Die geheimen Botschaften des Fernsehens, Teil 2
Die Nachrichten sollten dazu dienen, uns über das Weltgeschehen zu informieren. Durch Art und Umfeld ihrer Präsentation haben sie jedoch oft eher eine anti-aufklärerische Funktion.
Versammlung vor dem Fernseh-Tabernakel
In meiner Jugend war das Anschauen der Nachrichten ein fester Bestandteil des Abendrituals. Auf das Toben auf Bolzplatz oder Rodelhang folgte das Baden, dann gab es Abendessen. Anschließend durften wir Kinder die Zeichentrickfilme im Vorabendprogramm anschauen, ehe sich die Familie für die Nachrichten vor dem Fernseher versammelte.
Ich sollte hinzufügen, dass die Fernseher damals ganz anders aussahen aus heute. Unserer war nicht nur klobig, sondern hatte auch noch eine Holzeinfassung, was ihm fast schon etwas Tabernakelhaftes verlieh.
Ein solcher Fernseher eignete sich natürlich viel besser für eine zeremonielle Zusammenkunft als die heutigen Flachbildschirme, deren äußeres Erscheinungsbild eher darauf abzielt, sie zum Verschwinden zu bringen und wie ein Teil der Umgebung wirken zu lassen. Die Wirklichkeit kommt nicht mehr in der guten Stube zu Besuch, sondern präsentiert sich als Teil davon.
Kathartische Funktion der Nachrichtensendungen
Heute haben die Abendnachrichten längst nicht mehr die Bedeutung, die ihnen damals zukam. Sie lassen sich im Internet als Ganzes oder in Ausschnitten zu jeder Zeit streamen, man kann interessante Passagen mehrmals anschauen oder durch andere Informationsquellen ergänzen.
Auch ist niemand mehr auf die Öffentlich-Rechtlichen angewiesen. Es gibt spezielle Nachrichtenportale, Angebote privater Fernsehsender und Radiostationen, außerdem die Online-Angebote der Zeitungen.
Dies hat allerdings keineswegs dazu geführt, dass die Abendnachrichten ihren rituellen Charakter verloren hätten. Noch immer sind sie auf ihren seit Jahrzehnten bestehenden Sendeplätzen festgemauert. Ihr Beginn wird mit einem Countdown angekündigt, und ihr Ablauf folgt dem altbekannten rituellen Schema: Präsentation der Hauptnachrichten mit längeren Beiträgen und Interviews, Verlesen der als weniger bedeutsam eingestuften Nachrichten mit einzelnen Bildern und Infografiken, weitere Hauptnachricht, Sport, Wetter.
Damit kommt den Abendnachrichten die Funktion eines säkularen Gottesdienstes zu. Wie bei Letzterem nicht das gesprochene Wort selbst das Entscheidende ist, sondern der Kontakt zum Höchsten, den es vermittelt, steht auch bei den Nachrichten nicht die einzelne Information im Vordergrund. Viel wichtiger ist ihre rituelle Anordnung, die dem Grauen der Welt seinen Stachel nimmt.
Wer die Abendnachrichten anschaut, öffnet damit zwar für ein paar Minuten das Fenster zur Welt – aber nur wie bei einem vorsichtigen Lüften im Winter, das dem eisigen Wind der Wirklichkeit den Zugang zur guten Stube verwehrt.
So haben die Abendnachrichten eine kathartische Wirkung. Wer sich von ihnen durch das Stahlbad all der Schrecknisse geleiten lässt, die das Geschehen hinter den Mauern der eigenen Komfortzone bestimmen, der kann sich danach mit gereinigter Seele der Abendberieselung widmen.
Von der Nachrichtensendung zur News-Show
Nun würde sich allerdings kaum jemand diesem Stahlbad unterziehen, wenn es so unangenehm wäre, wie der Begriff vermuten lässt. Die Nachrichtensendungen sind deshalb zum einen nur ein Inselchen im Meer der Fernsehunterhaltung. Zum anderen haben sie sich dieser im Lauf der Zeit aber auch immer stärker angepasst.
Einmal mehr bewahrheitet sich hier der berühmte Satz des kanadischen Literaturwissenschaftlers und Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft“. In einem vorwiegend der Unterhaltung dienenden Medium färbt eben diese zentrale Funktion auch auf alle anderen vermittelten Inhalte ab.
Einige Fernsehstationen tragen dem dadurch Rechnung, dass sie die Nachrichten offen als „News-Show“ anpreisen. Aber auch dort, wo dies nicht geschieht, bleibt es nicht ohne Auswirkung, wenn zwischen Sportberichterstattung und Abendkrimi mal kurz auf die Schauplätze von Krieg und Vertreibung gezoomt wird. Alles ist eingebunden in das bunte Kaleidoskop vorbeirauschender Bilder, das sich mit der benebelnden Wirkung eines leichten Drogenrauschs auf die alltagsgeplagte Seele legt.
