kern des Rituals besteht in beiden Fällen darin, dass man etwas abgibt, das für einen selbst einen hohen ideellen oder materiellen Wert besitzt. Dabei kann es sich um einen symbolischen Anteil an einem Festmahl oder seltene, wohlriechende Kräuter handeln, aber auch um einen Talisman, der keinen realen Wert besitzt.

Geschenke als Machtdemonstration

Gerade am Beispiel der Opfergabe zeigt sich aber auch: Wer richtig schenken möchte, muss stets auch die Kunst des Maßhaltens beherrschen. Ein Gott, dem statt eines einzelnen Lämmchens gleich eine ganze Schafsherde geopfert wird, könnte dies als Anmaßung verstehen, als Versuch, sich die göttliche Huld nicht zu erbitten, sondern sie zu erzwingen. Dies könnte ihn dazu veranlassen, die gewünschte gnädige Haltung erst recht zu verweigern.
Ebenso wird der reiche Onkel, der die Verwandtschaft an Festtagen mit einem Geldregen beglückt, zwar kaum fürchten müssen, zurückgewiesen zu werden. Dass er auf diese Weise die Sympathien der Beschenkten gewinnt, ist jedoch keineswegs sicher. Denkbar ist auch, dass die regelmäßige Demonstration seines Reichtums Missgunst weckt. Außerdem könnte sie die anderen dazu bewegen, auf Abstand zu ihm zu gehen, um keine Abhängigkeit entstehen zu lassen.
Dies bedeutet nicht, dass ein wertvolles Geschenk grundsätzlich einschüchternd wirkt. Wenn mir jemand ein teure Flasche Wein schenkt, weil er weiß, dass ich genau diese Sorte, diesen Jahrgang, diese Traube schätze und mir den edlen Tropfen nur nicht regelmäßig leisten kann, überwiegt natürlich der persönliche Charakter des Geschenks.

Liebesgabe mit zweideutigen Signalen

Dagegen läuft der Verliebte, der seiner Angebeteten wahllos irgendein glitzerndes Collier schenkt, nur weil es kostbar ist, Gefahr, dieselbe Reaktion wie der reiche Onkel auszulösen: Das Geschenk könnte die Dame seines Herzens misstrauisch machen. Denn zwar bezeigt der Verehrer ihr mit dem Geschenk seine Wertschätzung. Andererseits dokumentiert er damit jedoch auch eine Art Herrschaftsanspruch.
Dies wirkt umso bedrohlicher, wenn dem Geschenk gleichzeitig jeder persönliche Bezug zur Beschenkten fehlt. Denn dies lässt befürchten, dass es dem Verehrer nicht um die Umworbene als Person geht, sondern er sie nur wie einen schönen Gegenstand, quasi als Gegenwert zu dem Collier, besitzen möchte.
Instinktiv könnte die Beschenkte das Präsent daher zum Anlass nehmen, den sie Umgarnenden auf Distanz zu halten. Dieser würde mit dem Geschenk also das Gegenteil dessen erreichen, was er damit bezweckt hatte. Würde die Angebetete dagegen auf die Avancen des Verehrers eingehen, so ließe sich aus dem unpersönlichen Geschenk die Prognose ableiten, dass dem jungen Glück keine lange Dauer beschieden sein dürfte.

Das Geschenk als Beziehungsindikator

Dies zeigt zweierlei: Geschenke sind zum einen ein Lackmustest für die Empathiefähigkeit der Schenkenden. Sie offenbaren, wie gut oder schlecht die Betreffenden sich in andere hineinversetzen können, sie veranschaulichen ihre Fähigkeit zur Einschätzung fremder Wünsche und Bedürfnisse.
Zum anderen sind Geschenke aber auch ein guter Beziehungsindikator. Fällt es mir leicht, mich in die Sehnsuchtswelt eines Anderen hineinzuversetzen und ein Geschenk zu finden, das dem Band zwischen uns einen lebendigen Ausdruck verleiht, so ist das ein Beleg dafür, dass auch unsere Beziehung lebendig ist. Gelingt mir dies dagegen nicht, so deutet sich darin womöglich eine Beziehungskrise an.
Zur Überwindung einer solchen Krise empfiehlt es sich, die Beziehung vor dem anstehenden Geschenkeritual wiederzubeleben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass ich mit einem unpersönlichen Geschenk nur den Tod der Beziehung dokumentiere. In solchen Fällen wird das Geschenk dann zum Giftpfeil.

Schenken als symbolische Kommunikation

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Geschenk ist ein symbolischer Kommunikationsvorgang, der folgerichtig auch alle drei Ebenen der Kommunikation berührt. Diese umfassen

• den Schenkenden, der mit dem Geschenk symbolisch einen Teil von sich einem anderen Menschen übereignet;
• den Beschenkten, auf dessen Wünsche und Bedürfnisse das Geschenk bezogen sein sollte;
• die Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem, die idealerweise in dem Geschenk einen lebendigen Ausdruck finden sollte.

Hinzu kommt, als besondere Würze, noch der Aspekt der Überraschung: „Ach, Schatz: Dass du daran gedacht hast …“

Anhang: Eine kleine Geschenketypologie

Vielleicht hilft es ja auch, sich bei der Auswahl von Geschenken über die eigene Strategie des Schenkens klarzuwerden. Zu diesem Zweck hier noch eine kleine Geschenketypologie (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).
Folgende Varianten von Geschenken lassen sich idealtypisch voneinander unterscheiden:

Wunschgeschenke: Geschenke, die auf expliziten Wünschen der Beschenkten beruhen;
Materielle Geschenke wie Geld oder Gutscheine, die den Beschenkten die Möglichkeit geben, sich selbst einen Wunsch zu erfüllen;
Anlassbezogene Geschenke (auf das jeweilige Fest bezogene Tees oder Süßigkeiten, Salate oder Getränke als Festbeitrag etc.);
Spaßgeschenke (T-Shirts mit lustigem Aufdruck, Zipfelmützen …);
Trendgeschenke (Buch von der Bestsellerliste, modische Schals …);
Verlegenheitsgeschenke (Blumen von der Tankstelle, die von der letzten Party übrig gebliebene Flasche Rotwein …);
Funktionale Geschenke (Haushaltsgegenstände, warme Socken etc.);
Taxierende Geschenke: Geschenke, die durch den hochwertigen Charak¬ter des Präsents die Wertschätzung für die Beschenkten zum Ausdruck bringen sollen;
Geschlechtsspezifische Geschenke (Krawatte oder Hemd für den Herrn, vermeintlich wohlriechende Düfte für die Dame);
Trojanische Geschenke: Geschenke, die wie ein trojanisches Pferd funktionieren, indem anderen etwas untergeschoben wird, das die Schenkenden sich ei¬gentlich selbst wünschen (Beispiel: das Sky-Abo mit der Extra-Por¬tion Fußball als Überraschungspräsent für die Frau Gemahlin);
Subjektbotschaften: Geschenke, in denen sich die Persönlichkeit der Schenkenden ausdrückt (Dinge, welche die eigenen Vorlieben widerspie-geln, Selbstgemachtes ohne unmittelbaren Bezug zu den Beschenkten);
Adressatenbezogene Geschenke: Geschenke, die sich aus den Interessen, Hobbys und Vorlieben der Beschenkten ergeben;
Beziehungsgeschenke: Geschenke, die sich aus gemeinsamen Erlebnissen oder Gesprächen ergeben.


Bild: Johann Georg Meyer (1813–1886):“Geschwisterliebe“; 1846; Auktionshaus Wendl (Wikimedia)

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