Einige Anmerkungen zur neuen Passion der Doktorenjagd

Nürnberg, 3. Februar 2013, 4. Spielminute der Bundesligapartie zwischen dem 1. FC Nürnberg und Borussia Mönchengladbach: Der Nürnberger Spieler Mike Frantz kommt im Mönchengladbacher Strafraum zu Fall, der Schiedsrichter zeigt auf den Elfmeterpunkt, Nürnberg geht mit 1:0 in Führung und gewinnt in der Folge das Spiel.

Hinterher waren sich alle Beobachter einig, dass es den Elfmeter nie hätte geben dürfen. Die Fernsehbilder zeigten eindeutig, dass Mike Frantz ohne Einwirkung eines gegnerischen Spielers gestürzt war.

Wenden wir auf diesen Fall nun einmal die Maßstäbe an, die im Zusammenhang mit der grassierenden Aberkennung von Doktortiteln angelegt werden. Dann müsste man entscheiden:

  1. Der Spieler Mike Frantz erhält wegen böswilliger Täuschung ab sofort Be­rufsverbot.
  2. Die Wertung des Spiels wird annulliert.
  3. Der Schiedsrichter hat nichts mit der Sache zu tun. Die Praxis, Schiedsrich­ter nach ihrer gezeigten Leistung zu bewerten und ihren künf­tigen Einsatz davon abhängig zu machen, wird ersatzlos gestrichen.

Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter: Mit den heutigen technischen Mög­lichkeiten ist es sicher kein Problem, ein Computerprogramm zu entwickeln, das betrügerische Handlungen in 30 Jahre zurückliegenden Spielen aufdeckt. Um das Programm zu testen, greifen wir uns einen damals erfolgreichen Spieler he­raus, der auch heute noch in exponierter Stellung im deutschen Fußball tätig ist. Ich schlage vor, dafür Uli Hoeneß zu nehmen, da ihm als Wurstfabrikant und Präsident des FC Bayern München die Antipathien sowieso gewiss sind.

Sicher würden wir mit dem Computerprogramm ein bislang unbekanntes skan­dalöses Fehlverhalten, dessen sich Uli Hoeneß derzeit schuldig gemacht hat, aufdecken können. Dann müsste dieser natürlich nicht nur als Präsident des FC Gernegroß zurücktreten, sondern auch seine Wurstfabrik für einen guten Zweck spenden. Beim Gedanken daran beschleicht mich nun allerdings ein Anflug von schlechtem Gewissen: Wäre eine solche Behandlung nicht sogar für einen aner­kannten Fiesling wie Uli Hoeneß zu hart?

Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte mich hier keineswegs als heimlicher Verehrer von Wurstfabrikanten und Präsidenten millionenschwerer Fußballkonzerne outen. Ich habe nur ein wenig Angst vor der Rache des Imperi­ums. Denn wo heute an den Repräsentanten der Macht ein Exempel statuiert wird, könnten morgen doch auch deren Gegner Opfer der neuen Willkürjustiz werden – beispielsweise Anhänger des FC St. Pauli oder, noch schlimmer, des Veganismus; Leute also, die ohnehin unter dem Generalverdacht des Radikal­fundamentalismus stehen und deren Untergang man ebenso wenig bedauern würde wie den eines allmächtigen Fußballpaten.

Und nun frage ich mich, ob wir bei der Jagd auf betrügerische Doktortitelträger nicht vor ähnlichen Problemen stehen: Heute trifft es einen Grafen, morgen aber vielleicht den Rebellen, der den Grafen und das System, für das er steht, zum Teufel gejagt hätte. Dies ist jedoch nur ein Punkt unter vielen. Es gibt gleich ein paar Dinge, die mich im Zusammenhang mit dem neuen Gesellschaftsspiel der Doktorenjagd zutiefst beunruhigen. Im Einzelnen sind das:

1. die Willkür bei der Auswahl der zu überprüfenden Dissertationen. Ange­nommen, man würde heute eine Kommission gründen, die alle vor 30 Jahren begangenen Steuerdelikte aufdecken und ahnden sollte – würde man es dann akzeptieren, dass nur einzelne, nach unklaren Kriterien ausgewählte Steuererklä­rungen überprüft werden? Wohl kaum! Nicht anders verfährt man aber zur Zeit bei der Überprüfung alter Dissertationen. Man greift einzelne Arbeiten heraus und stellt deren Verfasser für dereinst begangene Fehler an den Pranger. Das dabei entstehende Bild ist dann auch deshalb schief, weil stillschweigend davon ausgegangen wird, dass die große Masse der nicht überprüften Dissertationen fehlerfrei ist.

