Die SPD gehört auf die Couch
Zum pathologischen Umgang der deutschen Sozialdemokraten mit linker Opposition
Bonn 1976: Bei den Wahlen zum 8. deutschen Bundestag legt die CDU um 3,7 Punkte auf 48 % zu, die SPD verliert 3,2 Punkte auf 42,6 %. Dennoch darf sie sich als Wahlsieger fühlen, da es zusammen mit den 7,9 % der FDP weiter zu einer Mehrheit im Parlament reicht.
Saarbrücken 2012: Bei den Wahlen zum saarländischen Landtag verliert die CDU 15.000 Wähler, legt allerdings aufgrund der geringen Wahlbeteiligung trotzdem um 0,7 Punkte auf 35,2 % zu. Die SPD gewinnt 16.000 Wähler hinzu und verbessert sich um 6,1 Punkte auf 30,6 %. Obwohl die CDU damit lediglich 19 der insgesamt 51 Landtagsmandate erhält und die SPD zusammen mit der Linkspartei und den Grünen über eine Mehrheit von 28 Sitzen im Parlament verfügen würde, lässt sich die CDU-Spitzenkandidatin noch am Wahlabend als Siegerin feiern. Auch der SPD-Spitzenkandidat gesteht seine Niederlage ein.
„Waren die besoffen?“ würde wohl ein unvoreingenommener Beobachter fragen. Aber wir wissen ja: Die SPD hatte den Linken schon vor der Wahl Regierungsunfähigkeit attestiert und jede andere Option außer einer Großen Koalition ausgeschlossen. Damit war die Wahl zu einer Direktwahl des Ministerpräsidenten umfunktioniert worden.
Der Vorsitzende der Linkspartei, Klaus Ernst, hat eine solche Strategie als „politischen Selbstmord“ bezeichnet – anders lässt sie sich wohl auch kaum bewerten. Dies wirft die Frage auf, warum die SPD dennoch so hartnäckig an ihr festhält, warum sie sehenden Auges den eigenen Untergang zelebriert. Oder ist sie etwa auf dem linken Auge blind?
Rückblende: 25. Juli 1914. Im Vorwärts warnt der Vorstand der SPD vor einem drohenden Weltkrieg: „Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!“
10 Tage später, am 4. August, kommt es im Reichstag zur Abstimmung über die Kriegskredite. Die SPD-Fraktion stimmt geschlossen mit ‚Ja‘.
Was war passiert?
1. Der Krieg war ausgebrochen.
2. Der Kaiser hatte den Sozialdemokraten die Hand gereicht. Er, der große Ober-Papa der Nation, hatte in einer Thronrede beteuert, im Krieg kenne er „keine Patrioten mehr, (…) nur noch Deutsche!“ Und er hatte alle Parteivorstände aufgefordert, vorzutreten und ihm „in die Hand zu geloben“, dass sie mit ihm „durch Not und Tod“ gehen würden.
Plötzlich war die SPD eine ganz normale Partei, waren die Sozialdemokraten ebenso staatstragend wie die anderen Abgeordneten auch. Sie, die während der Sozialistengesetze jahrelang als „Reichsfeinde“ verfemt waren, die auch danach stets als „vaterlandslose Gesellen“ geschmäht worden waren, zu deren Bekämpfung Reichskanzler von Bülow noch vor der Reichstagswahl von 1907 eigens einen „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ gegründet hatte, weil sie sich geweigert hatten, einem Nachtragshaushalt zur Finanzierung des Vernichtungskriegs gegen das Volk der Nama in Deutsch-Südwestafrika zuzustimmen – sie waren plötzlich anerkannt als deutsche Patrioten, die ebenso wie alle anderen Deutschen auch das schöne, unschuldige deutsche Kaiserreich gegen die bösen fremden Mächte verteidigen sollten.
Die SPD reagierte auf diesen Ritterschlag wie ein Sohn, dem jahrelang von seinem Vater die anderen Söhne vorgezogen worden sind. Nun, da ihr endlich Anerkennung zuteil geworden war, wollte sie auch beweisen, dass sie dieser würdig war. Dementsprechend staatstragend versicherte der damalige Parteivorsitzende, Hugo Haase, im Reichstag, die Sozialdemokraten würden „das eigene Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich (…) lassen.“
Dies war die erste Ur-Sünde der SPD. Immer wieder hat die Partei seitdem versucht, ihre staatstragende Bedeutung durch militaristisches Denken und Handeln unter Beweis zu stellen. Von der blutigen Niederschlagung des Spartakus-Aufstands zu Beginn der Weimarer Republik über den NATO-Doppelbeschluss bis hin zum verstärkten Einsatz der Bundeswehr im Ausland unter Gerhard Schröder zieht sich dies als roter Faden durch die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.
