Zum Konflikt um Bergkarabach
Beim Krieg um Bergkarabach hat die Welt – und namentlich die EU – mal wieder tatenlos dem Abschlachten Tausender Menschen zugesehen. Am Ende wird der Aggressor auch noch belohnt, anstatt als Massenmörder international geächtet zu werden.
Historischer Hintergrund des Konflikts
Verharmlostes Massaker
Über den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach wird mal wieder wie über ein Fußballspiel berichtet. In der Art von: Die Aserbaidschaner hatten die schlagkräftigeren Angreifer, sie haben effektivere Mittel gefunden, um die armenischen Abwehrreihen zu durchbrechen und das Tor zum Sieg aufzustoßen. So haben sie nun also die Schlacht gewonnen.
Alles wie im Fußball – bis auf ein paar kleine Unterschiede: Der Siegerpreis ist weder ein Pokal noch FIFA-Knete, sondern Land. Die Geschlagenen können auch nicht, wie nach einem verlorenen Fußballspiel, zu Hause ihre Wunden lecken – weil sie nämlich kein Zuhause mehr haben. Und das Siegesergebnis setzt sich auch nicht aus geschossenen Toren zusammen, sondern aus getöteten Gegnern.
Das erinnert dann doch weniger an Fußballspiele als an Gladiatorenkämpfe. Selbst dieser Vergleich hinkt allerdings bei näherer Betrachtung. Denn die aserbaidschanischen Initiatoren des Krieges sind ja keineswegs selbst in die Schlacht gezogen, sondern haben andere das Morden für sich erledigen lassen. Massenmorde statt Morden für die Massen – ein kleiner, aber doch nicht ganz unwesentlicher Unterschied.
Historischer Hintergrund des Konflikts
Manch einer wird jetzt einwenden: Was willst du denn? Die Armenier haben doch angefangen! Hätten sie Bergkarabach nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht besetzt, dann gäbe es doch heute gar keinen Bergkarabach-Konflikt!
Das ist richtig und falsch zugleich. Es ist richtig, wenn man schlicht die völkerrechtliche Situation von 1990 betrachtet. Damals war Bergkarabach in der Tat ein Teil Aserbaidschans. Der Status des Gebietes als Autonome Region deutet jedoch bereits darauf hin, dass die Situation etwas komplizierter ist, als es auf den ersten Blick aussieht.
Bergkarabach ist Teil der größeren Region Karabach, die im Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan liegt. Was heute wie ein Hinterhof der Geschichte aussieht – oder zumindest von der internationalen Politik so behandelt wird –, gehörte früher einmal zu den Big Playern des Kaukasus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das Khanat Karabach sogar kurzzeitig so mächtig, dass die armenischen Fürstentümer sich ihm unterwerfen mussten.
Die Republik Arzach, die 2017 auf dem Gebiet von Bergkarabach ausgerufen worden ist, kann sich somit auf eine jahrhundertealte Regionalgeschichte und kulturelle Identität stützen. Diese ist – und das ist in dem Konflikt der entscheidende Punkt – grundverschieden von der der aserbaidschanischen Nachbarn. Als im Laufe des Mittelalters weite Teile der Region von arabischen und türkischstämmigen Völkern erobert wurden, bildete Bergkarabach eine Art Berginsel, in der sich der christlich-orthodoxe Glaube gegenüber der in die angrenzenden Gebiete vordringenden muslimischen Kultur behauptete.
Dieser Situation trug auch die Einstufung Bergkarabachs als Autonome Region in der Sowjetunion Rechnung. Dies ermöglichte so lange eine Befriedung des Konflikts, wie die Grenzen zwischen Aserbaidschan und Armenien nur Verwaltungsgrenzen innerhalb des Vielvölkerstaates der Sowjetunion waren. Noch vor deren Zusammenbruch, als beide Länder sich auf ihre Unabhängigkeit vorbereiteten, brach der Konflikt jedoch neu auf und mündete schließlich in einen Krieg, durch den Armenien sich 1994 die Kontrolle über Bergkarabach und angrenzende Gebiete sicherte.
Ökonomische Hintergründe
Aserbaidschan hat so zwar das Völkerrecht auf seiner Seite, das Bergkarabach dem aserbaidschanischen Territorium zurechnet. Allerdings beruht das Völkerrecht hier auf einer Regelung, die unter der Voraussetzung der gemeinsamen Zugehörigkeit Armeniens und Aserbaidschans zu einem größeren Staatengebilde zustande gekommen ist. In einer Situation, in der beide Länder unabhängig voneinander existieren, bestand und besteht aufgrund der armenischen Besiedlung und Geschichte sowie der christlich-orthodoxen Kultur der in Bergkarabach lebenden Menschen kein Grund, das Gebiet als legitimen Teil Aserbaidschans zu betrachten.
Zusätzlich ist zu bedenken, dass Bergkarabach nun schon 26 Jahre lang unabhängig von Aserbaidschan existiert hat. Die Menschen, die heute dort leben, haben keinerlei Verbindungen mehr zu Aserbaidschan. De facto werden hier also Menschen aus ihrem Lebensraum vertrieben, um das abstrakte Besitzrecht eines anderen Staates auf diesen Lebensraum durchzusetzen.
Die Frage, warum die Welt zu diesem Verbrechen schweigt, lässt sich mit drei Buchstaben beantworten: GAS! Aserbaidschan gehört zu den Ländern mit den weltweit größten Gasvorkommen. Dies hat insbesondere Russland, das als Land mit einer christlich-orthodoxen Kultur traditionell als Schutzmacht der Armenier gilt, dazu bewogen, die Augen vor dem aserbaidschanischen Angriff zu verschließen.