Mit anderen Worten: Wenn man schon die berufliche Existenz von Menschen zerstören möchte, denen vor 30 Jahren bei der Abfassung einer wissenschaftli­chen Arbeit größere oder kleinere Fehler unterlaufen sind, so muss doch bei al­len heutigen Doktortitelträgern der gleiche Maßstab gelten. Und wenn man schon nicht alle Dissertationen gleichzeitig überprüfen kann, sollte man nach meiner bescheidenen Meinung nicht mit denen von Politikern, sondern eher mit denen heutiger Professoren beginnen, für die ein Doktortitel nicht nur ein schmückender Namenszusatz, sondern ein Nachweis ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ist.

 

2. die selektive Schuldzuweisung. Eine Dissertation fällt nicht vom Himmel. Es gibt Kommissionen, die das Vorhaben vor der Einleitung des offiziellen Promotionsverfahrens prüfen, außerdem natürlich Professorinnen und Professo­ren, die das Projekt begleiten und betreuen; es gibt neben dem begutachtenden Professor noch einen Korreferenten, schließlich noch ein Rigorosum, verbunden mit einer weiteren Kommission von Prüferinnen und Prüfern. Darüber hinaus ist es üblich, die fertige Dissertation eine Zeitlang im Prüfungsamt auszulegen, da­mit interessierte Hochschulangehörige sie einse­hen und gegebenenfalls Kritik anmelden können.

Wenn trotz eines so aufwändigen Begutachtungsprozesses am Ende ein Ergeb­nis herauskommt, das den wissenschaftlichen Standards nicht entspricht – muss man dann nicht eher diejenigen, die diesen Prozess zu verantworten haben, zur Rechenschaft ziehen, anstatt diejenigen zu bestrafen, die davon profitieren? Ver­fährt man dabei nicht ähnlich wie ein schlechtes Drogendezernat, das den Fixer und den kleinen Dealer inhaftiert, die Drahtzieher des Drogenhandels aber lau­fen lässt?

 

3. die fragwürdige Aufarbeitung des Fehlverhaltens. Dieser Punkt hängt na­türlich eng mit dem vorangegangenen zusammen. Um im Bild zu bleiben: Der­zeit erinnert die Vorgehensweise an die eines Drogendezernats, das die Drogen­barone mit der Bekämpfung des Drogenhandels beauftragen würde. Oder wie will man es sonst bewerten, wenn dieselben Hochschulen, aus denen die inkri­minierten Dissertationen hervorgegangen sind, später mit deren Überprüfung beauftragt werden? Bestenfalls befeuert man so doch die Eifersüchteleien im Professorenkollegium und bietet dem einen oder anderen die Gelegenheit, sich an einem unliebsamen Kollegen zu rächen, indem eine von diesem betreute Dis­sertation im Nachhinein als unwissenschaftlich gebrandmarkt wird. Objektive Überprüfung sieht jedenfalls anders aus.

Hinzu kommt: Wenn es mittlerweile nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe von Fällen gibt, in denen von einem unrechtmäßigen Erwerb eines Doktortitels ausgegangen wird, so ist doch offensichtlich an den in Deutschland praktizierten Promotionsverfahren etwas faul. Diese sind es folglich auch, die in erster Linie auf den Prüfstand gestellt werden sollten, anstatt dass man diejenigen, die ein solches Verfahren durchlaufen haben, später für dessen Mängel verantwortlich macht.