Als erste Konstante der Selbstverleugnung lässt sich somit eine anti-pazifistische Tendenz in der SPD festhalten. Diese Tendenz steht – wie der Parteivorstand selbst noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hervorgehoben hatte – in diametralem Gegensatz zur „internationale[n] Völkerverbrüderung“, der die Partei sich in ihren offiziellen Beschlüssen vor 1914 stets verpflichtet gefühlt hatte.
Dementsprechend waren auch durchaus nicht alle SPD-Mitglieder mit der Politik der Parteiführung einverstanden. Schon vor der ersten Abstimmung über die Kriegskredite hatten 14 SPD-Abgeordnete in der Fraktion gegen diese votiert, sich dann aber der Mehrheitsentscheidung gebeugt. Als Keimzelle des innerparteilichen Widerstands entwickelte sich hieraus die ‚Gruppe Internationale‘ um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin.
Liebknecht war es auch, der im Dezember 1914 als erster Reichstagsabgeordneter die Bewilligung weiterer Kriegskredite ablehnte. Als sich ihm bei einer weiteren Abstimmung ein Jahr später 19 SPD-Parlamentarier anschlossen, dauerte es nicht mehr lange, bis die Abweichler auf Betreiben des neuen SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert aus der Partei ausgeschlossen wurden.
Auf einer Reichskonferenz der sozialdemokratischen Opposition wurde daraufhin im April 1917 die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der USPD, beschlossen. Den Vorsitz übernahm – zusammen mit Wilhelm Dittmann – ausgerechnet Hugo Haase, der sich mittlerweile zu einem scharfen Kritiker der Kriegspolitik des Deutschen Reichs gewandelt hatte. Die ‚Gruppe Internationale‘ trat der USPD zunächst als ‚Spartakusgruppe‘ bei, spaltete sich aber nach Kriegsende als ‚Spartakusbund‘ ab, der wiederum im Januar 1919 Mitbegründer der KPD wurde.
Im Rat der Volksbeauftragten, der sich nach Kriegsende konstituierte, verfügten USPD und SPD zunächst über jeweils drei Mitglieder. Aufgrund des eigenmächtigen Handelns von Friedrich Ebert zog sich die USPD jedoch bereits am 29. Dezember 1918 aus der Übergangsregierung zurück. Gemeinsam mit den Spartakisten versuchte sie nun, durch Massenproteste und einen Generalstreik den Grundstein für eine andere, den Vorstellungen der Sozialistischen Internationale eher entsprechende Republik zu legen.
Die Folgen sind bekannt: Der zum Reichskanzler aufgestiegene Friedrich Ebert ging ein Bündnis mit der Obersten Heeresleitung ein und ließ den Volksaufstand von Armee und Freikorps niederschießen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden von Freikorpssoldaten hinterrücks ermordet. Was wollte man auch anderes erwarten, wenn der sozialdemokratische Reichswehrminister, Gustav Noske, seine Berufung in dieses Amt mit den Worten kommentierte: „Meinetwegen. Einer muss der Bluthund werden.“?
Das Zusammenschießen der linken Opposition zu Beginn der Weimarer Republik markiert die zweite Ur-Sünde der SPD. Auch hieraus ergibt sich eine Tendenz, die sich über den Radikalenerlass und die Ausgrenzung der PDS bzw. der Linken nach 1990 bis heute beobachten lässt. Diese anti-solidarische, das Bündnis mit anderen progressiven Kräften bewusst verweigernde Haltung lässt sich als zweite Selbstverleugnungskonstante der SPD charakterisieren. Sie wiegt besonders schwer, da gesellschaftliche Veränderung nur im Verein mit möglichst vielen hierauf ausgerichteten Gruppen durchsetzbar erscheint.
Auffallend ist dabei die Aggressivität, mit der gerade jene Parteien, die aus der SPD selbst hervorgegangen sind und/oder dem Sozialismus nahe stehen, bekämpft werden. Die Verbissenheit, mit der potenzielle politische Verbündete totgeschwiegen, totgeredet und früher auch totgeschossen wurden, hat einen ausgesprochen irrationalen Zug. Er lässt darauf schließen, dass die SPD in den ihr politisch nahe stehenden Gruppen unterschwellig ein Spiegelbild ihrer eigenen früheren Identität erkennt. In dem unerbittlichen Kampf gegen diese Gruppen käme dann das Unbehagen an der praktizierten Selbstverleugnung zum Ausdruck, das durch die Ausschaltung derer, die das eigene schlechte Gewissen am Leben erhalten, verdrängt werden soll.
