Auf der Suche nach Begriffen für die Verbrechen des Kremls in der Ukraine
Wladimir Putin hat Recht: Die Verbrechen, die er in der Ukraine verüben lässt, sind kein Krieg. Die historischen Bezugspunkte heißen eher „9/11“ und „Mongolensturm“.
Flächenbombardements damals und heute
1942 begann die britische Luftwaffe mit Flächenbombardements deutscher Städte. Ab 1943 wurde sie hierin von den amerikanischen Alliierten unterstützt.
Die Bombenteppiche auf deutsche Städte sollten der deutschen Bevölkerung deutlich machen, dass die Alliierten entschlossen waren, den Nazi-Terror zu beenden. Sie waren zudem eine Reaktion auf deutsche Luftangriffe auf europäische Großstädte wie Warschau, Rotterdam oder Murmansk. Allein in Großbritannien hatten die Angriffe auf London und Coventry 50.000 Zivilisten das Leben gekostet (1).
Trotz dieser Umstände waren die alliierten Flächenbombardements nach dem Krieg Gegenstand kontroverser Debatten: Waren sie wirklich verhältnismäßig? Hätte man Nazi-Deutschland nicht auch ohne das wahllose Töten großer Teile der Zivilbevölkerung in die Knie zwingen können?
In der Ukraine dagegen gibt es für die Angriffe auf die Zivilbevölkerung keinerlei mildernde Umstände. Sie dienen nicht dem Kampf gegen einen Aggressor oder ein Unrechtsregime, sondern sind umgekehrt Ausdruck der entfesselten Aggression eines Unrechtsregimes gegen ein friedliches Nachbarland.
Bezugspunkt 9/11
So muss man Wladimir Putin wohl in einem Punkt Recht geben: Die Verbrechen, die er in der Ukraine verüben lässt, sind kein „Krieg“. Sie sind allerdings auch nicht jenes militärische Operatiönchen, zu dem der Gewaltherrscher im Kreml sie verharmlosen will.
Um die Verbrechen in der Ukraine richtig einschätzen zu können, sollte man stattdessen eher den Anschlag von 9/11 als Vergleichsmaßstab nehmen. Denn das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine entspricht exakt dem der damaligen Terroristen: Sie tötet unschuldige Zivilisten für die Durchsetzung ihrer Ziele. Allerdings belässt sie es dabei nicht bei einem einzigen Anschlag, sondern verübt täglich unzählige Anschläge in mehreren Städten gleichzeitig, und das über mehrere Wochen.
Um eine historische Parallele zu finden, die dieser Brutalität nahe kommt, muss man weit in der Geschichte zurückgehen. Der Dreißigjährige Krieg? Ja, der war ähnlich grausam. Aber die unkontrollierte Gewalt gegenüber Zivilisten ging da von marodierenden Söldnerbanden aus, die durch den jahrelangen Krieg alle Hemmungen verloren hatten. In der Ukraine wird sie dagegen ganz bewusst und von Anfang an als Mittel der Kriegsführung eingesetzt.
Bezugspunkt Mongolensturm
Am ehesten sind die russischen Verbrechen wohl mit dem Mongolensturm vergleichbar, der Mitte des 13. Jahrhunderts halb Europa erzittern ließ. Von einem „barbarischen Volk“ sprachen damals die Quellen, das „eine riesige Metzelei“ unter den Menschen anrichtete, von „verderbenschwangerem Unheil“ und von einer „Grausamkeit“, die allen, die davon hörten, „die Ohren klingen und die Herzen erbeben“ ließ (2).
Hinzu kam: Wie der heutige Kreml-Herrscher hatte auch der Anführer der Mongolen vor dem Angriff die europäischen Potentaten durch Drohgebärden einzuschüchtern versucht. So hatte der selbst ernannte „Bote des Himmelskönigs“ etwa dem ungarischen König geschrieben:
„Ich weiß, dass Du ein reicher und mächtiger König bist, viele Krieger unter dir hast und allein ein großes Reich beherrschst. Deshalb fällt es Dir schwer, Dich mir freiwillig zu unterwerfen, doch es wäre besser für Dich und heilsamer!“ (3)
Als Grund für das rasche Vorrücken der Mongolen wird schließlich auch ihr Verzicht auf jede Form von Ritterlichkeit im Kampf angesehen. Gezielt bemühten sie sich darum, ihre Gegner wie Jäger aus der Distanz zu töten, statt ihr Leben im Nahkampf zu riskieren (4).
Was damals Pfeil und Bogen waren, sind heute Luftangriffe.