4. die mangelhafte Berücksichtigung der Eigenart geisteswissenschaftlicher Forschung. Geisteswissenschaftliche Dissertationen bestehen oft zu einem gro­ßen Teil aus einem ermüdenden Wiederkäuen bisheriger Forschungsergebnisse zu der jeweiligen Thematik. Dies liegt zum einen daran, dass man von den Doktoranden erwartet, die Neuartigkeit ihrer Fragestellung durch eine Ausein­andersetzung mit dem Stand der Forschung zu belegen. Zum anderen ist es aber auch so, dass der betreuende Professor seine eigenen und die von ihm favori­sierten Forschungsarbeiten meist auch in der Dissertation zitiert sehen möchte. Wer sich diesem Akt geistiger Unterwerfung widersetzt, hat es in der Regel sehr schwer, seine Promotion erfolgreich abzuschließen.

Das bedeutet: Epigonalität wird deutschen Doktoranden nicht nur nicht ausge­trieben, sondern ihnen bis zu einem gewissen Grad sogar abverlangt. Es ist folg­lich ausgesprochen scheinheilig, wenn man so entstandene Dissertationen hin­terher an einem ohnehin sehr fragwürdigen Geniebegriff misst, der von einer Art Selbstbefruchtung des Geistes ausgeht.

5. die Unantastbarkeit des Professorenstandes. Jemand, der seitenweise Sätze aus anderen Werken abschreibt und als seine eigenen ausgibt, ist natürlich ein böser Bube. Aber hat derjenige, der dafür bezahlt wird, ein solches Fehlverhal­ten zu verhindern, nicht auch versagt, wenn er es nicht entdeckt? Warum lässt man es zu, dass dieselben Personen, die die lückenhafte Prüfung von Promotio­nen zu verantworten haben, sich noch als unbestechliche Bewahrer des wissen­schaftlichen Ethos gerieren, wenn sie die Fehlleistungen im Nachhinein als sol­che benennen? Und vor allem: Warum nimmt man die offensichtlichen Mängel in Promotionsverfahren an deutschen Hochschulen nicht zum Anlass, einmal genauer hinter die Kulissen dieser angeblichen Horte des reinen deutschen Geistes zu schauen?

Wer dies täte, könnte dort einige interessante Dinge entdecken: Professoren, die Doktoranden und andere Mitarbeiter unter oftmals falschen oder erpresserischen Versprechungen unbezahlt für sich arbeiten lassen; die die von Doktoranden er­hobenen Daten für ihre eigenen Arbeiten nutzen, die Doktoranden dann aber kurz vor Abschluss des Promotionsverfahrens über die Klinge springen lassen; die bei jeder Veröffentlichung des Doktoranden ihren eigenen Namen darüber­setzen.

Auch dies ist geistiger Diebstahl – und zwar ein besonders perfider, da er den unrechtmäßigen Erwerb eigenen Ruhms auch noch mit der Schmälerung der geistigen Leistung anderer erkauft und dabei oft genug deren wissenschaftliches Fortkommen erschwert oder verunmöglicht. Derartige Vergehen werden jedoch totgeschwiegen, weil die Betroffenen ihre Karriere nicht gefährden möchten und die Mehrheit der unbescholtenen Professoren kein Interesse daran hat, das hehre Bild der deutschen Universität zu beschädigen. Stattdessen wäscht man sich auf geradezu rituelle Weise von allen Mängeln rein, indem man einzelne Inhaber von Doktortiteln, die ihre Doktorwürde auf mehr oder wenige zweifelhafte Art und Weise erworben haben, als schwarze Schafe brandmarkt. Die Betroffenen werden so zu Symptomträgern, die von den systemimmanenten Missständen ablenken.

 

Gerade habe ich diese Arbeit von meinem Gutachter zurückbekommen. Ergeb­nis: glatt durchgefallen! Begründung: Das Schlusswort fehlt!

Na gut, dann schreibe ich eben noch eins – um des lieben Friedens willen:

„Aus obigen Überlegungen ergibt sich die Empfehlung, die deutschen Universi­täten am besten gleich ganz abzuschaffen. Der Massenbe­trieb führt ja doch nur zur Massenverdummung, und dafür haben wir schon die Bild-Zeitung.“

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