Hieraus ergibt sich unmittelbar die dritte Selbstverleugnungskonstante der SPD: Sie drückt sich ihrem Bestreben aus, Volkspartei zu sein. Offiziell besiegelt wurde diese Ausrichtung der Partei zwar bekanntlich erst durch das Godesberger Programm von 1959. Aber schon 1920, als USPD und SPD bei der Reichstagswahl zusammen auf 39,2 % der Stimmen kamen, hatte die SPD es vorgezogen, eine Koalition der bürgerlichen Mitte zu bilden.
Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist: Was bedeutet eigentlich ‚Volk‘ in dem Kompositum ‚Volkspartei‘? Da die SPD mit dem Godesberger Programm speziell der CDU ihren Rang als größte Volkspartei streitig machen wollte, liegt es nahe, dass ‚Volk‘ hier eine eher bürgerliche Konnotation hat. Für die SPD von heute ergibt sich daraus eine zusätzliche Problematik. Denn während man 1959 vielleicht noch die Mehrheit des Volkes hinter sich wissen konnte, wenn man die ‚bürgerliche Mitte‘ für sich einnahm, so ist diese heute längst nicht mehr repräsentativ für das ‚deutsche Volk‘. Migration, aber auch innere Differenzierungsprozesse haben dazu geführt, dass das Bürgertum heute zwar noch eine bestimmende Gruppe, aber nicht mehr die Mehrheit des deutschen Volkes darstellt.
Wer sich dennoch auf die ‚bürgerliche Mitte‘ stützt, läuft Gefahr, sich zum Gehilfen einer rückwärts gewandten, gesellschaftliche Veränderungen blockierenden Politik zu machen. Im konkreten Fall der saarländischen Landtagswahl vom März 2012 führt das dazu, dass die SPD mit der Wählerschaft der CDU einer Bevölkerungsgruppe zur parlamentarischen Mehrheit verhilft die de facto eine gesellschaftliche Minderheit darstellt – nämlich den über 60-jährigen bürgerlichen Wählern, die laut Wahlanalyse das Hauptwählerreservoir der saarländischen CDU bilden.
Zu Selbstverleugnung führt die Orientierung an einer zum Volk aufgeblähten bürgerlichen Mitte für die SPD vor allem deshalb, weil eine entsprechende Politik sich natürlich auch am Geldbeutel dieser Klientel ausrichten muss. Dadurch wird der Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit erschwert oder – wie die Hatz-IV-Gesetze gezeigt haben – sogar in sein Gegenteil verkehrt.
Insgesamt handelt es sich bei der SPD heute um eine Partei mit beträchtlichen anti-sozialen und anti-demokratischen Tendenzen. Natürlich kann man der SPD zugestehen, dass sie damit unter den etablierten Parteien keine Ausnahme darstellt. Das Verhaltensmuster, auf das Aufkommen neuer Parteien mit Ausgrenzung und Gesprächsverweigerung statt mit gegenseitigem Austausch und Selbstkritik zu reagieren, ist vielmehr – wie gerade wieder das Beispiel der Piratenpartei zeigt – gängige Praxis. Anstatt mit neuen Parteien zu kooperieren, wird versucht, sie zu kopieren, ihre Inhalte zu vereinnahmen, um so die entsprechenden Wählerschichten für sich zu gewinnen. Es geht somit nicht um die politische Umsetzung der Inhalte, sondern nur um deren Instrumentalisierung für den eigenen Machterhalt.
Wenn sich die SPD demnach mit ihrer undemokratischen Verweigerungshaltung gegenüber neuen Parteien auch in illustrer Gesellschaft befindet, so unterscheidet sie sich von den anderen Parteien doch durch den ausgesprochen pathologischen Charakter ihrer Ausgrenzungspraxis, ihre an Verfolgungswahn grenzende Angst, mit Parteien außerhalb der bürgerlichen Mitte in Verbindung gebracht zu werden. Sie benimmt sich wie ein ehemals ungezogener Schüler, der vom Lehrer mit Fleißbildchen gezähmt worden ist und nun alles daransetzt, weitere Fleißbildchen zu bekommen. Offenbar haben die deutschen Sozialdemokraten ihr ‚frühkindliches‘ Trauma der Ausgrenzung als ‚vaterlandslose Gesellen‘ noch immer nicht überwunden.
Mit anderen Worten: Die SPD gehört auf die Couch. Dringend!