Anti-aufklärerische Wirkung der Nachrichten
Der propagandistische Effekt der Abendnachrichten ergibt sich so in erster Linie daraus, dass sie die Illusion vermitteln, Informationen quasi im Vorübergehen, als eine Art Bilderdusche, erhalten zu können. Anstatt sich in eine Problematik zu vertiefen und ihr auf den Grund zu gehen, gilt sie durch die Präsentation in den Nachrichten als abgehakt. Damit haben diese de facto einen anti-aufklärerischen Effekt.
Verstärkt wird diese Wirkung durch Auswahl und Anordnung der Nachrichten. Allein schon die Priorisierung einzelner Meldungen enthält eine heimliche Wertung. Noch stärker macht sich diese beim vollständigen Verzicht auf die Berichterstattung über einzelne Themen bemerkbar.
Hinzu kommt schließlich noch die unterschwellige Formung und Bestätigung eines bestimmten Weltbilds durch routinemäßig benutzte Etikettierungen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die häufig zu hörende Wortkombination „die kurdische Terrororganisation PKK“. Unhinterfragt wird hier der Blick der türkischen Regierung auf das kurdische Volk übernommen. Die Massenmorde der türkischen Armee an Menschen in den kurdischen Siedlungsgebieten, die erst zur Gründung der PKK geführt haben, verschwinden so aus dem Blickfeld.
Ein weiteres Beispiel für die Gefahr derart unreflektierter Etikettierungen ist die Wendung „das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Bergkarabach“. Die Sprachregelung unterschlägt die komplexe Geschichte der Region, die jahrhundertelang vom armenischen Volk besiedelt war.
Dass Bergkarabach in der Sowjetunion als „autonome Region“ unter das Dach Aserbaidschans gestellt wurde, ist ein in erster Linie auf Forderungen der Türkei zurückgehender Kompromiss. Diese hatte nach dem Völkermord an den Armeniern einen dem aserbaidschanischen Brudervolk zugutekommenden Grenzverlauf zur Bedingung für eine Zustimmung zu den 1921 im Vertrag von Kars ausgehandelten Grenzregelungen mit der Sowjetunion gemacht.
Die jahrzehntelange gedankenlose Verwendung der unhistorischen Sprachregelung hat mit dazu beigetragen, dass die jetzige aserbaidschanische Aggression gegen die Menschen in Bergkarabach nicht entschlossener verurteilt worden ist.
Wenn das Medium zur Botschaft wird
Dies alles wirkt umso schwerer, als denen, die die Nachrichten präsentieren, bei uns eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wird. Bis zu einem gewissen Grad folgen wir dabei einem altbekannten Wahrnehmungsmuster, bei dem die Inhalte der Botschaft auf die Wahrnehmung ihres Überbringers abfärben.
Früher bedeutete dies, dass die Nachrichtensprecher – und später, als auch die Damen zu diesem priesterhaften Metier zugelassen wurden, auch ihre weiblichen Pendants – als Muster an Seriosität galten. Schließlich waren sie es, die ein Spiegelbild der Welt in unsere Stube warfen.
Heute dagegen changiert die Bedeutung der Anchormen und -women zwischen Showmaster und Orakelpriesterin. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass nicht wenige von ihnen sich während oder nach ihrer Tätigkeit in den Redaktionsstuben als Ratgeberonkel und -tanten präsentieren oder ihr Gesicht für die Tut-Buße-Botschaften der diversen Weltverbesserungsorganisationen zur Verfügung stellen.
So bestätigen sie auf ihre Weise den Satz, wonach das Medium selbst die Botschaft ist – oder übertreffen diesen sogar noch, indem sie sich an deren Stelle setzen.
Zitat von Marshall McLuhan: McLuhan, Marshall / Fiore, Quentin: The Medium is the Massage: An Inventory of Effects (1967; deutsch 1969: Das Medium ist die Massage. Berlin: Ullstein). Dass im Titel „Massage“ statt „Message“ steht, beruht auf einem Druckfehler, den McLuhan absichtlich nicht korrigierte, um den Meinungen und Stimmungen „einmassierenden“ Charakter der modernen Medien herauszustellen.
Zu Bergkarabach:
Armeniens Niederlage, Europas Schmach. Zum Konflikt um Bergkarabach.
Zu Kurdistan gibt es auf rotherbaron und LiteraturPlanet mehrere Beiträge. Ein Beispiel mit weiterführenden Links:
Sehnsucht nach kultureller Geborgenheit. Über das kurdische Volkslied Lo Şivano (Der Hirte).
Bild: Evert F. Baumgardner : Familie beim Fernsehen, um 1958 (Wikimedia commons)
Der Tabernakel des Allerheiligsten öffnet sich durch das Fenster der Seele im Traum.
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Die Art und Weise, wie du die verschiedenen Elemente des Nachrichtenschauens mit einem Augenzwinkern beschreibt, hat mich schmunzeln lassen. Es ist wunderbar, wie du das Gewöhnliche in etwas Besonderes verwandelt habt.
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