Der Krieg gegen die Ukraine und die deutsche Geschichte

Faktencheck zur russischen Invasion der Ukraine/3

Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion kostete in der Ukraine Millionen Menschen das Leben. Die deutsche Erinnerungskultur konzentrierte sich jedoch lange allein auf die NS-Verbrechen in Russland.

NS-Morde in der Ukraine: ein „blinder Fleck im historischen Gedächtnis“

Acht Millionen Menschen sind in der Ukraine der nationalsozialis­tischen Vernichtungswut zum Opfer gefallen, darunter 1,6 Millio­nen Personen mit jüdischen Wurzeln. Hierzulande aber ist diese Tatsache, wie Andrij Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, 2020 beklagt hat, noch immer „ein riesiger blinder Fleck im historischen Gedächtnis“.

Der wichtigste Grund dafür ist wohl, dass man im Westen stillschweigend der russischen Geschichtsdeutung gefolgt ist. Schon zu Zeiten der UdSSR empfanden viele „Russland“ und „Sowjetunion“ als Syno­nyme. Dies lag zum Teil auch an der politischen und kulturellen Dominanz der ethnisch-russischen Bevölkerung in der Sowjet­union. Zwar feierte man in der UdSSR oft und ausgiebig die Völkerfreundschaft – allerdings stets nur so lange, wie die Vormachtstellung des russischen Volkes nicht angetastet wurde.

Konzentration der Erinnerungskultur auf Russland

Analog dazu stellte sich Russland auch nach dem Zerfall der UdSSR als natürlicher Nachfolger der Sowjetunion dar. So konzentrierte sich die Erinnerungskultur im Westen auf Russland. Dadurch wurde die Tatsache verdrängt, dass der Angriff auf die Sowjetunion eben nicht allein ein Angriff auf Russland war, sondern die anderen damals zur UdSSR gehörenden Völker mindestens ebenso stark betroffen hat.

In der Folge hat Russland auf der Ebene von kulturellem Austausch und diplomatischen Rücksichtnahmen unter den Staaten der ehemaligen Sowjetunion lange eine Vorzugsbehandlung  genossen. Dadurch wurden auch die Verbrechen des Stalinismus in den Hintergrund gedrängt.

Die Ukraine als doppeltes Opfer

Gerade in der Ukraine hatten diese Verbrechen jedoch verheerende Auswirkungen. Im Rahmen des „Holodomor“ – der durch die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft ausgelösten Hungerkatastrophe in den 1930er Jahren – haben sie dort Millionen Todesopfer gefordert.

In Deutschland ist dies erst infolge des russischen Angriffskriegs als Völkermord anerkannt worden. Zuvor wurde es im öffentlichen Bewusstsein lange ausgeblendet. Stattdessen wurde die Ukraine als Reservoir billiger Ar­beitskräfte und als eine Art Freihafen für den Frauenhandel betrachtet.

Fischer, Niklas / Liebrandt, Hannes: Tod durch Hunger – Nasino, die „Insel der Kannibalen“; Bayern 2 / Georg-von-Vollmar-Akademie, 28. Januar 2022 [Podcast zu den Ver­treibungen im Zusammenhang mit den Zwangskollektivie­rungen].

Kellermann, Florian / Montik, Tatjana: Wenn Angst und Armut übermächtig werden … Deutschlandfunk, 8. August 2003 [über ukrainische Zwangsprostituierte in Deutschland].

Lizengevic, Inga: Babys für die Welt – das Geschäft mit ukraini­schen Leihmüttern. Südwestrundfunk (SWR), 9. Dezember 2021.

Melnyk, Andrij (ukrainischer Botschafter in Deutschland, im Gespräch mit Jörg Münchenberg): Zweiter Weltkrieg in der Ukraine: „Ein riesiger blinder Fleck im historischen Ge­dächtnis Deutschlands“. Deutschlandfunk, 8. Mai 2020.

Müller, Pascale: Die Unsichtbaren. Buzzfeed.de, 11. März 2020 [Teil 1 einer dreiteiligen Serie über Ausbeutung ukrainischer Arbeiter in Deutschland und Polen].

Simon, Gerhard: Der Holodomor als Völkermord – Tatsachen und Kontroversen. Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“. Mannheim, 24. Novem­ber 2007. Infoportal Östliches Europa.

Ukrainische Botschaft in Österreich: Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932-1933

Bild: Eric W. Taylor (1909 – 1999): Abgemagerte Frau auf einer Bank nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen (1945); Wikimedia commons

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