Am aserbaidschanischen Gasreichtum hat Russland gleich ein dreifaches Interesse: Erstens hat der russische Quasi-Staatskonzern Gazprom die Lizenz für die Förderung eines Großteils der aserbaidschanischen Gasvorkommen erhalten. Zweitens geht von Aserbaidschan die Südkaukasus-Pipeline aus, über die die Türkei und Teile Südeuropas mit Gas beliefert werden sollen. Und drittens ist Aserbaidschan aufgrund seines Gasreichtums auch ein potenter Abnehmer russischer Waffen, spült also auch auf anderem Weg Geld in die russische Staatskasse.
Auf Seiten der EU sind die aserbaidschanischen Erdgas- und Erdölvorkommen ebenfalls das entscheidende Argument, sich aus dem Konflikt um Bergkarabach herauszuhalten. Hier sieht man, was all die Feiertagsreden von Klimaneutralität und dem Kampf gegen den apokalyptischen Kohlendioxidausstoß wert sind: Gar nichts. Wenn es darauf ankommt, nimmt man sogar den Tod Tausender Menschen in Kauf, um sich den Zugang zu eben jenem Schmiermittel der Weltwirtschaft zu sichern, dem wir den überhöhten CO2-Ausstoß verdanken.
Im Falle Armeniens kommt hinzu, dass Europa diesem Land gegenüber nach dem Völkermord, den die „jungtürkische“ Regierung des Osmanischen Reiches 1915/16 an den Armeniern verübt hat, eine moralische Verantwortung hat. Dies gilt ganz besonders für Deutschland, das als Verbündeter des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg den Völkermord wissentlich hingenommen hat.
Das Recht des Stärkeren
Seit Jahren hat Aserbaidschan mit einem massiven Aufrüstungsprogramm auf eine militärische Intervention in Bergkarabach hingearbeitet. In der gegenwärtigen Situation ist das Land insbesondere von der Türkei zu einem militärischen Eingreifen ermuntert und hierin auch aktiv unterstützt worden.
Schon seit längerem geriert sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Reinkarnation mächtiger osmanischer Herrscher und versucht, außenpolitisch in deren Fußstapfen zu treten. Dies war bereits bei der Errichtung der so genannten „Schutzzonen“ in Syrien und dem Irak sowie beim brutalen Vorgehen gegen die Kurden der Fall. Erdoğan folgt dabei einem klassischen Handlungsmuster von Autokraten, die mit nationalistischem Gebell von Freiheitseinbußen und wirtschaftlichen Problemen im Inland ablenken wollen.
Als NATO-Mitglied sollte die Türkei sich eigentlich nicht vollständig gegenüber Beschwichtigungsversuchen ihrer Bündnispartner verschließen können. Was geschieht, ist jedoch das genaue Gegenteil: Es gelingt der Türkei regelmäßig, ihre vermeintlichen Partner mit Rückzugsdrohungen zu erpressen. Aus Furcht, die Türkei mit ihrer wichtigen geostrategischen Lage, in ihrer Funktion als Bollwerk gegen den islamistischen Fundamentalismus und als Torwächter zur Abwehr von „Flüchtlingsströmen“ zu verlieren, wird den Drohungen aus Istanbul immer wieder nachgegeben.
De facto führt das zum Gegenteil des Erhofften: Der türkische Sultan fühlt sich so in seinen Großmachtgelüsten noch bestärkt. Gleichzeitig baut er die islamistischen Strukturen im eigenen Land immer weiter aus und übertritt beim Kampf gegen die Oppositionellen immer neue juristische Grenzen.
Wichtiger ist jedoch, dass das opportunistische Wegsehen der EU bei Menschenrechtsverletzungen und militärischen Abenteuern auch andere Potentaten dazu ermuntert, den Krieg wieder als legitimes Mittel der Konfliktlösung oder auch schlicht der Erweiterung des eigenen Territoriums anzusehen. Dies ist denn wohl auch die bitterste Lehre aus dem Bergkarabach-Konflikt: All die schönen diplomatischen Instrumentarien und Menschenrechtskonventionen sind am Ende nichts als Happening-Kunst und Polit-Lyrik. Im Zweifelsfall gilt noch immer das Recht des Stärkeren. Willkommen in der Steinzeit!
Links
Zur aktuellen Waffenstillstandsvereinbarung und dem armenischen Protest dagegen:
Austria Presse Agentur: 100 armenische Organisationen in Europa fordern Neuverhandlung der Waffenstillstand-Vereinbarung durch OSZE. OTS.at, 14. November 2020.
Zum Konflikt um Bergkarabach in postsowjetischer Zeit:
Halbach, Uwe: Nagorny-Karabach. In: Innerstaatliche Konflikte: Konfliktporträts. Bundeszentrale für politische Bildung, 20. November 2017.
Zur Geschichte Bergkarabachs:
Aslanyan, Andranik Eduard: Bergkarabach-Chronologie. In: Ders.: Energie- und geopolitische Akteure im Südkaukasus. Der Bergkarabach-Konflikt im Spannungsfeld von Interessen (1991 – 2015), S. 334 ff. Wiesbaden 2019: Springer.
Zur Rolle Deutschlands beim Völkermord an den Armeniern von 1915/16:
Dornblüth, Gesine: Deutsche Beteiligung am Völkermord an den Armeniern (Rezension zum Buch von Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern (2005). Deutschlandfunk, 12. September 2005.
Bildnachweis: Mahnmal für die Opfer des Völkermords an den Armeniern 1915/16 in Burgas (Bulgarien); Foto von Vammpi (Wikimedia)
Der Text hat mir sehr gefallen. Aufgefallen ist mir, dass der Begriff der ‚kulturellen Identität‘ eine große Rolle darin spielt.
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