Unpassender Kriegsbegriff
Wenn nun aber der Kriegsbegriff das, was der Terror-Pate im Kreml in der Ukraine anrichten lässt, nicht trifft, so sollten wir es in der Tat auch tunlichst vermeiden, diesen Begriff zu verwenden.
Schon gar nicht sollten wir von „Kriegs-“ oder „Konfliktparteien“ sprechen. Diese Ausdrücke sind dort gerechtfertigt, wo es eine Eskalation in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten gibt. Ein Beispiel wäre etwa der Kaschmirkonflikt, in dem Indien und Pakistan sich mit zwei hochgerüsteten Armeen um ein von beiden Staaten beanspruchtes Gebiet streiten.
In der Ukraine versucht aber schlicht eine Staatsführung, mit terroristischen Mitteln ihren Herrschaftsanspruch gegenüber einem anderen Staat durchzusetzen. Dies ist in der europäischen Geschichte nach 1945 etwas so Einmaliges, nie Dagewesenes, das wir schlicht keinen Begriff dafür haben. Es verführt aber zu einer falschen Einschätzung des tatsächlichen Geschehens, wenn wir die Verbrechen weiter als Krieg bezeichnen.
Vielleicht soll uns das ewige Gerede von den „Konfliktparteien“ ja auch von dem schlechten Gewissen entlasten, das uns durch unsere Passivität beschleicht. Dies ändert aber nichts daran, dass die Sprachregelung ebenso wenig zutreffend ist, wie wenn man im Falle von 9/11 etwa die Stadt New York und Al-Qaida als „Konfliktparteien“ bezeichnet hätte. Und an Verhandlungen mit Osama bin Laden hat damals bekanntlich auch niemand gedacht.
Nur weil wir nicht willens oder fähig sind, den Verbrechen in der Ukraine Einhalt zu gebieten, müssen wir noch lange nicht auf die Verharmlosungsrhetorik des Kremls hereinfallen. Deshalb brauchen wir einen geeigneten Begriff für die Verbrechen.
Fasst man den terroristischen Charakter der Verbrechen und die geistige Verwandtschaft mit dem Mongolensturm zusammen, so bietet sich dafür am ehesten der Begriff „Terrorsturm“ an.
Heute die Ukraine, morgen der Rest Europas
Übrigens: Das Menetekel, das Europa 1240 die zu allem entschlossene Brutalität des Gegners vor Augen führte, war – die Zerstörung Kiews und die Auslöschung seiner Bevölkerung.
Der Mongolensturm endete damals einzig aufgrund des Todes des Großkhans, nach neueren Forschungen vielleicht auch schlicht durch ungünstige Witterungsverhältnisse (5) – eine Gunst des Schicksals, auf die wir heute lieber nicht unsere Hoffnung setzen sollten.
Nachweise
- Vgl. Scriba, Arnulf: Der Zweite Weltkrieg: Die Luftangriffe auf Städte. Lebendiges Museum Online (LEMO), Deutsches Historisches Museum Berlin, 4. März 2022.
- Zit. nach Schmieder, Felicitas: Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlands, S. 29 f. Sigmaringen 1994: Thorbecke; hier entnommen aus einer Übersicht auf dem Landesbildungsserver Baden-Württemberg: Die Mongolen kommen! Reaktionen in Europa, S. 2; geschichte-bw.de (PDF).
- Zitat in Schmieder (s.o.), S. 74; zit. nach ebd.
- Vgl. Flocken, Jan von: Die blutige Invasion aus Asien endete in Schlesien. Welt.de, 30. Juli 2015.
- Vgl. Büntgen, Ulf / Di Cosmo, Nicola: Climatic and environmental aspects of the Mongol withdrawal from Hungary in 1242 CE. Nature.com, 26. Mai 2016; deutsche Zusammenfassung auf scinexx.de, 30. Mai 2016.
Bild: Hinrichtung eines Emirs nach der mongolischen Eroberung Gurganjs (Köneürgenç/Turkmenistan) im Jahr 1221; ägyptische Zeichnung, entnommen aus „The Reader View of Wikipedia (thereaderwiki.com)„
Ich glaube, das macht es uns so schwer, angemessen mit diesem Krieg umzugehen: Es ist eine Barbarei und ein Denken aus einer vergangen geglaubten Welt. Das Zitat des Mongolenführers ist natürlich frappierend … aber auch Hitler dachte ähnlich und auch Stalin. Wir dachten, wir lebten in einer modernen Welt, in der es zwar immer noch Kriege gibt, aber eher auf der Grundlage bilateraler Konflikte und monetärer Interessen 8und das ist ja schon entsetzlich genug!) . Ganz primitive und einseitige Eroberungskriege hatten wir nicht mehr auf dem Schirm…. Interessante Website der „Rotherbaron“ …
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